Joachim Zilts’ Verirrungen (2, Fortsetzung)

Aber es war dunkler darin als in dem anderen, so setzte ich die Füße von Anfang an nur noch vorsichtig auf. Ich strich sogar immer mit den Fingern die Wand entlang, manchmal, wenn es sehr sumpfig wurde, hielt ich mich an Vorsprüngen und so etwas wie herauslangenden Wurzeln fest; was sie wirklich waren, konnte ich allenfalls ahnen. Und immer weiter ging es hinab, ich hätte längst schon wieder unten angekommen sein müssen. Würde irgend eine Tapetentür aufdrücken, die es aus wasweißich für Zeiten in dem Altbau gab. Wahrscheinlich müßte ich mit ziemlicher Gewalt ziehen oder pressen, egal, jedenfalls bekäme ich es endlich hin und stolperte in mein Schlafzimmer. So simpel stellte ich mir das vor, während ich weiter- und weitertappte, bisweilen stehenblieb und lauschte. Aber ich weiß weder, wie w e i t noch wie l a n g e ich mich so vorgekämpft habe, als mir der Boden unter den Füßen wegblieb, das Gefälle war Absturz geworden, ich verlor den Halt und rutschte armrudernd tiefer, wurde schneller, konnte überhaupt nichts sehen, rutschte wohl die Schräge eines Trichters hinab, dann wurde es mit einem Mal hell, prallende Sonne, ich drehte mich zentrifugal durch die Wand, ein heftiger Schmerz schoß in den linken Ellbogen, aber ich schrie nicht, ich jagte nur weiter, schlug auf. Als ich zu mir kam, lag ich in meinem Bett und starrte zur Decke.

