Sprechaufnahmen im Arbeitsjournal des Freitags, den 28. Oktober 2022. Darinnen zudem designt der Mensch.

[Arbeitswohnung, 7.22 Uhr
France Musique contemporaine:
Janos Decsenyi: Kovek – 8 variations sur les sons de la nature]
Vorgestern damit begonnen und gestern über den Tag fertiggestellt, erst einmal das Vorspiel von THETIS einzusprechen und die Tondatei zu schneiden, zu “säubern” usw., um eine Vorlage für den Hörverlag zu haben, der auf ihrer Grundlage entscheiden kann, ob er das Projekt als von mir selbst eingesprochenes — nämlich alle drei Andersweltbücher ohne jede Kürzung zu einem Hörbuch zu machen — übernehmen und dann vertreiben mag. Aber → wie ich schon vorgestern schrieb, werde ich es so oder so durchziehen, im “Zweifel” selbst einen Vertrieb aufziehen, dann allerdings übers Netz zum Herunterladen — diesmal aber hinter einer Bezahlschranke. Ich muß ja von irgendwas leben; finanzielle Vorteile haben DIE DSCHUNGEL  etwa n i c h t. Die Zeiten, in denen mir Leserinnen und Leser bisweilen von sich aus hier und da mal einen Betrag überwiesen (oder im verschlossenen Briefumschlag sandten), sind aus sehr nachvollziehbaren Gründen vorbei. Womit ich nicht sagen will und es auch nicht glaubte, auch sie seien von, wie der TAGESSPIEGEL von einem Psychologen → in die Welt setzen läßt, “archaischen Ängsten” wegen eines möglicherweise ungeheizten Winters befallen. Ich jedenfalls habe keine, obwohl ich längst weiß, daß es bei mir hier halt werden wird; nach wie vor sind keine Kohlen zu bekommen, und ich habe eben nur den Kohleofen. Aber vielleicht ist zu wissen beruhigender als zu ahnen. Also, ihr archaisch ängstlichen Leute, wir kommen mit mehreren Pullovern gut durch! (Ich seh mich auch schon im Pelzmantel am Schreibtisch sitzen, was, liebste Freundin, ja nun wirklich nicht ohne Witz ist. Wenn, dann werd ich bestimmt ein paar Selfies machen.)
Jedenfalls die fertigbearbeitete Tondatei erstmal auf mp3 runterkonvertiert (aufgenommen ist sie mit 96T Htz als wave) und meiner Lektorin geschickt, die bitte abhören und etwaige Einwände nennen möchte, etwa ob ich mal wieder zu schnell spreche oder undeutlich bin und wie insgesamt die Aufnahmequalität “rüberkommt”. Möglicherweise danach ein zweites Mal aufnehmen und sämtliche Einstellungen dann als Vorlage aller folgenden Partien sichern — die Qualität und Klangaura sämtlicher Takes sollten sich voneinander nicht unterscheiden. Wobei ich nebenbei auch mit dem Gedanken spiele, Klänge unter einige Sprachparts zu legen, meist allerdings an der Grenze zur Hörbarkeit. Sie dürfen nur die, ich schreibe mal, “Aura” (mit)bestimmen, eine sozusagen Grundatmosphäre; nicht zufällig wird in der Hörtechnik von (langes “o”) Atmos gesprochen.
Heute wird’s mit der ersten Passage des ersten, “Europa” genannten Teiles weitergehen, dem immer wieder so bezeichneten “apokalyptischen Kapitels”. Was insofern falsch ist, als “apokalyptisch” ja nun ein, sagen wir, “endgültiges Ende” meint, in ANDERSWELT die “Apokalypse” aber der Beginn einer neuen Erzählung ist. Irgendwie hat das niemand gesehen bislang.

