Auch dies ist eine Erzählung.

Seltsames Treffen mit einer Frau gestern abend, die ich bei Chat.de „kennen“gelernt, mit der ich ein paar kämpferische Dialoge geführt hatte; sie sei Männern gegenüber dominant, aber wolle wieder „auf die andere Seite“, erzählte sie mir. In der dialogischen Schriftform des Chats wirkte sie ausgesprochen selbstbewußt, ja aggressiv. Besonders gelockt indes wurde ich von ihrer Drohung, daß sie mein Blut trinken werde. Sie zückte verbal das Skalpell.
„Ich bin hämophil“, erklärte sie.
„Na, das werden wir ja sehen“, gab ich ihr tippend zur Antwort.
Wovon sie sich nicht im geringsten einschüchtern ließ: „Das werden wir.“
Und ich zog also nach: „Gut, wann und wo treffen wir uns?“
Da, zum ersten Mal, zögerte sie; ich hatte den deutlichen Eindruck eines imaginierten Rollenspiels, zugleich war mir die Sache nicht recht geheuer. Andererseits… Ich weiß ja genau, weshalb ich mich auf diese Gefährdung einließ. Es ist eine, auf die ich, anders als bei der juristischen Auseinandersetzung, aktiv reagieren kann; ich suchte Risiken immer, suche sie weiterhin, auch existentielle, aber solche, bei denen ich nicht völlig von anderen abhängig bin, etwa von Anwälten, die mir vorschreiben (müssen), was ich darf und was nicht, sondern solche, in denen Reaktionsschnelligkeit, Energie und Persönlichkeit gefordert sind
„Jetzt gleich?“ fragte sie.
„Jetzt gleich.“
„Nein. Ich brauche wenigstens zwei Tage.“
Das letzte unserer Gespräche, dieses, fand am Montag statt; also ich: „Gut, am Mittwoch.“
Sie wollte noch einmal zurückziehen. Aber die „zwei Tage“ waren ihr eigener Vergleichsvorschlag gewesen; so ging das nun nicht mehr.

