Realitätsverschiebung (1): Erotische Chats. Mit Hinweis und Link auf die „Netzfrauen“-Serie.

Nicht die “Normal”-Chats, in denen sich die Leute, oft Pubertierende oder Nachpubertierende, treffen um zu „plaudern“ (to chat = quasseln), sind interessant, sondern diejenigen aus dem erotischen Feld: Von „Blinddate“ bis zu hartem SM reicht da die Spanne. Chats insgesamt machen süchtig, vielleicht weil die Konversation immer auch, und mehr, eine innere ist, als es jeder reale Gesprächspartner für einen Chatter leisten könnte: Die Begriffe langen stets direkt ins Gehirn, kommen nicht mit Zusatzreizen wie Gerüchen, Husten, abgebrochenen Fingernägeln, sondern sind von allem Anfang an so abstrakt, daß sie geradezu ungehinderten Eingang ins Privateste, ja Intimste finden können, ins mithin: Gehirn, das sie mit der nötigen Sinnlichkeit erst auflädt, und zwar einer, die dem Chatter – seinen Idealen – rundweg entspricht. Deshalb duzen sich Chatter. Man sagt Du zu sich selbst. Es wird fast immer als ungehörig empfunden, als eine Art Tabubruch, wenn ich im Chat die anderen sieze.

Zu chatten ist eine um abstrakte Reize (Wörtern/Semantiken) angereicherte, höchst moderne Form des Selbstgesprächs: Das Selbst projeziert sich ins imaginierte Gegenüber, das aber nicht wie das Selbst „spricht“. Das Selbst spaltet sich und vollzieht so noch einmal, was bereits die Produktionswirklichkeit und die Informationstechnologie mit ihm taten. Man kann fast sagen, das Selbst realisiert sich in den Chats, und zwar als das moderne, polymorphe Ich, das imstande ist, mit den modernen Wirklichkeiten zu stoffwechseln. Den Gedanken → Haraways, daß das Gehirn wesentliche Teilfunktionen in die Maschinen (etwa den Computer) → ausgelagert habe – ähnlich den Nationalstaaten, die sich kolonialisierten -, habe ich bereits mehrfach als Argument beigezogen. Die „Gegenüber“ des Chatters sind Kolonien seiner Ichfunktion.

Das gilt für sämtliche Chats. Besonders spannend indes sind diejenigen erotischen Inhalts, und zwar, weil in ihnen immer auch eine Hoffnung auf Realisierung – Verkörperung – mitschwingt. Niemand meldet sich „umsonst“ (ohne Gründe) in einem Sadomaso-Chat an, der nicht entsprechende Neigungen, wenigstens einen Kitzel an solcher Neigung verspürte. Das gilt auch für all die vielen, die es ablehnen, sich aufgrund eines Chat-Flirts zu treffen. Alle haben sie die Sehnsucht nach verwirklichter Erfüllung, die meisten allerdings zugleich Angst vor ihr. Berechtigt. Eine solche, unvermittelt durch Ich-Kolonien bestätigte Erfüllung könnte den Zusammenbruch ihrer sie sichernden Sozialsysteme bedeuten. Deshalb leben die meisten Chatter die Sehnsüchte lediglich als → Innenspiel aus; es ist das Paradox einer gemeinsamen Masturbation.

Nicht aber alle. Manche geraten, etwa als Devote, so sehr in den Sog ihrer eigenen Triebstruktur, daß sie reagieren, als wäre da tatsächlich ein dominanter Widerpart. Was sie von einem Treffen allenfalls noch abhält, ist die Angst, nicht zu genügen, etwa körperlich. Auch sie läßt sich beinahe leichthändig als Fessel verwenden, und es kommt dann zum Treffen. Sofern dabei die Pheromone nicht allzu intensiv protestieren, landen die Partner auf jeden Fall im Bett – und ein neues, ein Realspiel beginnt, das tatsächlich die befürchteten – und die, sei es auch unbewußt, erwünschten – Folgen haben kann.