Mehr als eine Stunde täglich darf das Projekt aber nicht in Anspruch nehmen, sonst komme ich mit den wichtigeren Arbeiten nicht weiter, besonders den → Triestbriefen nicht, die unbedingten Vorrang haben. Übrigens muß ich dringend auch noch meine Steuererklärung, für 2021, fertigen und einreichen; da bin ich diesjahrs wirklich spät; seltsam, daß ich noch keine Mahnung bekam. Allerdings gab’s auch, außer den Coronahilfen, so gut wie keine Umsätze — was sich bislang nicht geändert hat, auch nicht mit Sicht auf 2023. Immerhin hat sich meine Contessa wieder gemeldet; es sieht so aus, als bekäme ich mal wieder einen Auftrag für eine Hochzeitsrede. Wär ja fein, wenn diese angenehme Arbeit wieder aufblühen würde. Doch für literarische Veranstaltungen blickt wohl allewelt zaghaft auf die neuen Covidkurven. Wobei in meinem Fall ganz sicher auch eine Rolle spielt, was der PERLENTAUCHER, immer gern höchst tendentiös, → folgendermaßen kommentiert hat: Herbsts “Sexualisierung von Frauenfiguren” stößt Hamen allerdings übel auf und scheint ihm wie aus der Zeit gefallen. Wie gut, daß “scheint aus der Zeit gefallen” schlechtes, weil falsches Deutsch ist. Scheinen tut die Sonne, auch Lampen “scheinen”, hingegen aus der Zeit gefallen zu sein nicht nur “eher”, sondern absolut kein Licht erzeugt. (Die richtige Formulierung wäre: “scheint ihm wie aus der Zeit gefallen zu sein“.) Und immer noch nicht weiß dieser PERLENTAUCHER meinen zweiten Vornamen nicht richtig zu schreiben; kein Wunder also, wenn er oft fund-, nämlich ergebnislos taucht und sich selbst zurechtkneten muß, was wir für Funde halten sollen.
Zum Vorwurf aber selbst, so “sexualisiere” ich keine Frauen, sondern sei sind, wie Männer, sexuelle Geschöpfe; da muß man(n) nichts dran tun. Wir sollen es nur nicht mehr sagen, bzw. schreiben, sondern im Umgang gleichsam vergessen. Unseren Ursprung, heißt das, vergessen. Woher wir kommen. Daß wir ge- (und nicht er-)zeugt worden sind, jedenfalls noch. Auf dieses, das “noch”, kommt es mir an. Ich will keine Replikantinnen und Replikanten; meine Haltung ehrt die Erde, nicht Labore. Vieles, was derzeit in der Diskussion steht, hat als Ziel die technische Veränderung der Humangenetik, also den “designten” Menschen. Aber die es vertreten, sehen es nicht.

Weiters an Pavlenko nun auch JOACHIM ZILTS’ VERIRRUNGEN geschickt, weil er, Pavlenko, auch darum noch bat; genau die allerdings umfangreiche Erzählung, die ich für eine Gothic Novel für geradezu perfekt halte. Jetzt bin ich auf seine Reaktion(en) gespannt. Schon damals, 1986, bei der Erstausgabe durch den längst eingegangenen St. Galler Verlag NARZIß & EGO, hatte dieser phantastische[1]Ich unterscheide strikt zwischen “Phantastik” als einem hochliterarischen Genre und “Fantastik” als der deutschen Entsprechung von “Fantasy”, die nahezu immer … Continue reading Text die Fantasie eines Illustrators erregt. Ich kann mir vorstellen, daß dies nun abermals geschieht. Aber mal abwarten.

So, jetzt aber ins Bad!

Ihr ANH
[Brice Pauset, Eurydice – pour flûte traversière, violon alto et violoncelle]

***

[9.45 Uhr
Carl Nielsen, Maskerade FS 39]
Unterdessen einer meiner absoluten Lieblingsknoten: der Vidalia:Auf der Franfurter Buchmesse trug ich ihn abwechselnd mit dem → Merowinger, nur einmal dazwischen den → Keltischen Liebesknoten noch. Zum Vidalia Elvira M. Gross, meine Lektorin, morgens beim Frühstück: “Oh, ist der elegant! Aber s c ho n ein bißchen provokant, oder?” Eine andere Frau, diesmal am Stand des PENs Berlin, als sie die Bindung ins Auge nahm: “Da kann ich jetzt gar nicht mehr hinsehen …” Und ihre Wange nahm deutlich Farbe an.

Sehen Sie, liebste Freundin, allzu seriös sollte Die Dschungel nicht sein. Noch es jemals werden.

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References

References
1 Ich unterscheide strikt zwischen “Phantastik” als einem hochliterarischen Genre und “Fantastik” als der deutschen Entsprechung von “Fantasy”, die nahezu immer Nicht-Kunst ist, meistens einfach Kitsch; außerdem meint “phantastisch” der “Phantastik zugehörig”, indes “fantastisch” “großartig”, “klasse” usw. bedeutet. ANH

8 thoughts on “Sprechaufnahmen im Arbeitsjournal des Freitags, den 28. Oktober 2022. Darinnen zudem designt der Mensch.

