Toscas rührender, rührender Kuß: Dschungelblätter Jg 1 Nr. 2, Germinal 1985: Anstelle eines Editorials.

[Erschienen in: DSCHUNGELBLÄTTER, Jahrgang 1 Nr. 2
Germinal (21. März bis 29. April) 1985]

 

Ich hatte immer die Idee, das Kino sei heute, was früher die Musik war. Es repräsentiert im vorhinein, es prägt im vorhinein die großen Bewegungen, die im Entstehen begriffen sind. Und insofern zeigt es vorher die Krankheiten an. Es ist ein äußeres Zeichen, das die Dinge da zeigt. Es ist ein wenig anomal. Es ist etwas, das erst passieren wird, ein Einbruch.
Jean-Luc Godard, Einführung in einer wahre Geschichte des Kinos

 

 

 

Und die Zeit selber ist eine Satire, die über jedes zumal freiwillig ins Messer rennende Opfer hämisch sich die Hände reiben möchte, – – zum Opfer, freilich, wird besonders die Leidenschaft im Gewand der Vergeblichkeit, über die herzuziehen ein ganz spezielles Steckenpferd ist der zynischen Vernunft. In Frankfurt feierten ihre spöttischen Stellvertreter nun ein opulentes Stelldichein, – eine Art Berlinale für Miniaturvoyeuristen in Sachen welker Haut.

