Arbeitsjournal. Freitag, der 26. Januar 2007. Bamberg und Berlin.

6.36 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg.]
Bis halb sieben geschlafen, schon um elf ins Bett; aber unruhig geschlafen, mehrmals aufgewacht wegen des schmerzenden Halses/Nackens. Ich hab depressionshalber die Überarbeitung ARGO EF zur ZF liegengelassen, vielleicht >>>> hat UF ja recht. Jetzt muß ich mich allerdings sputen, wenn ich den 9.08er ICE erwischen will. Wobei „sputen“ so eine Sache ist, wenn man in seinen Bewegungen aufpassen muß. Egal. Ich versuche, jetzt noch so viele der gestrigen Korrekturen wie möglich zu übertragen, bis halb acht, dann zum Ausdruck hinauszuschicken, so weit es fertig ist; dann werd ich zusammenpacken und mich aufmachen. Im Zug korrigiere ich dann „nur für mich“ weiter, also für den Roman-selbst, nicht mehr für eine Jury.
Bin in Eile, weitres später.

7.30 Uhr:
So, rausgeschickt.
Hab überlegt, was das psychisch heißt, wenn ich mit solch einem Zipperlein wie dem schmerzenden Nacken und der daraus folgenden Bewegungseinschränkung reagiere. Er ist ja von ausgesprochenem Symbolwert, der Nacken. Was kann er nicht tragen? wäre die psychosomatische Frage. Seit ich mir das klargemacht habe, ist‘s mit der Depression, die mich gestern so runtergedrückt hat, vorbei. Nicht mit der Bewegungseinschränkung, die ist ja objektiv. Etwa gerade, was die Schulden und diese jetzt ins Haus stehenden Zwangsvollstreckungsmaßnahmen anbelangt; ich kann da weder mehr vor noch zurück, kann gar nichts tun, schon gar nicht, die Schuldenlast irgendwie mildern, ich muß einfach aushalten. Diese Form von aufgezwungener Inaktivität hat mich immer schon depressiv gemacht. Könnte ich kämpfen, wäre alles ein höchstens Achtelproblem. Ich muß aber aushalten, einfach über mich ergehen lassen, d a liegt der Cherub im Pfeffer. Hinzu kommt die Umstellung wegen der Familie, was meine Arbeitszusammenhänge ja ganz gehörig durcheinanderwirbelt und bestimmte Rituale nicht mehr erlaubt, die produktionsgründend sind, hinzu kommt diese Beeilung mit ARGO wegen der Bewerbungen um den Döblin-Preis und das Berlin-Stipendium, von denen ich mir zugleich ganz sicher bin, sie sowieso nicht zu bekommen. Das hat etwas Vergebliches, auf das es sich nur mit Trotz reagieren läßt. Daß ich mich überhaupt bewerbe, ist ja wiederum nichts als ein Akt, der Aussichts- und Hilflosigkeit in eine Handlung herumdreht. Und während ich dieses tippe, werden die Schmerzen an Hals und Nacken deutlich geringer. Das hat a u c h eine ausgesprochene Komik.
So, ich pack jetzt zusammen.

9.30 Uhr:
[ICE Bamberg-Berlin.]
Nun ist das Netzteil des Laptops gänzlich hinüber; ich hatte es eh mit verzwirbelten Kabeln geflickt und dann wieder verklebt. Jetzt eben, als ich vom Sitz aufstand, blieb ich, ohne das zu merken, mit den schweren Schuhen am Kabel hängen, riß es hinaus… nun geht gar nichts mehr. Hab das Geflickte zwar aufgeprokelt und fand die Litzen richtig beisammen, aber offenbar hab ich nun anderswo einen Kabelbruch. Ärgerlich. Jetzt muß ich d o c h ein neues Netzteil kaufen, für einen Laptop, bei dem ich jederzeit gewärtigen muß, daß er zusammenbricht. Bin gespannt, wie lange der Akku hält. Für die jetzige Fahrt ist das nicht tragisch; ich hab eh genug Typoskript durchzusehen, aber prinzipiell fällt grade mal wieder alles zusammen: DAT-Recorder defekt, Kamera defekt, Laptop defekt, und was meinen völlig zerschlissenen Wintermantel anbelangt, sagte Eva Sindichakis gestern nur: „Wie siehst du denn aus?“ Ich: „Wie ein Penner, ich weiß. Aber das Ding hält warm. Also muß es für diesen Winter so langen.“ Witzig, wenn Sie bedenken, daß ich für bald zwei Jahrzehnte für d e n Dandy der deutschen Literaturszene galt.
Als ich eben auf dem Bahnsteig stand und auf den ICE wartete, kam mir eine der DVDs wieder in den Sinn, die ich gestern sah. Wie Leute leben. Irgendwie. Nur, u m zu leben; da ist gar kein Ziel. Vielleicht ist dieses Zielhafte auch ganz irrig, dies Visionäre, das einen treibt; daß man etwas schaffen, manche sogar erschaffen will. Wer das nicht hat, es ist wohl der Großteil aller Menschen, für den ist Beruf etwas völlig anderes als für mich; Beruf gilt da tatsächlich der Lebenssicherung, schlicht: um essen, trinken, wohnen zu können. Im übrigen möchte man so viel als möglich genießen. Das möchte ich zwar selbstverständlich auch, aber es treibt etwas ganz anderes. Um es s o zu sagen: Ich bestelle mein Feld nicht (nur), um aus der Ernte Brot zu backen, sondern das Feld soll s c h ö n sein – eine Kategorie, die sich von Lebensnotwendigkeiten gänzlich abgelöst hat. Wenn ich also darüber nachdenke, was Menschen wollen und brauchen, darf ich nicht darüber nachdenken, was i c h will und brauche. Dem liegt ein Konflikt zugrunde, der existentiell ist, und bisweilen sind seine Faktoren gegenseitig ausschließend. Denn was i c h will, k a n n eine Mehrheit, der es auf gutes Leben ankommt, gar nicht wollen.
Und etwas anderes noch, das mit meiner Unfähigkeit zu tun hat, passiv zu sein. Wenn ich mir vorstelle, es wäre Krieg, dann würde ich mich selbstverständlich zum Kampfeinsatz melden oder anderweitig zur Waffe greifen, meinethaben anarchistisch-individuell. Und zwar auch dann, wenn ich die Position des Gegeners richtig fände. Das ist nun paradox, aber ich formulierte auf dem Weg zum Bahnhof folgendes im Kopf:Lieber aktiv Unrecht tun, als passiv Recht zu leiden.Um nun gänzlich politisch inkorrekt zu werden: Das ist in einem gewissen Sinn sehr israelisch gedacht. Lieber Täter sein, als noch ein einziges Mal passives Opfer zu werden. Das ist die absolute Gegenposition zu Mahatma Ghandi. – Beschäftigt mich grad s e h r.

