Zungenpiercing.

Welch öffentlicher Akt der Devotion, sich die Zunge durchstechen zu lassen! Sie herauszustrecken, jemand faßt die Kugel oder Öse mit den Fingern und zieht… – willentliche Hilflosigkeit, Demonstration eines affirmierten Machtlosen. Und wieder: Biomechanoid. Wie integriere ich das Metall der Maschinen, die uns umgeben, mit mir? So daß ich selbst Teil der (mächtigen) Maschine werde.
(Urgrund j e d e r Affirmation.)

In Thetis gibt es eine Stelle, die den Vorgang realisiert. Sie brachte mir den erbosten Unwillen eines einst befreundeten Redakteurs ein. „So etwas darf man nicht schreiben!“ Seither verkehren wir nicht mehr miteinander.

14 thoughts on “Zungenpiercing.

  1. „So etwas darf man nicht schreiben!“ … nächste schritte wären:

    das darf man nicht denken
    das darf man nicht empfinden
    das darf man nicht fühlen

    und wie lebt dieses massenmedienapparatgeschöpf?
    liest es gerne unter der decke krimis mit der taschenlampe?
    schaut es gerne splattervideos?

    “Empfände ich nicht solch unbändige Lust beim Krimischreiben, hätte ich möglicherweise Lust, Serienkillerin zu werden”
    Patricia Highsmith

    1. Also i c h guck mir Splattervideos tatsächlich bisweilen an. Es lassen sich Zeitzeichen niemals so nackt betrachten wie in schlechtgemachten medialen Wirklichkeiten, – ob es sich nun um Bilder, Romane,auch Gedichte oder eben um Filme handelt.

    2. splatter … mir ging es nicht um den inhalt: krimi oder splatter …
      sondern um die haltung der moralisch andere zur eigenen bigotterie bekehren wollenden lebenslüge … als machthaber/redakteur …

      “immer schön den schönen schein wahren” pflegte meine mutter ihr sagen …
      und: “du schreibst ja nur so, wie du schreibst, weil du mir weh tun willst … soetwas kränkt eine mutter, das hat eine mutter nicht vedient … im tausendjährigen reich wärest du dafür vergast worden”

  2. Heute kann ich es nicht lassen, es ist aber wesentlich bequemer, sich an anderen Gedanken zu reiben, als den eigenen zu folgen. Sofern dadurch also kein Überdruss entsteht, eine neuerliche Anmerkung, diesmal des Widerspruchs:
    Der Umstand des Piercens ist nicht obligat ein Akt der Devotion. Zumindest nicht aus historischer Sicht. Zu Zeiten des römischen Imperiums war z.B. das Brustwarzen-Piercing den Centurionen und übergeordneten Rängen vorbehalten, als Symbol besonderen Mutes und der Stärke. Das Gegenteil willentlicher Hilflosigkeit.
    Zugegeben. Mit diesem Beispiel ist man nicht weit von den Splitterschutzwesten.
    Unstrittig biomechanoid. Aus techno-kultureller Sicht. Aber: auch “primitive” (nicht-mechanisierte) Kulturen piercen. Beispielsweise zum Zwecke der Initiation. (Synonym für Affirmation? Nur wenn man Devotismus unterstellt)
    Auch kann es Versuch sein, sich in einem Kollektiv – zumindest bis zu dem Zeitpunkt, zu dem “Piercing” Merkmal des Großkollektivs wird [da kommen wir sonst wieder zur Initiation] – zu individualisieren. Normwidrigkeit als Ausdruck der Nicht-Affirmation.

    1. Einverstanden. ABER. Rom war eine Soldatengesellschaft, der die Unterwürfigkeit – Zeichen j e d e r militärischen Ordnung – eingebrannt ist. Der modern primitivism wiederum spielt in den westlichen Gesellschaften ganz sicher eine Rolle: Hier haben wir den Regreß (denn wir leben ja eben nicht in einer sog. primitiven Kultur), von dem ich – mich auf Flusser stützend – in meiner “Kleinen Theorie des Literarischen Bloggens” inspirieren ließ, – den Regreß auf gewissermaßen eine “Vorstufe” der neuen, soeben entstehenden Kultur. Das scheint mir außer Frage zu stehen. Parallel damit aber ist SM in den Chic gewandert, die Körper werden nicht nur Modifikationen unterworfen, sondern lernen zugleich, aus verdrängten Traumata Lusterlebnisse zu pressen. Das ist erst möglich durch das Internet, worin sich sonst verschwiegene und verdrängte Bedürfnisse anonym offenbaren können und dann nicht selten zur Erfüllung finden. Ich habe einige solche Erlebnisse hinter mir. (Wenn ich darüber aber schreibe, kommt es nicht nur zu Fällen wie meinem verbotenen Buch, sondern ich werde von Lektoren, Verlegern, Kritikern und sogar Freunden daraufhin nicht selten beschimpft und auch tätig sanktioniert. Es soll nicht wahr sein, was längst wirkt.

      (Wann sagen Sie zu einem potentiellen Liebespartner schon beim Kennenlernen – an der Bar, im Theater, sonstwo -: “Bitte schlag mich nachher”?)

    2. Wann? wenn ich seine lange aufgestaute wut spüre … und die regeln des folgenden möglichen spiels selbst initiieren möchte …

      [vgl. Bibel, Bergpredigt]

    3. “Frauenfeindlich.” Das ist der übliche Vorwurf, dem ich ausgesetzt bin, wenn ich über meine Erfahrungen poetisch publizieren will (deshalb knallten bei DLZI die Random-House-Türen). Sprechen darüber d a r f ich, in engem Kreis. Aber wehe, ich geh damit “hinaus”.
      Ich kann das mittlerweile auch nicht mehr für ein Mißverständnis halten, sondern pinne es unter “Tabubruch” ab. Es wissen weit mehr Leute Bescheid, als sie es zugeben wollen… genau d a s macht dann den vermeintlichen Skandal.

