Erste Reaktion auf Catania. Und meine Antwort.

N a c h der Widmungsträgerin. Freilich.

Nabend Herr Herbst!
Nicht schlecht, das Vulkan=Feature. Mini-Disc-Player dabei gehabt, watt?
Verflixt, muß ich mir auch mal besorgen so’n Ding…! Ich mußte die
ganze Zeit nachdenken, ob dies nun die Stimme ist, die ich aus Würzburg
kenne, dabei war der atemlose Lesestil ja unverkennbar. Jedenfalls mußte
ich an Koeppen denken, “Tod in Rom”, die Reise-Essays aus den 50ern und
so. Es gibt da in “Tod in Rom” diese klasse Stelle, wo der Nazi Judejahn
Spaghetti mit Meeresfrüchten verschlingt, obwohl er was ganz anderes
essen wollte…
Konstruktive Kritik: Ist das mit dem “Stolz” der Sitzilianer nicht
Klischee? Wenn ich meinen spanischen – sorry, “katalanischen”, würg –
Freunden in Barcelona sowas in der Art servieren würde, setzte es Hiebe.
Überhaupt mehr politische, gesellschaftliche Recherche, bitte. Nicht nur
Blüten- und Müllduft die ganze Zeit. Das war super, es gab super
Momente, aber trägt nicht die ganze Featuredauer durch. Wir sind hier
nicht im Fin de siècle, nicht mehr im Ästhetizismus. Gut z.B. die
Erkenntnis, das Gesuchte, Beobachtete, für “authentisch” sizilianisch
Gehaltene sei es ja längst nicht mehr, in 10 Jahren wahrscheinlich
sowieso vollkommen verschwunden, jawohl! Die Moral in den Köpfen der
jungen Paare, Lippen, Sex – ja genau, was ist damit, mehr davon, haha!
Wie sieht’s überhaupt aus mit dem Katholizismus da unten, wie bestimmt
er das Leben der (jungen) Leute, oder doch gar nicht mehr, nur noch
Chimäre? Mussolini, Mafia, “Nazis raus”, gibt’s da was rauszukriegen im
Alltag, was sagt der Portier?
Herzlich:
Jan Süselbeck

Und meine Antwort:
Ich bin kein Journalist, und will es nicht sein. Mein „Zugriff“ ist anders.
Aber zu Ihren Fragen: Der Katholizismus ist alles andere als Klischee (und er ist ja zutiefst heidnisch: Ist die Ernte schlecht, holen die Leute noch heute ihre Heiligen aus den Kirchen und stellen andere auf.) Die Jungen teilen ihn nicht, aber sowie sie heiraten, fängt er sie ein. Oder sie verlassen das Land – was die meisten der hohen Abeitslosigkeit wegen sowieso tun müssen. Die zurückbleiben, entwickeln diesen Stolz. Man spricht von sicilianità. Die enge Verbindung nach Neapel hab ich unberücksichtigt gelassen, obwohl sie seit den Zwei Königreichen Sizilien ungebrochen erhalten ist. Aber das betrifft mehr Westsizilien, das normannisch-arabisch geprägt ist, während der Osten die barocken absolutistischen Spuren bis heute vorzeigt. Das Land ist nach wie vor von Großgrundbesitzern beherrscht – oder von der Mafia, die sich aus einer Widerstandsbewegung gegen diese Großgrundbesitzer entwickelt hat und nach wie vor größter Arbeitgeber auf ganz Sizilien (und in Neapel) ist.
Über all das könnte ich schreiben, aber es interessiert mich poetisch nur am Rand. Es gibt genug Berufenere, die das tun.
Ich bin völlig anderer Meinung, was den Ästhetizismus betrifft. Schönstes Beispiel ist sicher Pynchon, der, um Boehlich über Niebelschütz zu zitieren, alles mit einer Armbewegung vom Tisch wischt, was wir so an “aufklärerischer” Literatur h a b e n.
(Selbstverständlich, ich bin mir klar darüber, daß ich im Umfeld “Feature” in fremden Gefilden wildere. Eigentlich sind die “Briefe aus Catania” eine Liebesgeschichte, suvbervsiv einem informativen Medium unterschoben. Sehen Sie’s s o.)
Herzlich, ANH
P.S.: Mit glücklichem Erstaunen nahm ich Schlingensiefs Einlassungen zum Parsifal auf. Dann l a ß t ihm seine Hasen und dem “reinen Tor” das Feuerstein-Kostüm… er ist auf poetisch richtigem Kurs.

