8.54 Uhr:
Um eins ins Bett, vor einer halben Stunde erwacht; ich muß anfangen, erneut den Wecker zu benutzen. Aber wohl erst ab Montag, wenn mein Junge zurück bei der Mama und A. wieder in Hamburg sind. Das laissez-faire des neuen Lebensgefühls ist zwar schön, aber drückt auf die Produktivität. Und es ist viel zu tun. Davon wird heute noch nichts Arges zu schaffen sein, ich hab dem Jungen versprochen, mit ihm und A.ins Freibad zu gehen. Aber immerhin doch beschäftigt mich, im nahen Umkreis des Netzes, das mir zunehmend wie eine technische Materialisation der Matrix vorkommt, eine Wendung, die nicht ganz schmerzfrei ist. Ein neuer, intelligenter, dabei dem Netz ausgesprochen aufgeschlossener, ja es ständig nutzender Bekannter teilt mir mit, er wolle auf gar keinen Fall in Den Dschungeln vorkommen, auch nicht zitatweise, auch nicht anonymisiert, auch nicht wegen ästhetischer Belange, über die wir zu diskutieren begonnen hatten; imgrunde ist schon di e s e Bemerkung gegen seinen Willen. Selbstverständlich akzeptiere ich das; andererseits kommt es mir ganz in einer Linie mit der Neuen Moralität vor, die seit etwa fünfzehn Jahren zunehmend Raum gegriffen und – weltpolitisch betrachtet – zu einer Verhärtung der jeweiligen ethischen Systeme geführt hat: auf Liberalisierungen scheinen unmittelbar restriktive Zeiten zu folgen, eine Wellenbewegung der Geschichte, die aber ja dennoch nichts stoppt. Im Gegenteil führt die sich zuschließende Konzentration aufs auch gedanklich-Intime irgendwann zu einer Art Explosion, die dann eine je nächste Liberalisierungswelle einleitet, welche sehr viel weitgehender als die frühere ist. Was sich als Schutz des Einzelnen aufführt und den Einzelnen – sein Privatleben, seine Gedanken, sein Tagesverhalten – tatsächlich auch schützen w i l l, gefährdet ihn schließlich ungleich mehr, als hätte er die Entwicklung gesehen und von sich aus beide Hände geöffnet. Seit gestern nachmittag versuche ich also, diesen Gedanken innerhalb meiner kleinen netztheoretischen Fragmente zu fassen. Denn daß so etwas nun ausgerechnet (und nicht zum ersten Mal) im Internet geschieht – dem Medium der Veröffentlichung zwar meist (noch) anonymer, indessen h ö c h s t privater Befindlichkeiten -, kann ich kaum anders als ein Zeichen begreifen: Als ein Symptom, das vor genau dem zurückschreckt, was der Erschreckte selber betreibt. In diesen Zusammenhang gehören auch die zahllosen Frauen und Männer, deren erotischen Lüsten das Netz oft den geeigneten Partner verschafft (zumindest verschaffen s o l l), die sich aber, ist es gelungen, insoweit ins außermediale Private zurückziehen wollen, als eine Realisierung erreicht ist. Sie halten das Netz offenbar rein für ein Instrument und übersehen, daß es der Boden und Grund dieser Realisierungen, also zu einem wirkmächtigen Faktor ihrer eigenen Ontologie geworden ist. ‘Die Geister, die ich rief’; das Instrument beherrscht schließlich den, der es nicht selber völlig beherrscht. Das nun will keiner wissen; und zwar, ob es auch so sei.