    4. magst dich in guter gesellschaft mit dieser bigotterie nicht weiter belasten …
      mit Karl Kraus kannst du dich vornehmlich vorzüglich zu diesem thema in dialoge begeben

    5. Rom war eine Soldatengesellschaft….

      Unwidersprochen.

      Parallel damit aber ist SM in den Chic gewandert, die Körper werden nicht nur Modifikationen unterworfen…

      Körpermodifikation im Allgemeinen hat Grundsätzlich erst mal nichts mit S/M zu tun. Körpermodifikationen (zu denen außer Piercing auch z.B. Tätowierung, Branding, Kosmetische Chirurgie und Dauerwellen gehören; und manche dieser Techniken sind so alt wie die Menschheit…) sind den verschiedensten Modeströmungen unterworfen, aber sie mit der S/M-Szene zu verknüpfen entbehrt der notwendigen Kausalität. Jede Tussi, die sich mit Silikonkissen zur Muttermilchkuh aufblasen, jeder Bubi der sich ein Tribal auf´s knochige Schulterchen tätowieren, jede Oma die sich in die graue Fettsträhne schwarze Farbe und Locken fixieren lässt, betreiben einen Akt der Körpermodifikation, niemand von denen würde sich in die S/M-Ecke stellen lassen – noch wäre dies gerechtfertigt.

      …ist erst möglich durch das Internet, worin sich sonst verschwiegene und verdrängte Bedürfnisse anonym offenbaren können und dann nicht selten zur Erfüllung finden.

      Ich verstehe den Satz so, dass erst das Internet das Ausleben von S/M-Tendenzen ermöglicht bzw. überproportional fördert. Auch da möchte ich heftig Widersprechen, auch wenn, und gerade deswegen!, die Aussage auf den ersten Blick eine hohe Augenscheinvalidität hat.
      Schon allein die Begrifflichkeit der bestimmten Praktiken – Namensgeber, Marquis de Sade (1740 – 1814) und Leopold Ritter von Sacher-Masoch (1836 –1895) – entkoppelt diese von der Neuzeit oder dem Internet!
      Das Internet fördert gewiss die Bekanntheit und trägt zur Pauperisierung bzw. Pseudo-Popularisierung der Szene bei, aber das Ausleben dieser Bedürfnisse würde auch ohne dieses elektronische Medium stattfinden, so wie schon immer.

      …. ich werde von Lektoren, Verlegern, Kritikern und sogar Freunden daraufhin nicht selten beschimpft und auch tätig sanktioniert. Es soll nicht wahr sein, was längst wirkt.

      Wie gesagt, ob es an der Wirkung des Mediums liegt bezweifle ich persönlich. Was aber mit Sicherheit wirkt ist, dass sehr viele Menschen alleine schon durch die Erwähnung von Sex im Allgemeinen und S/M im Besonderen in leichte Panik geraten. Beschimpfungen sind da nicht verwunderlich. Es soll nicht wahr sein, was man nicht verstehen kann oder verstehen will.

    6. Ich glaube, Sie irren sich. Das Internet hat die Realisierung bis dato zurückgedrängter Fantasien auf eine Weise und in einem Ausmaß befördert, wie sich das sehr viele noch gar nicht klarmachen. Und, um es zu wiederholen, ich weiß genau, wovon ich rede. Auch außerhalb der SM-Bereiche habe ich seit zwei Jahren j e d e Geliebte im Internet kennengelernt, und es waren nicht wenige. Zweimal wurde sogar Liebe daraus, in die die andere Besonderheit solcher Nähen sie wieder zerstörend hineinschlug: die Entfernung, die fürs Netz k e i n e, für die reale Nähe aber j e d e Rolle spielt.

      Daß S/M sich auf zwei Erscheinungen der Vergangenheit bezieht, ist eine Begriffssache. Sogar deren Bedeutungen und Gründe (etwa bei de Sade, der ja Aufklärer war, sogar, wenn man will, “Enzyklopädist”) können sich wandeln, – es wirkt aber weiter. Gegenwärtig stärker als je.

    7. Zungenpiercing Das die Verbreitung und der Einsatz des Mediums “Internet” grundsätzlich Anteil am Zuwachs des Phantasiegeschens hat, oder auch den Nutzern neue Möglichkeiten der Umsetzung zur Hand gibt, ist unstrittig.
      Die Rolle oder Funktion von de Sade ist sicherlich Ansichtsache.
      Die Bedeutung des SM ist jene, welche die einzelnen Ausübenden ihr zuweisen.

      Der Ausgangspunkt war jedoch mein Einwand, dass Piercing kein Akt der Devotion oder Affirmation sein muß – auch wenn es sein kann. Und der Umstand, dass die Verbindung Piercing (und erweitert: Körpermodifikationen)/SM-Szene eine ebenso künstliche ist, wie es die Verbindung Glitterhandtäschchen/Prostituierte wäre.

  3. Die Gepiercten sind (wie die Tätowierten) bereits Teil der Maschine. Manche Redakteure offenbar auch. Sie können nicht ertragen, daß es noch Menschen gibt, die nicht dazugehören.

    1. nicht dazugehören möchten diese anstaltinsassen auch sehnsüchtig gerne …
      aber bittschön mit allen anstaltsgemässen machtbefugnissen und finanziellen und ehrenvollen absicherungen…
      kruzum: sie möchte die henne, das ei und das omelette gleichzeitig

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