Und heut nacht wiederum Süselbeck: Lieber Herr Herbst!
Subversion, sicher. Die Liebesgeschichte mit Alexandra bleibt aber so subversiv, daß sie m.E. kaum noch ins Gewicht fällt. “Ich stehe gerade in der Kirche und lese das Wort ENTHALTSAMKEIT”, das war so ein Punkt, wo ich aufhorchte, auch der drückende Magen wegen ausbleibender Antwort, aha, da ist was im Busch, gut.
Aber ich will hier gar nicht rumkritteln an der Sache, fand es wie gesagt ganz gelungen, das Feature, mit den Alltagsgeräuschen und so weiter etcetera! Ich kann mir Texte von der Sorte, wie Sie sie in Würzburg vorlasen, auch gut als ein Hörspiel in die Richtung vorstellen. Diese pfeilschnell springenden inneren Monologe, ihr “Zappen” ins Gerede, Gespräch, in die (möglichen) Gedankengänge anderer, die defekte DB-Toilette bei 220 Sachen…
Herzlich: J.S.

22 thoughts on “Erste Reaktion auf Catania. Und meine Antwort.

  1. das catania-hörstück ebenfalls gehört, fand es recht gut. versetzt einen dorthin, man kann die atmosphäre erleben, wird aber von den schnell und atemlos gelesenen briefen auch gefordert; keine zeit zum träumen, oft durch die geschwindigkeit und dichte der beobachtungen und bescgreibeungen eine art streß des zuhörenden empfunden, der aber eu-streß sein mag, weil er zum aktivwerden im sinn von nachsehen bei sich selbst: was resonanz finden kann, zwingt. gratuliere – ist gelungen!

    1. ähm, sorry, fand es ausgezeichnet. voll leben und gedanken, so, wie unser leben ist (oder sein sollte).
      wenn man viel redet am tag, passieren einem solche peinlichkeiten. 🙂

    2. Neinnein, schon recht. Ich hab das Ding sehr bewußt übers Kofferradio gehört – bis mich mein Junge, als ihm die “Sensation”, seinen Papa im Radio zu hören, genug war, zum Einschlaf-Vorlesen rief. Ich konzipiere solche Hörstücke immer unter der Prämisse, es stünden den Hörern High-End-Anlagen zur Verfügung. Die gesamte Musikregie kippte im Kofferradio. Aber ich hab absolut keine Ahnung, wie ich das in den Griff bekommen soll. Wenn ich von groben Wiedergabegeräten ausgeh und darauf schreibe und inszeniere, wird es in feinen Anlagen unerträglich outriert. Im Kofferradio war mir meine Lesart selbst zu schnell, um nicht “zu verhapselt” zu sagen… was ich in der exquisiten Anlage des Deutschlandfunks hörte, war makellos… und als ich es später mit Kopfhörer abhörte, waren mir manche Übergänge immer noch zu grob, die Lesegeschwindigkeit hingegen war g e n a u, wie sie sein mußte, auch die Einbettung in den O-Ton.
      Es geht nicht anders: eine CD-Produktion der Stücke muß her! (In meinem neuen Buch ist ja eine enthalten: die Poetik für Kavita Janice Chohan stimmt völlig.)

    3. wäre ja wohl auch falsch, nur von kofferradio-hörern auszugehen bei der konzeption. 🙂 das ist schon ok so denk ich, besser gehts eben nicht. aber klar: je besser die anlage, umso effektiver. meine ist zwar nicht high-end, aber doch ziemlich brauchbar, und ich habe die geräusche etc . mit großem genuß und detailliert gehört … die geschwindigkeit ist passend, im hinblick auf die situation dort und auf unser beschleunigtes (er)leben generell …

    4. Ich hatte vorabends einen Sekt besorgt. Den wir beim Abhören tranken. Es ist immer die gleiche – und gute – Geste. Ich hatte das, was Du vermißt, über die verschobene Skepsis meines Redakteurs. Meines, ja. Notat im Skizzenbücherl dazu (noch am 19.7.): Zenke. Ja. Anderer Meinung bisweilen als ich. Aber k l a r. “Er ist recht”, hätte meine Großmutter (“Omi”) gesagt. Worauf es ankommt.