In derselben Nacht telefonierten wir noch: eine sehr warme, eher tiefe, doch weibliche Stimme, die jedes Wort genau setzte, fast zu genau, es hatte etwas von einer kulturvollen Sprach-Redoute.— Zwei Stunden vor dem Treffen rief ich sie abermals an, um ihr eine letzte Gelegenheit zum Rückzug zu geben. Sie hingegen nahm erst an, ich wolle absagen; später, beim Treffen, gab sie ihrer Verwunderung über diesen Anruf Ausdruck. „Verwunderung“ ist ein zu sicheres Wort, die Frau war, wie als sie mir da gegenübersaß, ausgesprochen nervös, bis in die Fingerspitzen manieriert, die langen, sorgfältig manikürten Nägel selbstverständlich rot lackiert, und zwar in demselben Rot, das ihre Hüfte schnürte. Sie trug ein Korsage-Kleid, das sichtlich die Brust hob, allerdings ohne daß sich von ihr eine Vorstellung gewinnen ließe; ich sagte ihr das auch.
„Da bin ich aber froh“, erwiderte sie, „daß ich diesen Aufzug gewählt habe.“
„Warum?“
„Sie sind so direkt.“
Das war zwar ein Vorwurf, doch keine Spur von Skalpel — ein bißchen enttäuschend, wie ich fand. Die Aggressivität dieser Frau hatte sich im gothic-style ihrer Garderobe festzementiert. Daß sich bei einer, die gegenüber Männern Domina-Positionen einnimmt, „Natürlichkeit“ nicht erwarten läßt, ist klar, doch wenn sich das mit einer Unsicherheit paart, die dauernd körpersprachliche Devensivgesten macht, stört es mir die Glaubwürdigkeit. — Rundweg klar, wie devot sie war, sie konnte ja nicht einmal aufstehen und weggehen. Zwar formulierte sie immer wieder, ich ginge zu weit (was nicht stimmte; ich sagte ihr nur freundlich, allerdings genau, was ich sah und empfand), ja sogar, ich sei unhöflich („Darüber spricht man nicht.“), aber zu dem, was ich nun eigentlich erwartete, ja sogar wünschte – ein Angriff – kam es nicht. Ich hätte es wirklich verstanden, wäre sie einfach gegangen, und ich sagte ihr das auch, als sie Unwillen zeigte.
„Dann würde ich ja fliehen“, enggegnete sie, übrigens auch dies geziert. Sie spielte eine in Nächten und Träumen eingeübte Rolle und sich selbst immer tiefer in diese geradezu hilflose Situation hinein. Wann immer ich aber die Hand hob – um zur Tasse oder zu den Zigaretten zu greifen -, zuckte sie mit dem Gesicht, nein: mit dem ganzen Körper zurück.
„Glauben Sie, ich wolle Sie schlagen?“ fragte ich und setzte nach: „Was tragen Sie unter diesem Panzer?“
Sie zögerte kaum, antwortete: „Strümpfe.“
„Sonst nichts?“
„Sonst nichts.“
„Tun Sie das nie wieder, wenn Sie sich mit mir treffen.“
„Es geht nicht anders bei dieser Art Kleid.“
„Oh, das wußte ich nicht. Entschuldigung.“
Sie blieb starr, sah sich im Raum um, der sich abteilen ließ.
„Ob man das hier mieten kann?“ fragte sie. Und erzählte, daß sie Rollenspiele spiele: 20/25 Leute träfen sich ein- bis zweimal Woche und seien für den Abend Vampir. Man habe dann künstliches Blut in den Gläsern.
„Wie schmeckt das?“
„Na, wie Blut.“
„Und woraus besteht es?“
Die Frage irritierte sie. „Das weiß ich nicht. Da muß ich mir mal die Zusammensetzung ansehen.“
Die Kellnerin  kam.
„Kann ich das hier einmal mieten?“ fragte meine Dame und führte ihren Blick durch den Raum.
„Aber sicher, rufen Sie vormittags an, da ist der Chef immer da.“
Meine Dame ließ sich die Telefonnummer geben, steckte den Zettel mit einer wie durchchoreografierten Bewegung in ihr Handtäschchen.
„Wieso leben Sie nicht gerne?“ fragte ich, als die Bedienung wieder weg war.
„Gäbe es einen Grund?“
„Hunderte: Farben, Gerüche, Frauen, Musik.“
„Das ist alles ohne Dauer.“
„Ja und?“
„Es hält alles nicht.“
„Wahr ist nur, was Dauer hat? Glauben Sie das?“
„Alles nur Moment.“
„Aber schöne Momente.“ — Ich erzählte ein wenig von Sizilien, von Afrika, von Indien, schwärmte ein bißchen.
„Ich kann dazu wenig beitragen“, wehrte sie ab. „Da bin ich noch nie gewesen.“
„Fahren Sie hin. Der hiesige Lebensüberdruß ist für die Menschen dort ein ziemlich unverständlicher, perverser Luxus.“
„Ja, die können sich nichts anderes leisten.“ Und zuckte immer noch zurück, wenn ich zu meinen Zigaretten griff.
„Sie sehen das, glaube ich, falsch. In den armen Ländern feiern die Menschen das Leben, auch wenn sie sich das gar nicht leisten können. Sie tun mehr, als die Existenznot erzwingt. Sie feiern das Leben in den Farben, mit denen sie ihre Häuser streichen, sie feiern es in den barocken Speisefüllen, in überschäumenden Geschmäckern, Früchten…“
„Warum lieben Sie das so?“
„Die Frage stellt sich mir nicht. Ich drücke den Finger in eine als ganze Frucht kandierte Orange und trinke den Saft heraus. Eine unvergleichliche Süße, man kann davon ohnmächtig werden. Es ist ein Erlebnis. Weshalb sollte ich nach seinem Grund fragen?“
„Es geht vorüber. Es hält nicht.“
„Warum soll es halten? Dauer ist nicht intensiv. Sicher, die Orange ist irgendwann aufgegessen. Hielte die Süße an, sie verlöre ihre Kraft, ja wahrscheinlich würde sie unaushaltbar, wenn nicht sogar ekelhaft werden.“
„Wir werden alt“, sagte sie plötzlich.
„Ja.“ Und ich begriff das Problem, das sie quälte. Ihre Vampirspiele bekamen einen gänzlich anderen Akzent: Das ewige Leben… ein Spiel nicht mit Unsterblichkeit, sondern mit dem nicht-weiter-Altern. Dafür nahm sie ihre durchweg gekünstelte Morbidität in Kauf, ja kultivierte sie. „Morbidus“ bedeutet „krank“. Der sekundäre Krankheitsgewinn wird als angenehmer empfunden als das Leiden der Krankheit. Genau hier fängt die perverse Bewegung an, die Leid in Lust uminterpretiert. Doch wie wenig das gelingt, wie hilflos es ist, wenn es nicht zu einer neuen Form findet — einer selbständigen, die ohne die dahinterstehende Person funktioniert, von der sich die Person also trennen können muß —, das war an meiner Gesprächspartnerin geradezu indiskret zu beobachten. Ein paarmal dachte ich sogar, ihr kämen die Tränen. Das ganze Gesicht zog sich ihr zusammen, tiefe senkrechte Falten über der Nase, die vollen Lippen wurden schartig … und immer wieder der Versuch, sich zusammenzureißen und die Haltung zu wahren, was den Körper mitunter in den Panzer und dieses Zucken zu teilen schien, das er zugleich nicht zulassen, nicht sehen lassen wollte.
Wie groß muß die Angst, wie groß der Schmerz sein, dachte ich, der jemanden in solche das Selbst verfehlende Muster preßt? Doch galt dies nicht auch für mich? — Ich kam gar nicht umhin, dies mich zu fragen, als ich die Dame verabschiedet hatte und heimging. Zweifellos hatte ich selbst den Reiz gespürt, der mich aus ihrer nun freilich gänzlich verlorenen Skalpell-Drohung angeweht hatte. Da lauerte etwas, das überschreitet. Etwas, das ich ständig suche. Die Angst in den Griff bekommen, indem ich sie formuliere, umformuliere. Imgrunde ist es gar so anders nicht.