  1. Der Satz „scheint aus der Zeit gefallen“ mag als schlechtes Deutsch apostrophiert werden, „falsch“ ist er nicht. „Scheint“ ist laut Duden ein umgangsprachliches Synonym für „wirkt“ und kann somit mit einem Adverb benutzt werden. In adverbialer Funktion agiert hier das Phrasem „aus-der Zeit-gefallen“. Siehe auch: https://www.dwds.de/wb/aus%20der%20Zeit%20fallen
    Allerdings steht hier: „scheint ihm wie“. Ob nicht dieses „wie“ zu viel ist (etwas scheint wie oder etwas scheint ihm) ist hingegen wirklich problematisch, zumindest stilistisch. „scheinen“ als Synonym von wirken kann mit wie benutzt werden, scheinen aber als ein „Mir-Erscheinen“ beinhaltet ja schon einen subjektiven Zweifel des „als ob“, sodass ein zusätzliches „wie“ zumindest tautologisch sein dürfte (man setze „wirken“ ein, dann wird es klar: wirkte mir wie…).

    Auf jeden Fall aber ist der Satz des Rezensierten “ Zum Vorwurf aber selbst, so “sexualisiere” ich keine Frauen, sondern, wie Männer, sind sie sexuelle Geschöpfe“ falsch. Es müsste heißen: „sondern…sie (besser: diese) sind…“ oder einfach ohne „sondern“ als neuer Satz. So ist diese Erwiderung zumindest ein eher unfreiwilliger Anakoluth.
    Argumentationslogisch falsch dürfte hingegen die Spekulation des Rezensenten sein, Sexualisierung von Frauen wirke aus der Zeit gefallen. Dann müssten etliche als hochmodern gepriesene zeitgenössische Romane und Erzählungen ebenso aus der Zeit gefallen sein. Das wurde bisher aber nicht angemerkt. Vermutlich meint er, die Art und Weise der Sexualisierung, das müsste er dann aber genauer ausführen (wir vermuten es ist die „Gentlemen-Attitüde“, die dem sich modern Dünkenden aufstößt, aber das bleibt Spekulation.

    1. Na jà, Pedantus, der Duden … Er hat sich immer mehr zum Kratzfuß entwickelt; “scheinen” als Synonym von “wirken” auszugeben, stört ein weiteres Mal klare Stilistik und verletzt zudem das diesem Verb inneliegende “eigentlich” Gemeinte. Mich nach dem Duden zu richten, habe ich schon lange, lange aufgegeben; die neue deutsche Falschschreibung versetzte meinem “Glauben” den Todesstoß. – Ich hatte gerade bei Sabine Gruber dieses Problem, etwa in dem – sie ist ansonsten eine wunderbare Stilistin, ich werde später über ihre Trilogie schreiben – … etwa in dem geradezu bizarren Satz “Die Leitung schien tot” (“Stillbach”, dtv 226). Schon das basale Sprachgefühl läßt “Die Leitung schien tot zu sein” als viel weniger papieren empfinden.
      Ihre Kritik an
      meinem Satz allerdings ist im Grundsatz richtig. Ich danke Ihnen für den Hinweis, werde sofort korrigieren. Nur “diese” darf ich nicht statt des “sie”s setzen, weil ich mich sonst auf das direkt vorangehenden “Männer”; richtig wäre vielmehr das aber unschöne “jene”. Bei “sondern sind sie” habe ich offenbar schneller vorausgedacht, als klug war, denn meine tippenden Finger denken meist simultan mit. Ich könte allerdies die Kommata um “wie Männer” wegnehmen; wenn ich dann, etwa durch eine Sperrung”, das “sind” betonte, wäre es wieder richtig.
      Was dieses “aus der Zeit gefallen zu sein” anbelangt, bezieht sich Hamens Bemerkung (wie auch sein offenbarer Widerwille) auf die gegenwärtige Gender- und “Queer”-Diskussionen; er geht hier zu meiner eher ablehnenden Position seinerseits auf Distanz und unterschiebt uns, die seine sei zeitgemäß – im Gegensatz zu seiner. Zeitgemäß zu sein, ist aber an sich schon eine prekäre Kategorie. Deutschland hat damit einige Erfahrung, Rußland nun auch schon wieder.