Überhaupt hat ein solches Treffen einen enormen Reiz, nämlich des Widerspruches wegen, der in der Tatsache liegt, daß man einen völlig fremden Menschen trifft, über den man zugleich Allerintimstes weiß. Oft hat man einander ja schon auf Fotos gesehen“ oder gar in der Webcam. Einige Frauen, die ich auf diese Weise kennenlernte, waren schnell bei der Hand, sich vor ihr sogar auszuziehen. Aber selbst die Diskreten sind von einer enorm sinnlichen Aura des Sich-ausgeliefert-habens umgeben, des Sich-ausgeliefert-haben-Wollens, und dann sitzen sie einem real im hochgeschlossenen Kostüm gegenüber, und wir konversieren über das Wetter und den Beruf. Solche Rendezvous’ wären ohne Chats nie möglich gewesen; denn da ein socher, siehe oben, immer unmittelbar ins Gehirn greift – also in die Wunscherfüllungsprojektionen -, ist der Sprung, der dem anderen das eigene Geschlecht zur Disposition stellt, ein allenfalls minimaler. Um so schmerzhafter wird eine reale Ablehnung empfunden: wenn es gut geht, nur als Enttäuschung. Da die meisten Chatter tatsächlich nicht den Projektionen ihrer Chatpartner entsprechen, tun sie also klug daran, solche Treffen zu vermeiden. Entsprechen sie den Projektionen indes — oder es entspricht nur etwas an ihnen — , dies selbsverständlich beiderseits, ist die Obsession vorprogrammiert. Es ist letztlich immer die Frage, ob und wieviele potentielle Enttäuschungen (Frustrationen: frustra = „vergeblich“) wir aushalten können, ob Chatpartner private Treffen riskieren. Solange das Ungenügen an der reinen, sozusagen masturbativen Projektion in den Chattern nicht abgetötet ist, suchen sie dann nach anderen Möglichkeiten der Realisierung, etwa die „Schutzräume“ kollektiver Chattertreffen, die immer etwas von „Betriebsausflug“ haben und oft „Stammtisch“ sogar genannt sind. Letztlich sind es Reaktionsbildungen, wie der kommunikative Umgang im Chat überhaupt: ausgesprochen regredierte Dialogformen, die das eigene Begehren per Witzeleien abwehren. Die vielen „Huhus“ und „Knuddel dich“s, die eher Verhaltensformen Pubertierender denn Erwachsener entsprechen, sind für Chat-Geschehen oft signifikant. Wer von allem Anfang an Realisierung fordert und diese zudem an Bedingungen knüpft (Schönheit , Schlankheit usw.), macht sich unbeliebt, ist aber zugleich – weil er als Spiegel „verdrängter“ Erfüllungsfantasien empfunden wird – begehrt. Genau dieses Begehren verschafft sich im Enttäuschungsfall in verbalen Aggressionen Luft, und zwar meist einvernehmlich mit dem Großteil sämtlicher anderer Chatter.

NACHTRAG, März 2020
Wie ich bereits in meinem Aufsatz (Netzlink) Die anthropologische Kehre (2005/06) schrieb (Entwürfe in Der Dschungel ab → dort), lernen besonders junge Menschen ihre ersten Geschechtspartner unterdessen zu einem großen Teil im Netz kennen, nicht etwa in der sogenannten Realität. Angenommen, daß sich zwei Drittel aller Partner tatsächlich innerhalb ihres sozialen Umfelds kennen lernen, wird das Chat-Phänomen, zu dem ich nicht nur tatsächliche Chats, sondern auch Datingplattormen wie Tinder rechne, insofern durchweg, nämlich signifikant, zugenommen haben, als die sozialen Netzwerke, daher ihr Name, sich mehr und mehr über die sozialen „Real“-Erstkontakte geschoben und über sie gelegt haben. Dies bedeutet eine so extreme Verschiebung, daß auch ihrzufolge der Realismusbegriff neu gefaßt werden muß. Ein Roman, der sie außer acht läßt, kann nicht mehr „realistisch“ genannt werden.