    5. Selten so viele Reaktionen. “Sonst” gehen die Dinger in den Äther und sind weg. Das Weblog wird zu einer Art Archiv. Jetzt hätte ich das Stück hier gerne integriert. Dazu reicht die Technologie noch nicht. Aber das wird kommen.
      (Ich hab keinen Grund zu klagen: Wer bekommt schon Feature-Texte als Buch? Ich.)

    6. Auch vor 18 000 Menschen spiele ich,
      als ob nur einer vor mir säße und 17 999 hörten zufällig mit.
      Mstislaw Leopoldowitsch Rostropowitsch

    7. DA s i s t der ideale Leser. “Die” ideale “Leserin”.

      Der Begriff ist eine Arbeitsvorstellung. Ich habe das Gefühl für einen Leser. Der ist irgendwie in mir. Ich selbst bin es aber nicht, – läse ich mir selbst meine eigenen Texte vor, wäre ich sicher bald gelangweilt. Andererseits schreibe ich gerade so, daß ich mich auf keinen Fall langweilen würde. Eine komische Form von Spagat.

    8. mir geht es vor allem um “Catania”, zum einen wegen der in diesem weblog wiedergegebenen “entstehungschronologie”, zum andern natürlich aus bio-geographischen gründen. wenn es Ihnen dann nichts ausmacht, meine adresse haben Sie. Dank im voraus!

    1. mich stört das wort “gegenteil”, weil sachlich nicht korrekt: sprache ist sprache. wenn, dann sind hier zwei extreme der sprachbenutzung gemeint, ohne daß abstufungen zugelassen werden. klar ist mir allerdings, was gemeint ist, und fast scheint es mir überflüssig, diesen sachverhalt überhaupt zu diskutieren. das durchblättern der beiträge hilft mir nicht weiter, und der zur diskussion gestellte satz bezieht sich auf den anfänglichen brief… indirekt aber doch, pardon! mir kamen QUENEAUs Stilübungen in den sinn.
      noch etwas: das die beiden sphären des sprachgebrauchs einander ausschließende wort “gegenteil” (wenn’s dunkel ist, kann’s schließlich nicht hell sein) führt zu Ihrer LEEREN MITTE! (ich hab’s gelesen, äußere mich aber dazu nicht, der text muß sich noch setzen (sitz! text! (aber doch zumindest flockenbildung im kopf (wie heißt doch gleich der entsprechende andenken-nippes?))): ihr gedanken- und assoziationskosmos liegt meinem sehr fern, so daß ich zumindest mit Ihrer fiction meine schwierigkeiten habe (die rede ist wohl vom faktor der zumindest partiellen identifikation (mit dem text))).

    2. “Sprache ist Sprache”. Nur dann, wenn außersprachlich argumentiert wird. Innerhalb “der” Sprache gib es sehr wohl Gegensätze und “Gegenteile”. Benjamin hat darauf sehr eingehend hingewiesen, denken Sie an die Erkenntnistheoretische Vorrede seines Trauerspiel-Buches.

      Mit der “Identifikation” hatte selbst ich meine Schwierigkeiten, was ich ja auch notierte. Aber wie immer bin ich der Bewegung des Textes gefolgt.

    3. Schneekugel. Hitler. In Syberbergs großartigem Hitlerfilm – einem der wenigen (geglückten) Versuche, sich für die deutsche Geschichte auf G e f ü h l e, namentlich Trauer einzulassen – spielt der “Andenken-Nippes” eine überaus zentrale, leitmotivische Rolle. Deshalb sollte vorsichtig mit Abwertungen sein, wer den Dingen und Geschehen n a h e kommen will. Ohne Nähe aber ist alles n i c h t s. Auch d a s meint Röhrs Ausdruck von der Sprache als einem Instrument der Informationsübermittlung. Benjamin, um das noch nachzutragen, unterschied (sprachreligiös) zwischen Namens- und Begriffsanteil eines Wortes.

