20.24 Uhr:
[Schubert, Die Winterreise.]
Sehr melancholisch; ich erzähl weiter unten, warum – … aber daß ich nach zweieinhalb Tagen Literaturwerkstatt zurückkomme, in der wir bis je abends um 23 Uhr Texte durchgekaut und verbessert und daran gemeißelt haben, und dennoch das Gefühl habe, ich müsse endlich wieder arbeiten, so daß ich als allerstes den Laptop aufbaue, um endlich ein paar Zeilen hineinzuformulieren, das ist doch schon sehr bezeichnend.
Wielandgut Oßmannstedt.
Das Niveau der Texte war diesmal bedeutend besser, als ich viele solche Seminare in der Erinnerung habe; entsprechend intensiv wurde diskutiert. Zwei Kollegen hatten mein verbotenes Buch dabei, ich war ganz erstaunt. Also es lebt. Ein gutes Gefühl. Und gestern nacht, noch nach elf, kam die wunderschöne *** vorbei, die nahbei lebt, um mich zu sehen, mit mir zusprechen. Sie blieb in meinem Zimmer über Nacht. Es “geschah” nichts, auch wenn ich es (und sie) genoß, daß alle etwas anderes dachten. Wahrhaftig ein pfiffiges Lehrstück in weiblicher Sexualmoral. *** hat nun einen neuen Freund, unsere Affaire liegt bald zwei Jahre zurück; sehen wollte diese Schönheit mich aber d o c h. Es war gut, sie zu fühlen, als wir nebeneinander einschliefen, da war es schon nach vier. “Findest du es schlimm, wenn ich nachts neben mir einen Mann spüren will?” Welch inniger Satz. Wir hatten vor Wielands Haus unmäßig getrunken, wir alle, mir wäre ohnedies etwas anderes, als zu ruhen, nicht möglich gewesen. Ein paar leise Vorwürfe kamen noch, bevor ich davonsank; sie wehen still in mir nach. Begeisterung für mein Werk – nur das New-York-Buch mag sie nicht -, eine seelenvolle Bewunderung für das, was ich bin oder wofür sie mich hält – und die klare Begenzung: “Du weißt doch, daß wir nicht passen.” In dem wie in so vielem bin ich mir meinerseits nicht sicher. Und doch, da ist mein Junge, und ist, also, seine Mama. Und ist jetzt A.
San Michele.
Auf der Rückfahrt Munthe ausgelesen. Das Buch wird ganz am Ende – wegen einer zunehmenden, mit schmerzhafter Lichtempfindlichkeit verbundenen Erblindung – von einer Traurigkeit geflutet, die sich bereits im ICE völlig auf mich übertragen hat, weil dieses letzte Kapitel ein so vergeblicher und doch berührender Versuch ist, den nahenden Tod zu verklären. D e s h a l b hör ich jetzt Schubert.
Aber wird es mir vergönnt sein, auf San Michele zu bleiben? Der ganze Golf von Neapel liegt wie ein glänzender Spiegel zu meinen Füßen, die Säulen der Pergola, die Loggien und die Kapelle sind von Licht durchflutet. Was soll aus mir werden, wenn ich den Glanz nicht mehr ertragen kann?