Bereits im Nivōse gab es die allerallererste, dann (für die Rezensenten) eine allererste und schließlich (25. Pluviōse) die erste deutsche Erstaufführung eines »Dokumentarfilms«, für den die OPER FRANKFURT freilich unter der Voraussetzung herrlichster Vorführort war, als daß der geneigte Betrachter Parkett und ersten Rang gleichfalls für dokumentarisch nahm und ergo die Verunstaltung für das Happening eines Gesamtkunstkonzepts. Um nämlich den Kuß der Tosca nicht zu empfangen, wohl aber sich drüber lustig zu machen (zumal fand er ja nur auf der Leinwand als eine hübsche Einführung in die unbeschwerte Kunst des Alterns statt und wurde im Publikumsraum der unglücklichen Frau Scuderi gewissermaßen zurückgegeben), — darum also war vornehmlich, doch gar nicht vornehm eben jenes Gelichter erschienen, das für die zumindest Frankfurtmainer Kulturvermittlung eine Verantwortung trägt, zu der man es niemals ziehen kann. Der Dschungel zum Beispiel im Rücken saßen vier – wie soll man’s anders nennen? – Charaktere des Hessischen Rundfunks, von denen einer mit dem andren recht ausgefallen ulkte: »Sei doch kein Loebe, Bernd!«, – dem Manne muß das Wortspiel mindest ein ebensolches Vergnügen bereitet haben wie hinterher der Film, der sich ganz zu Anfang aber mit deftigem Brummen gegen seine Prostitution zu erheben versuchte. Jedoch sogleich wurden solch mechanischem Aufruhr mit Gelächter die Leviten gelesen. Da hatten sich längst und in aufgeräumtester Stimmung (schließlich war Karneval, kein venezianischer, nein, sondern der deutsche-ernste-spaßige, der zwischen Schenkelklatschen und Schlachthof odyssiert) die Zuschauer zu amorphem Publikum verklumpt, das von der Rührung stets ins Feixen findet, weil jene nur das Dieses des Gemütes (‚Gesprengt, versenkt wird feste, – doch immer mit Jiemüt). Und wahrlich hätte sich kein hübscherer Faschingsabend einrichten lassen, als jene »Alterchen« es für ihr Publikum ganz ohne Absicht taten, die ihre Leidenschaft allenfalls durch Ironisierung vor der Lächerlichkeit zu schützten versuchten, was sie nun erst erst recht zum Schickeria-Opfer machte. Ein intellektuell gebildetes Publikum hat es gerne so.
Doch hatte bereits Wochen zuvor die bundesdeutsche und bündlerische Presse zum allgemeinen Juchhu! angesetzt – der Film unterwandert noch die letzte Wahrheit der Oper – und Lobeshymnen geradezu gespien, so daß von einem Publikumserfolg des Frankfurter Opernhauses bereits vor der Planung dieser Veranstaltung gesprochen werden muß. Es ist ein Zeichen für sich, daß die meisten hervorragenden Kunstwerke meist eben deswegen hervorragen, weil sich die Rezensenten vorgedrängelt haben, nämlich als Anhänger eben desjenigen Determinismus, den das »Volk« durch sie erst schafft. Um auch die letzten noch, dem gemeinen Geschmack hinderlichen Auswüchse ins Mittelma0 zu modulieren, macht nun die Kulturindustrie nicht nur wieder die Oper zu ihrem neu rehabilitierten Kunstsujet, nein, es sollen ihre Darsteller nicht minder daran glauben, vor allem, wenn sie behindert sind und sich also nicht zur Wehr setzen können. (Den andren wird es aus Lendenstücken des Goldnem Kalbe zum Lutschen vorgesetzt, etwa dem Herrn Kollo). So spannt sich das Netz einer historisch-kulturellen Larmoyanz, in der der Intellektuelle als »verkopft« gebrandmarkt und später mit gelbem Sternchen versehen werden darf, — »es geschieht ihm ja recht, warum hat er kein Gefühl?«. Von Aufruhr bloß kein Wort. Und Jean Amérys wahrer Protest gegen den Skandal des Alterns wird im Sumpf gefühligster Versöhnungen ertränkt. Wer sich nicht infolge seiner vorangeschrittenen Chronogonie als ältlich vermarkten und dem Volk solch einen Spaß dann verhökern will, muß sich halt die Kugel geben.
Da schleppen sich im anderthalb Stunden währenden Film die gebrechlichen Menschen durch ein Haus von Usher und kämpfen tapfer, wie sie’s in ihren Sängerzeiten auf der Bühne taten, gegen ihr Leid an und die Wunderlichkeit, halten die noch klingenden Träume ihres Geistes in den Verfall und manchmal, ja, atmen sie wieder. Das Publikum indes, das sonst zu lachen wohl nichts hat, es lacht.
Frau Scuderi entschützt gerahmte Erinnerungen aus ihrem Lebensschatz und liest uns Herrn Giglis Widmungszeilen vor, was ihre Leidenschaft in beiden, leider, Sinnen verrät. Sie denunziert sie ohne Absicht, arglos wie ein Mädchen wieder. Fürs Publikum ein Gaudio. Was dem Arbeiter das Bierzelt, ist dem intellektuellen Kulturschmock der Film. Schon ist die alte Dame ein komischen Star wider Willen, und gehässig wird ihre Tragik zum postmodernen Rührstück sozialdemokratischer Gartenlauben. Und dann noch … , anstatt sich in acht zu nehmen und so mißtrauisch zu sein, wie es in unsern dynamischn Zeiten alten Leuten anstehen muß … – dann also sagt sie gar, indem sie auf Herrn Verdis Konterfei zeigt: ·»Mir scheint, er hat eben gelächelt …«
Und da unser Publikum wieder? Nun, es lacht erneut. Was soll es sonst auch tun? Daß es Herrn Verdi schließlich nicht selber lächeln sehen, vor allem aber hören nicht kann, was, wenn sie singen, die alten Menschen hören — dies entblößt aller Komik Gemeinheit bis auf die Röhrenknochen. Die nämlich sind’s, was die Abwehr erzeugt und es den Fabriken unsrer kulturellen Bedürfnisprothesen ermöglicht, selbst das verdämmernde Grauen der Greise zur unsrer Unterhaltung umzuschönen. Ach was sind wir da gerührt! Wie glittert der affirmative Kitsch, der Toscas Dolchstoß zu unserm Gummibärchen macht, auf dem die progressive Chuzpe herumkäut.
Am schlimmsten und unerträglichsten aber wird’s, wenn in der vorgeführten Senilität sich all jene Mechanismen decouvrieren, die zwar mit dieser nicht ursächlich zu schaffen haben, nun aber um so leichter auf sie geschoben werden können: Prahlerei etwa. autoritärer Charakter und Mißgunst. Gesellschaftliches Unrecht wird als Gebrechen älter Leutchen abgetan und vorm Denken eingefroren. Gedacht werden darf in Daniel Schmids Tosca eh nicht allzuviel. Nur wird so Tosca Todeskuß, den ein Messer, nicht die Lippenspitze sticht und hier von einer alten, immer noch liebenden, leidenschaftlichen Frau gesungen wird, der nur zum Lieben niemand blieb, aller Verzweiflung und damit seiner Wahrheit bar. Zurück bleibt eine Süßlichkeit, die den eigentlich mutigen und menschlichen Film verschmiert und verklebt: Das in Szene gesetzte Altersheim wird zur Rührungs-Location und drinnen jedes Opfer Brand.