      (Leider habe ich Syberbergs Drehbuch nicht hier in der “Kinder”- sondern drüben in der Arbeitswohnung. Deshalb kann ich nicht zitieren. Aber vielleicht hole ich das am Montag nach.)

    4. danke dafür, daß der nippes nun einen namen hat! bei “Etna” fällt mir nur und immer unsere hochzeitsreise in einem april ein: steifgefrorene ohren! und von den ohren geht’s schnurstracks wieder zu diesem ominösen, mich beunruhigenden beckett, namentlich zu seinem “Namenlosen”, den ich soooo langsam lese, weil er nämlich (vgl. namentlich) nicht spannend ist, sondern stets mit überraschenden sätzen lauert, daß ich gar nicht erst wage, die straßen der lektüre rasch zurückzulegen (also, ich fürchte mich vor diesem text (ob’s jemandem noch so geht bei anderen texten?))! also: “Ihm ist ein Kopf entsprossen, vom Ohr aus, damit er leichter rasend werden kann, das muß es sein. Der Kopf ist da, er klebt am Ohr, voll von lauter Raserei, das ist alles, worauf es ankommt, im Moment.” – assoziation: “Der Rasende Roland” – auch so eine riesenfiktion! – also gut, was wollte ich sagen: ich stelle mich gern auf den kopf!
      — “aber wie immer, bin ich der Bewegung des Textes gefolgt” — das SOLLEN/MÜSSEN/DÜRFEN/KÖNNEN und MÖCHTEN Sie ja (hoffentlich)! völlig außer frage! leider ist mir BENJAMINs text nicht bekannt, ich wehre mich nur gegen den von Ihnen zitierten satz aus den genannten gründen. dennoch liegt wohl allem schreiben meines erachtens zunächst die (wie auch immer geartete und entstandene) welt des autors zugrunde, dann kommt die welt des lesers (und das haben Sie eigentlich schon an anderer stelle in diesem weblog sehr schön ausgeführt). diese beiden welten müssen sich treffen, sofern sie es denn wollen. wir befinden uns in derselben sphäre, das ist mal sicher, vielleicht aber in verschiedenen hemi-sphären. (o je, auch das hirn hat verschiedene sphären… kann nicht einer mal die alles versöhnende sphärenmusik einschalten (die dann wahrscheinlich wieder als gleichmachend diskriminiert wird (man muß sich eben nicht gleichmachen lassen! (so nebenbei’s von mir, die sich an Ihn (= mein Er (“mein Er, was er wolle, mir wurscht”)) richten)))) und wie bring ich das jetzt auf einen nenner??
      “Soon her eye fell on a little glass box that was lying under the table: she opened it, and found in it a very small cake, on which the words “EAT ME” were beautifully marked in currants. “Well, I’ll eat it,” said Alice, “and if it makes me grow larger, I can reach the key; and if it makes me grow smaller, I can creep under the door: so either way I’ll get into the garden, and I don’t care which happens!”
      LEWIS CARROLL: Alice in Wonderland

    5. ich fürchte, ich habe von all dem NICHTS verstanden! egal, ich kopiere indes den vorbereiteten text:

      “Namens- und Begriffsanteil” – darunter würde ich verstehen: namensanteil = das evozierende außersprachliche (aber eben doch mit sprachlichen mitteln evozierte) / begriffsanteil = der informierende anteil der Sprache, die Definition dessen, was konventionell gemeint und verstanden sein bzw. werden soll.
      fazit: sprache ist ein sprachimmanentes beziehungssystem für eminent außersprachliches… (hoffentlich klingt das jetzt nicht zu abenteuerlich!), denn alles, was sprache wiedergibt, liegt außer ihr.

      zur strafe für diese Ihre zumutung, werde ich gleich noch GOETHE bemühen.

    6. alles blättern half nichts (wie immer, wenn man sucht (es ist einfacher, etwas zu finden)), ich mußte es von meiner alten HP fischen, dem es als motto vorangestellt war:

      “Weit und schön ist die Welt, doch o wie dank ich dem Himmel / Daß ein Gärtchen beschränkt, zierlich mein eigen gehört. / Bringet mich wieder nach Hause! was hat ein Gärtner zu reisen? / Ehre bringt’s ihm und Glück, wenn er sein Gärtchen versorgt.”