      1. Ja, danke für die Antwort. Das betrifft grundlegende Fragen. Fast alle zeitgenössischen Linguistiker sind „Deskriptivisten“, so auch der Duden.
        Viele Redewendungen verdecken ja inzwischen ihren Ursprung, so ist es nun wohl auch beim „scheinen“. Diesen Ursprung wieder aufzudecken ist ein dichterischer Akt. Nur „falsch“ ist das andere eben nicht.
        Wo ich Ihnen Recht gebe, ist das „sie“, da hatte ich, sehr zeitgemäß, die Männer übersehen.
        Auch die Frage der Rechtschreibreform… ich hab das damals nicht sehr bewusst rezipiert, leider. Wäre mal interessant, ob die auch im Namen einer Deskription agiert haben. Mir scheint es zumindest, vor allem was die Abschaffung des ß angeht, gerade nicht deskriptiv gewesen zu sein, im Gegenteil präskriptiv. Wie verträgt sich das mit der allgemeinen Ideologie des Feststellens? Das wäre dann doch eher ein Fest-Stellen auf das Gewollte. Womöglich zeigt sich hier eine verwundbare Flanke des Zeitgeists.
        Der Machbarkeit sind keine Grenzen gesetzt. Das soll aber wiederum als ledigliches Nachzeichnen natürlicher Bedürfnisse ausgewiesen und zum quasi-natürlichen Status-Quo erhoben werden. Hier überlappen sich dann argumentative Schwächen sowohl der Deskriptivisten als auch der Genderideologen.
        Das Schöne daran: die wirklich großen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten sowie die großen sprachlichen Verschiebungen bleiben von all dem seltsam unberührt.

        1. “Nur ‘falsch” ist eben das andere nicht”: Juridisch haben Sie recht, stilistisch indessen beharre ich (je älter ich werde, desto “konservativer” fühle ich mich – was für die Konservative alarmierend sein sollte, lach).
          “Wie verträgt sich das mit der allgemeinen Ideologie des Feststellens?”: Die gesamte, ich schreibe mal, Bewegung, ist in sich widersprüchlich, schon, insofern sprachlicher Pragmatismus und Ideologie(n) munter durcheinanderwirken. Es ist fast wie mir dem US-amerikanischen Wort “Gender”, das jenseits des Großen Teiches oft schlichtweg für “Sex” eingesetzt wurde, weil das sektische Nachzittern evangelikaler Gruppen dieses Wort gerne vermeidet und niemand Leserinnen und Leser verlieren will. Die Deutschen importierten dann “Gender” und nahmen es für “Sex”. Damit war(en) dann sogar Spekulationen (und Professuren) Tür und Tor geöffnet, die der “Biologie” das Denunziationswort “biologistisch”, eine jedes biologische Gegenargument lähmende Säure, einspritzen konnten.
          Und was die seltsame (besser wäre wahrscheinlich, von einer “unheimlichen” zu schreiben) Unberührtheit (auch das selbst schon ein sehr heikles Wort) anbelangt, so scheint mir auch dies einem magischen Kinderdenken ähnlich zu sein: Schaffe ich bestimmte Wörter ab, seien auch die Sachverhalte bekämpft. Das generische Maskulinum zu sprengen, sprenge gleichsam das Patriarchat (als ob dieses nicht auch dort herrschte, wo die Sprache ein generisches Maskulinum gar nicht vorsieht, etwa in Ungarn oder der Türkei).

  2. Richtigstellung:
    Es handelt sich bei dem inkriminierten „aus der Zeit gefallen“ um ein (elliptisches) Prädikatsnomen, daran ändert auch nichts die umgangssprachliche Verwendung als Synonym zu dem (phänotypisch ähnlich auftretenden) „wirken“. Das Weglassen des Verbs sein ist klassisch, wie nachzulesen im Grimm in etlichen Beispielen. „Mir“ und „wie“ zusammen, darüber lässt sich streiten.
    Die Frage der Genese kann dabei nicht einfach mit grammatischen Fragen vermengt werden.

    Herzliche Grüße

    H. (der Name oben ist ein Pseudonym des Schriftsteller-Philologen, mit dem ich den Fall diskutiert habe)

    1. Na jà, “klassisch” mag sein; ich halte es dennoch nicht für guten Schreibstil. Dieses “klassisch”-Argument klingt mir nach “Das haben wir so schon immer gemacht”, was bekanntlich, daß jemand etwas so macht, nicht besser macht. Und weil wir bei dem vielen “machen” nun schon sind: Eines Tages wird wahrscheinlich auch der elende Anglizismus “Das macht” – statt ergibt! – “keinen Sinn” als “klassisch” gelten und damit gerechtfertigt zu sein scheinen. Wobei ich die “Frage” (aber stellte sie denn jemand?) nach der Genese durchaus nicht mit grammatischen Fragen vermenge, aber sehr wohl auf sie projeziere. Ich meine, daß mein Beispiel oben – “Die Leitung schien tot.” – die ganze Bizarrerie des nach “scheinen” weggelassenen “zu sein”s deutlich genug macht. Wenn ich mit, sagen wir, “eckigen Rädern” irgendwie nicht oder nur arg rumpelnd vorankomme, werde ich irgendwann hoffentlich die Idee haben, es mit runden zu versuchen – und erstaunt sein, wie geradezu elegant die Fahrt dann aufgenommen wird.

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