Ich spüre deutlich, ich habe den Instinkt, in solchen privaten Vorkommnissen allgemeinen – gesellschaftlichen – Ursachen nachzuspüren. Das Wort ‘Witterung’ trifft es; ich komme mir manchmal wie ein Netzjäger vor, der eher auf der animalischen denn menschlichen (zivilisierten) Seite steht. Und es ist in der Tat publizistisch heikel, die zivilen Rechte der Betroffenen zu wahren. Ich wahre meine eigenen nicht, das ist das Problem. Wenn andere über mich schreiben, sollen sie das tun, und zwar, was immer sie wollen; nur erwarte ich nachvollziehbare Gründe, sonst wehre ich mich, und zwar meinerseits publizistisch. Aber vielleicht sollte ich insgesamt dazu übergehen, fingierte Namen zu verwenden, auch wenn ziemlich klar ist, daß spätere Germanistengenerationen alles daransetzen werden, sie zu entschüsseln, – ja ein solches Verschlüsselungsunternehmen wird die Exegeten erst so richtig locken. Immer unter der Voraussetzung freilich, daß meine Arbeit nicht in, sagen wir, fünfzig Jahren sang- und klanglos vergessen sein wird. Was möglich ist, und zwar spätestens dann, wenn ich selber nicht mehr mitkämpfen kann, also gestorben oder geistig invalid sein werde, vergreist, inkontinent oder durch Krankheit gebunden. Man kann dem Altern (noch) nicht entkommen; seit dem Italienaufenthalt hab ich jetzt hellstweiße Wellenkämme auf dem dunklen Meer meines Brusthaars. (Meinen Jungen und auch A. entzückte das; es ist eine nicht unangenehme Tarnung von endlicher Zeit. Grausamer hingegen B., der erzählte, er habe nach langer Zeit seine Frau wieder im Badeanzug gesehen und sei bis ins Tiefste erschrocken. Überhaupt beißt bei Frauen das zunehmende Alter sehr viel grausamer zu, weil es bei Männern – vorgeblich, bzw. kulturell motiviert – ‘nicht so drauf ankommt’. Worüber in Den Dschungeln gelegentlich ebenfalls reflektiert werden sollte.)
NACHTRAG.
Längeres mail-Hinundher über Privatheit & Öffentliches; ständig sind meine Gedanken damit beschäftigt;; einzwei Notate darüber ausformuliert. Mit A. und dem Jungen ins Pankow Sommerbad. Auf der Treppe der hohen Rutsche Gedrängel Geschiebe Gedrücke: Jugendliche orientalischer Abstammung, zwischen 14 und 18, zwängen sich lautstark und nicht ohne Gewalt an den Wartenden vorbei. Ich stoppe sie, der junge Mann hinter mir attackiert mich verbal, ich warne ihn. “Was willst du tun”, fragt er, “mich schlagen?” “Wenn du es drauf anlegst, gerne”, sage ich. “Das ist Ausländerfeindlichkeit”, erwidert er. “Wenn du das so siehst”, sage ich. Da fängt er mich zu verhöhnen an, ein paar andere machen, aber vorsichtig, mit. Ich beherrsche meinen Zorn; vorbei an mir kommen sie aber n i c ht. Erst oben lasse ich die Truppe vor. Denn unterdessen haben sich fast zwanzig Mit- und Nachpubertierende zwischen A., den Jungen und mich geschoben, A. hat ihn, wie ich erst nachts erfahre, zum Schutz und weil er zu weinen anfing auf den Arm genommen und trägt ihn die metallenen Treppensprossen hoch. Der Bademeister, der oben an der Speed-Rutsche dafür sorgt, daß die ausgelassenen, tollenden Jugendlichen sich und andere beim Hinunterbrettern nicht verletzen, ist hilflos: “Wir können nichts tun”, sagt er, “wenn wir was sagen, kriegen wir das immer zu hören: Wir seien ausländerfeindlich.”
Darüber dann nachts noch eine kleine Auseinandersetzung mit A. Als sie mir erzählt, Adrian habe geweint, wird meine Wut riesig. Hätte ich das rechtzeitig gewußt, ich hätte die Truppe notfalls mit Gewalt die ganzen zehn Meter Treppe wieder hinabgescheucht. Es ist ein völlig hilfloses Gefühl, nicht gesehen zu haben, daß mein Junge so bedrängt wurde, und ihm nicht geholfen zu haben. Es ist ein noch viel hilfloseres Gefühl zu begreifen, daß diese wahrscheinlich in Deutschland geborenen Ausländer-Jungs ein Spiel mit der vorgeblichen Ausländerfeindlichkeit betreiben und die berechtigte moralische Vorsicht einiger Deutschen ganz offenbar und ziemlich aggressiv zu ihrem Vorteil nutzen. Wodurch Ausländerfeindlichkeit, nunmehr berechtigt, auch in denen entsteht. Etwa in mir gestern nacht. Ganz in derselben Dynamik ein Geschehen vor dreivier Wochen, ebenfalls im Pankowbad. Da drängelte sich eine junge, türkischstämmige Frau an mir vorbei, und auch da stoppte ich das (übrigens, ganz wie gestern, als einziger; es traut sich offenbar sonst keiner). “Mit welchem Recht drängeln Sie sich vor?” hatte ich sie gefragt, und sie antwortete: “Ich darf das, denn ich bin Ausländerin.” Als ich sie dennoch nicht vorbeiließ, fing auch sie an, mich zu verspotten: “I gitt, der hat ja Haare auf dem Rücken.”
A. gestern nacht noch: “Die können nichts dazu, sie sind so erzogen worden.” Nun ja, aber was tun? Es durchgehen lassen?
Und n o c h etwas sehr Unschönes, e i g e n tl i c h Unschönes: Katangas Junge liegt seit Dienstag im Krankenhaus. ‘Unklarer Bauch’. Jeder Arzt sagt etwas anderes, auch nach den verschiedenen Untersuchungen. Heute hat man den Jungen in eine andere Klinik verlegt, ziemlich am Rande Berlins, er soll sehr ängstlich sein, eingeschüchtert, die Ärzte beraten teils in seinem Beisein. Messer oder nicht Messer. Und: Was? Nach mehreren elektronischen und elektromechanischen Diagnoseverfahren habe heute ein wiederneuer Arzt (die Eltern bekommen kaum je zweimal ein- und denselben Mediziner zu sprechen), der nicht einmal in die Untersuchungsmappe geschaut habe, auf reines Abtasten auf “Blinddarm” diagnostiziert. “Am besten gleich raus.” – Ich habe indirekt G. eingeschaltet, dessen Geschwister Ärzte sind. Katanga solle sich heute die gesamte Mappe aushändigen lassen und sie fotokopieren und dann den Oberarzt zu sprechen verlangen. Große Sorge also. Und großer hilfloser Ärger. Man steht mit hängenden Armen da.
ich möchte – hüstelnd – anmerken, dass es grauenhaft verfettende männer im alter gibt. und dass zahlreiche frauen immer schöner werden, je älter sie sind – von sharon stone über madonna über frida kahlo, greta garbo, lea rosh und eva herrmann – die laufen/liefen sich mit vierzig erst warm! und lady diana spencer fing ein jahr vor ihrem unfalltod an, wirklich blendend und schön auszusehen.
*protestiert
**plädiert für eine rubrik „netzmänner“ auf den dschungeln!
Sie haben vollkommen recht. Aber diese Frauen sind rar.
(Daß die meisten Männer mit ihren Körpern dumm umgehen – was Frauen meiner Erfahrung nach selten tun -, ist die e i n e Seite des Problems; sie ist nicht skanalös, sondern eben bloß – dumm. Was ja so ziemlich das Schlimmste ist, was man über ein Geschlecht sagen kann. Die andere Seite jedoch läßt zwar – aus männlicher Sicht – die Garbo und für mich besonders Romy Schneider oder Charlotte Rampling immer schöner, hingegen nicht erotischer werden. Vielleicht liegt das an einem nach wie vor wirkenden genetischen Programm, das uns alle oder doch viele von uns nach wie vor bestimmt. Wobei der Schmerz besonders darin besteht, daß Liebe und erotisches Begehren mit zunehmendem Alter immer weiter auseinanderfallen. Ich spreche aber selbstverständlich aus dieser männlichen, vielleicht auch sehr persönlich-männlichen Sicht. Doch je älter ich werde, desto ungewisser kommt mir dieses „persönlich“ vor.)