Und es gab noch einen Dialog, der in mir jetzt weiterschwingt:
Nachdem mir die Dame erklärt hatte, daß es ihr auf den Geist ankomme, der Körper sei ganz nebensächlich, und nachdem ich diesen Glauben bestritt („Sehen Sie, das Gehirn … darin denken wir, darin träumen wir, darin empfinden wir Lust … aber es ist doch selbst rein physiologisch — es ist ein Organ …“), fiel mir ein, daß, wer den Geist als etwas Ewiges fasse, sich jederzeit töten könne, ohne sich selbst zu verlieren.
„Weshalb noch weiterleben, wenn uns das Momenthafte schöner Augenblicke und ihre Vergänglichkeit quält? Ich meine, wir haben doch diese Freiheit, es ist ja gar nicht schwer…“
Sie hätte jetzt mit der Angst vor Schmerzen reagieren können, das wäre rundweg verständlich gewesen. Aber sie tat es nicht, wußte bloß keine Antwort. Was bei einer Masochistin auch nicht ganz ohne Motiv ist. Bei einem – klinisch gesprochen – Sadisten wahrscheinlich ebensowenig. Und ich ergänzte:„Wenn ich mich jemals selbst töten sollte, dann, weil ich auf eine Seite gerutscht wäre, die mir den Zugang zur Lust völlig versperrt, und nicht, weil ich das Leben nicht mehr liebte.”

Aber auch dies ist eine Erzählung.

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