16.43 Uhr:
[Berlin. Küchentisch.]
Ganz gut weitergekommen mit den ARGO-Korrekturen während der Fahrt. Nach der Ankunft gleich zur Geliebten und den Kindern, dann das reparierte Fahrrad abgeholt. 62 Euro. Schlucken. Danach ein neues Netzteil für den Laptop besorgt; bei Media Max wollten sie 60 Euro dafür; in meiner Verzweiflung rief ich meinen Freund M. an, der eigentlich immer Computerhilfe weiß und vielleicht ein altes Netzteil herumliegen hat, das er defekte Laptops auch selbst wieder repariert und zusammenschraubt; aber er war nicht ereichbar. Durch kleinere Computerläden gestreunt; endlich verkaufte mir jemand ein neues, aber zu Vorführzwecken schon ausgepacktes Netzteil um 40 Euro. Billiger war auf die Schnelle wirklich keines zu haben; und mein Akku neigte sich bereits der Entleertheit; dann wär‘s das Ende mit der Arbeit gewesen. Ich muß Ihnen nicht schreiben, daß mir all diese Ausgaben momentan ziemlich schrecklich sind. Immerhin schmerzt meine Hals-Nacken-Partie d e u t l i c h weniger; meine Psychosomatik-Überlegung von heute morgen scheint ihren Wirkung zu tun. Entsprechend schrieb mir eine Leserin, ich erhielt ihre Mail im ICE:Existenzsorgen an sich gelten als belastend für die Lendenwirbelsäule. Den Kopf einziehen, sich ducken, und die Schultern einziehen steht für “Eine riesige Masse auf sich zukommen sehen, und sich automatisch ducken”. (…) Und das Sie ausgerechnet dann “‘nen Depri schieben”, wenn Sie allein sind, zeigt sehr deutlich, dass Sie die letzten Tage nicht wirklich zur Ruhe gekommen sind. Der Körper sagt mitunter doch sehr deutlich, was wirklich ist.Übrigens sind es nicht so sehr die Schulden an sich, was mir etwas ausmacht, sondern zum einen der ganze auf mich zurollende Papierkram und vor allem die mit den Zangsvollstreckungsmaßnahmen verbundene psychische Erniedrigung. Es kratzt, um es schlicht zu sagen, meinen Stolz und tut meine literarisch Lebenleistung als irrelevant ab, und ich muß auch noch vor Leuten kleintun, die es sich in ihrem Leben arbeitstechnisch nun sicher bequemer gemacht haben als ich. Zschorsch brachte es gestern abend auf einen Punkt: „Wenn es nur um mich selbst geht, dann ist mir das völlig schnuppe. Im Zweifel hau ich halt ab. Aber du hast Familie; das muß schrecklich belastend sein dann…“ Und er, der aggressiv Distanzierte, streichelte kurz meinen rechten Arm.
Es gibt übrigens genug Künstler, die in solchen Situationen abgehauen, ja geflohen sind; bisweilen hatten sie einen ausgesprochenen Hand zum Luxus, Balzac etwa, Wagner, auch D‘Annunzio. Aber so etwas – so sehr mir das auch für mich selber gefiele – bekomme ich, da ich diese Familie habe und will, nicht hin. Und hänge also in einem inneren Widerspruch, der sich aus allem, was in den letzten drei Jahren in Tagebuch und Arbeitsjournal geschrieben steht, völlig o b j e k t i v ergibt. Der Knoten ist dieser: daß ich ein Vater bin und Vater b i n. Übrigens auch ein Erbteil. Ein inverses.

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