[Poetologie]

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4 thoughts on “Realitätsverschiebung (1): Erotische Chats. Mit Hinweis und Link auf die „Netzfrauen“-Serie.

  1. da ist viel wahres dran. es sind assistierte selbstgespräche. wenn ich chatter getroffen habe, sehr selten und auch nur anfangs, war das meine paranoide annahme, dass wir uns kennen müssten, ich war 2 mal sehr erstaunt, dass es völlig andere menschen waren, die ich wirklich nicht kannte. ein sehr narzisstisches treiben ist der chat, das wurde mir da sehr klar. zu einem habe ich heute noch kontakt, ich weiß, dass mich damals seine assistenz für einen künstler interessierte, heute fühlt es sich gar nicht mehr so an, als habe man sich bei einem chat kennengelernt, sondern, man hätte auch bei einer party gewesen sein können. ich würde noch hinzufügen, dass man in chats natürlich ganz anders gespräche konsumiert, als im echten leben, ich bin auch viel rücksichtsloser und unverbindlicher. ich fühle mich nicht verpflichtet, kontakte zu verstetigen, fürchte mich nicht zu ghosten und geghostet zu werden, was ich in meinem normalen alltag bis heute furchtbar finde. die dosis an menschen kann in chats viel höher sein, als ich sie im wirklichen leben ertragen würde. ich hatte ja schon einen titel für ein chatbuch, weil ich so viel rumgekapsert habe, bekam ich öfter geschrieben: egal, was du nimmst, lass es weg. das sollte der titel sein. es hat mich sehr amüsiert. eine zeitlang habe ich konstruktivistisch gechattet, damit eine art genretext dabei herauskommt. es ist auch ein bisschen, wie sein hirn gassi führen. ich werde immer gefragt, was suchst du, dann sage ich immer, nix, ich schau mir nur die auslagen an, wie eine art stadtbummel, ein chatbummel. und, was völlig kurios ist, ich vergesse fast alles wieder sofort, während ich bei menschen, die ich leibhaftig treffe, selbst wenn es nur sehr selten ist, ich mich an viele details noch erinnere, die sie mir mal erzählt haben. der verflüchtigungsgrad ist bei mir zumindest ein deutlich anderer, ob ich wen physisch getroffen und gesprochen habe, oder nur gechattet. für mich wäre es eine platonische hölle, ließe man mir nur den chat, wäre sein reiz für mich sofort verflogen und ich würde dran leiden. so stellt es sich mir dar. das gegenteil zu diesem loslabern ist eigentlich ein besuch beim schweigenden friseur, das ist ein bisschen, wie die inverse version von andersens kleiner seejungfrau, die ihre stimme verkaufen musste und es nicht schafft, allein aufgrund ihrer physischen präsenz den prinzen für sich zu gewinnen. ich hab immer das gefühl, ich bin gegen endloses gequatsche immun, das kann ich betreiben, ohne dass es was entscheidendes auslöst, aber schweigend an den haaren herumgeschnitten kriegen, kann mich ein jahrzehnt beschäftigen. vielleicht eine art berufsdeformation, man kann sich an worten einfach nicht mehr selbst entzünden?

    1. Unterm „ghosten“ leiden aber tatsächlich viele, wohl freilich hauptsächlich dann, wenn es ihnen in den Chatgesprächen um die Anbahnung wie auch immer vorgestellter Beziehungen geht. Auch bei mir liegt ein Riesenkonvolut „mitgeschnittener“ Gespräche, aus dem ich immer mal zumindest ein Buch machen wollte, in diesem Fall ein erotisch codiertes, für das es hier in Der Dschungel einige Zeit lang Ausschnitte gab (Suchwort „DLZI“), → nur ein Beispiel. Das Typoskript lag seinerzeit bei Luchterhand, der Lektor wollte es auf jeden Fall haben. In der Konferenz indes gab es knallende Türen … Allerdings, es war auch nicht lange nach der Zeit des Meere-Prozesses
      Ich selbst freilich, doch, doch, ich kann mich an Worten nach wie vor selbst entzünden. Wobei ich dieses „selbst“ generell fraglich finde.

  2. übers ghosten muss ich noch nachdenken, bin ich eigentlich auch kein typ für, aber ich betrachte chatten wie eine art computer game, weil ich glaube, es verlängert den weg nur und dem knie am tresen wird man immer näher sein. chats habe ich aufgehoben, wenn sie irgendeinen twist bekamen, wie hier z b: trinkst, schraabst, trinkst net, schraabst aa. und da hätte ich auch wieder getippt, das ist doch wer, den ich kenne, weil, das groovt sich sofort aufeinander ein, ist ein bisschen wie gemeinsam jammen. so was gefällt mir dann. ich speise dinge ein, die mein leben gerade beschäftigen, aber sie werden unter der hand etwas ganz anderes im dialog.

    (12:58) 41Berlin: ein Hallo aus Berlin..
    (12:59) twominutewarning: und zurück
    (12:59) 41Berlin:wie nett… du bist also auch aus Berlin
    (12:59) 41Berlin:Aus welchem Bezirk kommst du?
    (13:01) twominutewarning: maxvorstadt
    (13:02) 41Berlin: also aus München
    (13:02) twominutewarning: ah mist vertan
    (13:02) twominutewarning: moabit meine ich
    (13:03) 41Berlin:*lach… alles klar
    (13:03) twominutewarning: maovorstadt quasi
    (13:03) twominutewarning: oder maxbit
    (13:04) 41Berlin:ja, aber dann wären marx und mao schon passender
    (13:04) twominutewarning: und du?
    (13:04) 41Berlin:Bitburger meinst du
    (13:04) twominutewarning: nee ich würde immer kotztritzer nehmen
    (13:04) 41Berlin:ja, oder Schm(B)ecks
    (13:05) twominutewarning: schmecks und antischmecks
    (13:06) twominutewarning: oder wir genehmigen uns im juni schon ein augustiner
    (13:06) 41Berlin:na, dass wäre ein Stilbruch…
    (13:06) 41Berlin:das wäre, wie wenn Stoiber Oettinger trinken würde
    (13:07) twominutewarning: und dilma ein quilmes
    (13:08) 41Berlin:na, ich dachte, dass wäre das Finale
    (13:08) twominutewarning: ich muss eh noch mit dem tannenzäpfle abrechnen
    (13:09) 41Berlin:Aber nicht radebergern dabei
    (13:10) twominutewarning: nein nein, ich warsteiner mein face und dann hat jever ein versuch
    (13:11) 41Berlin:nicht jever kann warsteinlich damit umgehen
    (13:11) twominutewarning: das steht zu befürchten, mancher geht zwischendurch mal pinkus
    (13:13) twominutewarning: wer will schon wie das opferlammsbräu zur schlachtplatte geführt werden
    (13:14) twominutewarning: und muss dann später auf den schöfferhofer
    (13:15) 41Berlin:Aber Ale haben nicht was davon
    (13:15) twominutewarning: das steht eh in den stellar artois wer was davon heineken wird
    (13:16) 41Berlin:Respekt, da kann dir beim Bier keiner was vor Paulanern
    (13:17) twominutewarning: ich hab die befürchtung nur der franziskaner wird erdinger
    (13:18) twominutewarning: und zum schluss dauerte alles ein biertje zu lang und der kater war enorm
    (13:18) 41Berlin:ich geb auf…

  3. merci, ca va bien maintenant mit der schriftgröße. chatten. das war auch für mich mal eine situation, der ich zeitweise verfiel. als das internet ins haus kam und die internet-benutzung automatisch das telefon blockierte, ein thema für sich für die häusliche realität. ich entdeckte also nach einer langen italienischen zeit die möglichkeit, deutsch „im alltag“ zu reden… hübsche illusion. verlor sich alles, nachdem ich versuchte, die realen personen dahinter persönlich aufzusuchen, um zu verstehen, was das ist, und zu erfahren, dass das nichts ist… so trieb ich mir’s aus … eine reise war’s, die ging nach frankfurt, berlin und nürnberg, um das nichts dahinter zu begreifen

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