Wie war’s mit der Jagd im tiefen Wald? …
Bruder, die Nacht war so lang und so kalt!
Wie war’s mit der Beute? Besiegt oder tot?
Bruder, noch springt sie im Morgenrot!

Wo bleibt deine Stärke, dein Stolz, deine Lust? …
Bruder, sie schmilzt mir von Flanke und Brust.
Was hetzt dich SO? Was ist deine NOt?
Bruder, ich sterbe, mich hetzt der Tod.·
 
Rudyard Kipling, Tiger – Tiger!
Gesang zur →  Casa Verdi

 

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(ANH zu dieser Zeit.
Nach einer Wolpertinger-Lesung
im Jazzkeller Kleine Bockenheimer Straße)

7 thoughts on “Toscas rührender, rührender Kuß: Dschungelblätter Jg 1 Nr. 2, Germinal 1985: Anstelle eines Editorials.

  1. Hm–Godard – „Die Verachtung“ mit Brigitte Bardot – 1963 – fällt mir spontan ein – die Bardot in voller „Blüte zu jener Zeit – ja – die Scuderi war ja auch mal jung – das Glück in diesem VerdiStiftungsHaus(Villa) altern zu dürfen- wunderbare Idee – sollte heutzutage wieder „Schule“ machen-in „Würde“ altern?- wenn möglich-noch wunderbarer-nun, darum geht es vorrangig hier nicht– den Film kenne ich nicht, werde ich auch nicht anschauen mögen–bleibt die Frage nach dem Umgang mit dem Prozess des „Alterns“ – älter werden – wird ja nicht jedem zuteil – und diese Kugel, die mit der Geburt abgeschossen wird, erreicht jeden zum Zeitpunkt seines Todes–altern–seinem eigenen Verfall zu erleben, tja, nicht leicht zu ertragen–schon gar nicht in dieser „JugendwahnGesellschaft“–möchte das Thema nicht näher ausführen an dieser Stelle–wenn sich die Generationen ernsthaft und mit vollem Gefühl verflechten würden, sich „menschlich“ voneinander lernen bereit wären–könnte es „nett“ werden–die Spaltung jedoch sitzt zu tief—vermute ich—RIvS

    1. Ja, Godard war in den Achtzigerjahren für mich ein enormer Einflußgeber – möglicherweise, weil er stets eine wechseltitige Vereinigung von Musik, Gedanke und Bild angestrebt hat, wie ich die von Musik, Gedanke und Satzbau (Wortform), und zwar jeweils, um etwas ganz anderes als das zu erfassem, was sich eineindeutig sagen läßt. Wobei ich, abgesehen von dem in der Tat grandiosen „Le Mepris“, Godards spätere Werke, etwa ab „Prénom Carmen“, für noch bedeutender als seine frühen halte, etwa als „Weekend“, aber auch „À Bout de Souffle“. Zusammen mit Jacques Rivette ist Godard für meine literarische Arbeit der mit Abstand einflußreichste Filmemacher, es jedenfalls gewesen.

  2. Ja- französisches „Nachkriegskino“ – „Außer Atem“ – Belmondo – wunderbar – F. Truffaut  nicht zu vergessen – ach ja – Michel Piccoli – wär käme nun an „Themroc“ (Regie: Claude Feraldo) vorbei? – „Das Große Fressen“-Regie: Marco Ferreri – ich gebe es zu, damals hat mir Kino großen Spaß gemacht – in den letzten Jahren hat sich bei mir eine leichte Kinomüdigkeit eingestellt – kann also „aktuell“ nicht mehr mitreden –RIvS

    1. Ich halte hier, liebe Frau von Stieglitz, „einfach“ „nur“ kunstästhetische Überlegungen, die andernfalls vorloren gingen, in der Zeit, lasse sie sich also immer wieder reaktivieren. Mit andern Worten: Ich beharre. Das Projekt MODERNE ist auch nach „post-“ nicht vorüber, auch nicht nach „postpost-„. Auch wenn der Markt und seine Vermittlerinnen und Vermittler es gerne anders hätten.
      Was ich sagen möchte: „aktuell“ ist künstlerisch nicht wirklich ein Kriterium, eher im Gegenteil.