      J.W. GOETHE: Venetianische Epigramme)

    7. Ein langes Wort zu Beckett. Etwas Autobiografie. Ich halte mich von ihm – wie auch von Kafka – fern. Beider Einfluß ist für nachfolgende Dichter so tödlich wie die Ästhetik Anton Weberns für die musikalische Komposition. Es kann danach nur Schweigen folgen – oder der repetierende Kniefall, der sich als höchst schales Epigonentum äußert.

      Dennoch waren beide (und Webern, und der blieb es, denn ich schreibe ja keine Musik) für mich von Bedeutung, in meiner spätern Jugend nämlich, die ich mit Außenseitertum, daraus folgenden Größenfantasien, Hunderten geschriebener, schlechter Manuskriptseiten und unerträglich permanentem Liebeskummer verbrachte… ziemlich geeignet, sich die Genannten ins Poesiealbum eintragen zu lassen. Es war interessanterweise der Einfluß Gustav Mahlers, dann Jean Pauls und schnell schon Nietzsches, über die auch noch das wirklich ungeheure Lese-Erlebnis von Aragons „Blanche ou l’oublie“ (in der deutschen Übersetzung Lydia Babilas) wie Tropensonne fiel. (Unfaßbar: Ich habe die Tür aufgemacht. Zwischen dem Bildschirm und mir hat sich etwas bewegt. Eine Frau.– 1967!) Und ich begriff unmittelbar, daß Beckett und Kafka nicht taugten. Weil sie Endpunkte sind, über die hinaus keine Steigerung gedacht werden kann. Daß sie alles, was ich bis dahin geschrieben hatte, schlecht gemacht hatten (außer der Kark-Jonas-Erzählung, die – freilich stark bearbeitet – über 25 Jahre nach ihrer Entstehung im Wolpertinger-Roman endlich ihre publizierte Heimat fand). Ich habe seither kaum wieder in ihre Bücher geschaut und möchte das auch nicht mehr tun, sondern meiner Erinnerung trauen. Denke ich an die beiden, füllt mich nahezu sofort ein Geruch von Negativität, die mir seit damals gründlich widerstrebt. Ich lebe geradezu rasend gerne, mir gefällt die Vorstellung von Zukunft, und der große Einfluß, den Adorno später über mich bekam (vor allem seiner musikphilosophischen Schriften wegen) war stets von „Geist über den Wassern“ geläutert: Der Bub, der nachts aus dem Bett kriecht und hinunterschleicht, um sich hockend im Türschatten zu verbergen, denn er will den Geige spielenden Eltern lauschen. So hab ich das in der Erinnerung (ich selbst war immer nur runtergeschlichen, um schlechten Krimiserien zuzuhören).
      Es geschah nach meiner Abkehr (ja, ich bin ein Apostat!) schlagartig mehreres: Ich holte das Abitur nach, hatte (sexuell gesehen) die ersten Geliebten, löste mich von meinem Familiennamen, ich schrieb Schlag auf Schlag „Marlboro“, die frühe Fassung der „Orgelpfeifen“, „Die Verwirrung des Gemüts“. Lernte Vostell kennen, Stockhausen („Dir muß ich erst mal erklären, was K u n s t ist!“), befreundete mich mit der jungen, kaum faßbar schönen Iris Radisch, die die Jahre und ihre Karriere mir nun zur Feindin haben werden lassen. Ich kam zum ersten Mal aus Deutschland raus. Mein Lebenshunger purzelte und hüpfte geradezu – und hat bis heute nicht damit aufgehört. Mit schweren Depressionen hab ich erst seit meiner Trennung wieder zu ringen, aber das ficht meine Lebens- und eben Schreibhaltung nicht an. Sollte ich jemals Hand an mich legen, was sicher nicht auszuschließen ist, so genau deshalb, weil ich nie zu denen gehören will, die dann d o c h übers Leben klagen… nein, nicht g e g e n das Leben gehen, sondern f ü r das Leben. („Woher nehmen Sie nur Ihren Glauben an das Leben?“ fragte mich noch Christa Bürger, als ich sie und Peter einmal in Bremen besuchte. Damals hatte ich noch kein Kind; heute wüßte ich die – für beide grausame – Antwort genau.)