Für die Rubrik Netzmänner bin ich a u c h, aber ich kann sie aus offenbaren Gründen nicht führen. Wenn S i e das tun wollen, geb ich Ihnen gerne einen Contributor-Status. Und zwar auch dann, wenn ich selbst darin eine, sagen wir, nicht unproblematische Rolle spielen sollte.
vielen dank für das angebot des contributor-status, aber Sie haben recht, ich würde wahrscheinlich zu oft – und schlecht kaschiert – Ihre einträge in frauenundmaenner co-kommentieren …
romy schneider hatte ich vergessen – ein fabelhaftes beispiel. auch fanny ardant und catherine deneuve. oder isabelle huppert.
aber natürlich gibt es auch gegenbeispiele.
es gibt sogar schöne literaturkritikerinnen. 😉 ich denke da an urslua märz zum beispiel …
Bei Fanny Ardent gehe ich entschieden mit. Isabelle Huppert fand ich hingegen immer potthäßlich; für mich fällt sie aus diesem Kommenarwechsel heraus, weil sie schon als junge Frau (für mich) unansehnlich war. Bei der Deneuve bin ich gespalten; ich kenne einen einzigen Film, in dem sie (für mich) schön war: Belle de Jour. Später wurde sie beeindruckend, was nicht notwendigerweise dasselbe wie schön ist. Interessant daran ist freilich, daß uns vor allem Schauspieler einfallen (übrigens auch bei Männern), die von Berufs halber sehr viel mit ihrem bewußt gestalteten, also inszenierten Aussehen zu tun haben. Was ich nämlich g a r nicht verstehe, also in diesem Zusammenhang, ist Ursula März. Jede Achtung vor ihrer Literaturkenntnis und Intelligenz, und zwar unabhängig davon, daß sie meine Arbeit alles andere als schätzt,- schön aber finde ich diese Frau nun wirklich nicht. Und sie gehört (immer: für m i c h) auch nicht zu jenen – seltenen – Frauen, die häßlich sind, zugleich aber einen so stupenden Eros haben, daß man ihnen verfällt.
Wiederum wegen des Contributor-Status (‚u‘-Deklination?): Co-kommentieren können Sie ja auch s o; es ging meinem Vorschlag um Initiation. Also greifen Sie zu! Ich habe gar nichts dagegen, wenn mich jemand zum Ziel geschlechtsmachistischer Untersuchungen macht. Es wäre, im Gegenteil, amüsant, wahrscheinlich auch erhellend und bei Ihren Beiträgen sicher einige Repliken wert. Denn ich bin mir sicher, daß d i e s e Ärztin ihren Patienten untersucht und ihn nicht bloß, unter Mithilfe einiger Anästhesisten, beschimpft.
Sie meinen feldforschung. nein, beschimpfen würde ich sicherlich nicht.
aber ich bin nie in chats unterwegs – zum beispiel – und da fänden sich sicherlich kundigere leserinnen auf/in den dschungeln. interessant fände ich jedoch ein solches pendant auf Ihrer webseite auch. ja, frauen in die dschungel!
aber wenn ich gelegentlich etwas zu netzmännern beizutragen haben sollte, melde ich mich – kommentierend oder co-kommentierend.
einstweilen habe ich einige der frauen auf anobellas welt eingestellt, und unkorrumpierbar natürlich auch isabelle huppert und ursula märz (das wusste ich allerdings nicht mit ursula märz). leider konnte ich sie nicht alle direkt ins bild bekommen. wenn ich erneut geduld habe, gestalte ich den beitrag etwas schöner.
und ja, wir können uns im netz natürlich nur auf frauen des öffentlichen lebens einigen – woher sollten wir die beispiele sonst hernehmen – aber ich kenne natürlich viele attraktive frauen in meiner umgebung, die nicht in der öffentlichkeit exponiert sind.