  3. ja – interessant – lieber Herr ANH – ebenso wichtig, wie mir scheint, da es eine postPostModerne nicht wirklich gibt?! Mein „aktuell“ hat sich rein auf die verstrichene „Zeit“ bezogen – auf meine kinolose Zeit – heißt ja nicht, das ich keine „Filme“ angeguckt hätte – da der sogenannte  künstlerische Prozess bzw. die literarische (filmische, musikalische) Formensprache ständig in (hoffentlich) Bewegung ist, dennoch die Frage- gibt’s was wirklich Neues? eigentlich nicht – vielleicht (leider) die zunehmende sprachliche Verarmung wenn es um die Gesamtbetrachtung von einzelnen MenschenFiguren in Geschichten/Romanen etc. geht ??- hier wären wir dann doch wieder beim Faktor Zeit – denn „Betrachtungen“ von Natur(Lebensraum/Umgebung)“ oder Personen oder „Dinge“- auch Politik bzw. Gesellschaft (mal die Dinge auf den Kopf stellen/andere Lebensalternativen vorstellen)-  brauchen enorm viel Zeit und Phantasie – die wahren Literaten sind für mich die „Erzähler“-Geschichtenerzähler – also eine Art von „Menschenfängern“ (POSITIV und liebevoll gemeint) – lach – geht ja auch darum, möglichst viele Leser „einzufangen“- verweise hier gerne auf Ihr Beispiel des Thomas Pynchon (u.a.) – mit dem wundervollen kleinen Ausschnitt, den Sie zitierten-in : → Zeit ohne Ufer
    … —  danke für Ihre Zeit…RIvS

    1. Wobei ich mich erinnere, daß ich auf >>>> Ihre Besprechung von „Meere“ noch reagieren wollte; es wäre aber einfach besser, es täte jemand anderes, weil alles, was ich selbst sage und schreibe, stets als pro domo (ab)gewertet wird. Deshalb habe ich es mir angewöhnt, auf Kritiken nur noch dann zu reagieren, wenn sie sachlich falsch oder bewußt entstellend sind, also persönlich schaden wollen und dabei das Buch-selbst eigentlich gar keine Rolle spielt.

      Doch ein Anderes noch. Eine postPostModerne gibt es mit mehr Sicherheit, als es je eine Postmoderne gab – und wahrscheinlich ist gerade ein Teil meines Werkes dafür kennzeichnend, das die Versprechen und Maximen der jungen Moderne – also mit dem Beginn des 20. Jahrunhunderts – nie vergessen hat, sondern sie in die Gegenwart hinüberzutransponieren versuchte und also selbstverständlich auch ins Netz. Der erste, der den Begriff Nachpostmoderne auf meine Arbeiten angewendet hat, war übrigens >>>> Ralf Schnell.

  4. Ja, ja – da formuliert man so vor sich hin –  weil man  unter Zeitdruck ist, weil man ja verabredet ist  – wird  genau da unpräzise, wo es am allerwenigsten unpräzise sein ein sollte – und schon fliegt einem dieser ganze Satz, der so wichtig war, gleich wieder um die Ohren, weil man es mit einem aufmerksamen Leser zu tun hat –    wusste es schon, als ich meinen Kommentar abschickte – das mir genau dieser  unpräzise, halbherzige  formulierte Satz wie ein Bumerang wieder um die Ohren fliegt – super – hätte mit dem Kommentieren ja warten können, aber nein….. – im Grunde wollte ich ähnliches sagen – wie in Ihrem Kommentar Post(NachPostModerne) erwähnt – s.o. Nur: Sie können es eben treffender formulieren….

    Ja, auch ich hätte gerne eine Reaktion auf meinen „MeereKommentar“ ich bekomme ja noch nicht einmal mit, wieviel Leser meinen Kommentar aufgerufen und wirklich durchgelesen haben – schade – dabei erwähnte ich sehr sparsam nur einige Facetten – es gäbe also genug „Stoff“ für eine weitere Auseinandersetzung – lächel – RIvS

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