Nun ist das nur bedingt wahr. Zwar lag ich durchaus in einem Bett, sogar einem, das dem meinen auf verblüffende Weise glich; dennoch war es ein anderes, überaus fremdes. Insgesamt machte dieses Schlafzimmer einen verdächtigen Eindruck. Das lag gewiß nicht an den Schmerzen in meinem Ellbogen, auch nicht daran, daß ich mich offenbar erbrochen hatte. Ich schien nach dem Aufprall für kurze Zeit ohnmächtig gewesen zu sein. Offenbar hatte mich eben diese Abwesenheit gegenüber naiver Vertrautheit sensibilisiert. Nicht ein Sessel stand anders als gewohnt. Gerade darin lag die Tücke. Der letzte Gang hatte mich in eine Welt abgeschüttelt, die zwar analog meiner eigenen geordnet, sie aber eben nicht war. Schon entdeckte ich Unterschiede, Kleinigkeiten, ich geb es zu, Unterschiede aber doch, Differenzen… ich möchte sogar von „Anomalien“ sprechen. Etwa das Furnier des Ikeaschranks, aber auch… eben!: Christine besaß keine Trockenhaube! Das hätte ich gewußt, wenn sie etwas so Absurdes ins Schlafzimmer gestellt hätte. Außerdem befand sich der Krater, dieses Loch in der Decke, durch das ich ganz offenbar abgestürzt war, an einer völlig anderen Stelle als das, welches mir vorhin als Einschlupf gedient hatte. Sowieso war das Ding erheblich breiter. Kein Wunder also, daß ich mich nicht hatte halten können. Ich, in meiner Welt, hätte so etwas schon längst mit Spatelmasse gefüllt und dann überstrichen. Es gibt auch in m e i n e m Leben Nachlässigkeiten, gar keine Frage, aber dieses Ding da wäre mir peinlich gewesen.
Nein, ich hatte nicht, wie man so sagt, „nur“ geträumt. Meine verquere Situation war real. Ich hatte mich versehentlich in eine Parallelwelt locken lassen. Noch zwei Tage vorher hätte ich über sowas gelacht, ich bin immer Pragmatiker gewesen. Und grübelte pragmatisch darüber nach, wie ich wieder zurückkommen konnte, als eine derart vertraute Stimme, daß die Täuschung völlig auf der Hand lag, durch den Korridor rief: „Willst du nun endlich aufstehen, Faulpelz?“ Und dann kam sie auch schon herein, ähnlicher meiner lieben Christine, als es möglich ist. Die Frau war wie ein Klon, so gleich waren beide einander. Dennoch gab es in ihrer Stimme etwas, das mir die Nackenhaare sträubte. Außerdem blinzelte diese Frau mich so ausgesprochen spöttisch an, daß einer sich nur ducken konnte. Ach, wie ich mich irrte! Denn von den Wanderern, zu deren einem ich so ganz ohne Vorsatz geworden war, wissen die Menschen ja nichts.
Ich rührte mich nicht. Ich gab auch keine Antwort.
„Um Gotteswillen, Joachim, ist Dir s o schlecht?“
Schon zog sie mir die Decke vom Körper. Das war übrigens jetzt mal erleichternd. Sie hatte träge auf mir gelegen, ich hatte mich geekelt vor ihr, aus solch einem unbekannten Material war sie gewoben. Wenn „weben“ überhaupt das richtige Wort dafür ist.
„Aber Joachim, das muß sofort in die Wäsche! O Gottogott, sag doch einen Ton! Bist du bei Besinnung? Was ist los?“
Nein, ich schwieg. Ich starrte nach dem Trichterloch. Aber kam nicht heran. Es war drinnen ja sowieso zu steil.
„Meine Güte, was hast du denn da gemacht?“ Sie hatte den Ellbogen gesehen. Er blutete offenbar, ich selbst schaute nicht hin, sondern rang still mit der Erkenntnis, welch ein Alien ich war. Ich gehöre hier nicht her, ich muß möglichst schnell wieder weg.
„Gott, Schatz, bitte sag was!“
„Es ist nichts. Es ist wirklich nichts.“
„Aber du blutest! Und du hast dich übergeben!“
„Ich … ich weiß nicht…“ Es war das klügste, verwirrt zu tun. „Ich habe sehr schlecht geträumt.“ Ich richtete mich auf, vorsichtig, rieb die Augen, blinzelte zum Fenster. Es war schon unanständig schönes Wetter.
„Aber das muß doch behandelt werden!“ Sie eilte ins Bad, kam mit Flüssigverband und Betaisodona zurück. „Wo hast du das bloß her? Möchtest du deinen Kaffee lieber ans Bett?“
Ich ließ ihre Sorge über mich ergehen, selten habe ich so viel Falschheit erlebt.
„So, das ist jetzt erstmal besser. Und wirklich, wasch dich… Meine Güte, soviel h a s t du doch gar nicht getrunken..!“ Ziemlich widerwärtig hüpfte sie, die verschmutzte Wäche vor sich hertragend wie ein Tablett, wieder hinaus.
Ich suchte nach einem Einschlupf, fand keinen. Auch draußen, vor dem Fenster, hatte sich nichts verändert. Die drei Buchen, die Wiese, der Jägerzaun. Die Einfahrt. Wie immer hatte Christine sie gestern abend offen stehenlassen. Drüben Schmidts, die nächste Reihe die Henkells, danach… Moment! Ich hatte die Namen unserer neuen Nachbarn vergessen.

Schweigsam kaute ich auf den Brötchenbissen.
„Irgend etwas ist!“ sagte sie.
„Nichts ist“, sagte ich.
„Aber du hast das doch nicht von Nichts!“
Ich hatte einfach keine Lust zu reden. Was hätte ich Christine erzählen können? Daß wir einander fremd waren?
Ich stand auf. Ich ging ins Schlafzimmer. Ich legte mich aufs Bett zurück. Christine stellte sich in die Tür, starrte mich an. „Also was machst du denn jetzt?!“ Ich sprang auf. Ich kramte paar Sachen zum Anziehen zusammen, zerrte die Tasche vom Schrank. Stopfte sie mit Jeans T-Shirts Socken Pullovern. Ging sogar noch mal, sicherheitshalber, auf die Toilette, Christine bis zur Tür hinter mir her.
„Was hast du vor?“
„Pinkeln. Merkst du doch.“
Ich kam wieder raus, schob Christine entschlossen zur Seite, schlüpfte in die Reeboks. Dann zog ich mir den Anorak über, stopfte noch die Taschenlampe in die Tasche, ließ meine Blicke schnell über die Zimmerwand gleiten. Christine wählte am Telefon, grüßte ihre ziemlich fade Freundin Mildred, war abgelenkt. Das nutzte ich. F a n d einen Einschlupf. War wieder fort.

[eingestellt am 3.7.2004, 13.20 Uhr; modifiziert 5.7.2004, 1.15 Uhr]

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