      Und deshalb rufe ich jedesmal „Kleist!“, wenn jemand sich auf Beckett beruft, deshalb poche ich auf Ishiguros „The Unconsoled“ und Marianne Fritzens „Dessen Sprache du nicht verstehst“, deshalb werfe ich immer wieder Gerd-Peter Eigners wundervollen „Brandig“ in die Diskussionen und Paulus Böhmers Kaddish-Hymnen. Nebenbei: Kafka und Beckett wurden in ihrer Einflußmacht auch von Döblin abgelöst, dem späteren von „Berge, Meere und Giganten“, teils von Hans Henny Jahnn, sowieso von Niebelschütz, von Christa Reinig und…nennte ich jetzt alle, ich käme in Zeitnot wegen der vielen zu legenden Links. Ich erspare mir deshalb j e d e n. Wer suchen w i l l, der findet.

    8. E b e n. und G l ü c k, wenn er sein Gärtchen versorgt.

      [Das war die erste Flasche Äpfelwein seit langem. Zufälle gibt’s! Ausgerechnet in m e i n e r Berliner Straße findet sich ein Geschäft, das das Stöffsche aus Frankfurt “importiert”.]

    9. Sie hindern mich am zubettgehen! Ihre ausführungen haben einiges in mir bewegt. natürlich muß ich meine derzeitige lektüre und meine befindlichkeit nicht rechtfertigen, das wissen Sie. ich habe unwillentlich etwas in Ihnen evoziert, was mich anging. aber das scheint einem so zu gehen beim lesen. das weiß ein schreiber nicht, was ein anderer liest (aus seinem text). dennoch aber glaube ich, mit dem begriff “sphärenmusik” die richtige ader getroffen zu haben. darum geht es. es geht um das spüren der worte, es geht um heil und unheil allzumal. was und wie immer ich etwas lese.
      ich glaube, daß hat viel mit den vätern zu tun! mit den ersatzvätern, die man sich erkürt, weil ein anderer, leiblicher nicht da ist oder nicht akzeptiert wird. weil man nicht verstanden wird von gerade dem, dem man imponieren möchte. (auch ich schweife aus in eigene erlebnisse). also dann diese erdrückenden, einen ganz einnehmenden ersatzväter! bei mir war es arno schmidt. alles mußte ich haben von ihm! [darum amüsierte ich mich dann später bei Boris VIAN über den jean-paul sartre/jean-saul partre (und andere varianten mehr)-sammler im “Schaum der Tage”]. bis ich dann eines tages mein abonnement des “bargfelder boten” kündigte, wobei ich auf den umschlag eine briefmarke klebte, auf der von AUSSÄTZIGEN die rede war. und von schmidt wegzukommen, bedurfte es vieler vieler jahre. (als schmidt-leser war und ist man gänzlich orientiert an einem bestimmten lektüre-kanon: alles andere wird suspekt…).
      meine jetzige beckett-lektüre empfinde ich eher als pflichtlektüre, auch wenn sie mich zutiefst überrascht hat: er fehlte mir einfach. also gänzlich andere prämissen, und ich werde mühelos zu FOUQUÉ’s “Parcival” übergehen können, vielleicht mit derselben art des “unvoreingenommenen” lesens: also durchaus bereit, mich vereinnahmen zu lassen.
      auf jeden fall aber habe ich einen hohen respekt vor Ihren ausführungen :
      wie sehr lektüre zum substrat für die eigene befindlichkeit wird, habe ich selbst am eigenen leibe erfahren. bei mir war es Else LASKER-SCHÜLER, die mir dann wieder zu eigenen worten verhalf. was sie untermalte, läßt sich sogar nachlesen: http://www.geocities.com/aristipp.geo/apfelschuh.htm. und es hat ein fast tragisches ende.
      ich mußte auf diese Ihre ausführungen antworten, weil ich sie durch meine verstreuten zitate evoziert habe.
      (und weil Sie JAHNN erwähnen, der erste schritt fort von schmidt war ein seminar über ihn an der FU, bei dem ich den kennenlernte, den ich im august nun besuchen werde).

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .