MDTEFB, 6. Tag.

Eine der pfiffigsten, auch tolerantesten Wege, sich Klangräumen der Neuen Musik zu nähern, führt auf andere Kontinente, deren Kulturen unseren Begriff der ‚Dissonanz’ nicht oder sehr viel weniger kennen, weil er eigentlich ein über Generationen hinweg aus den Strukturen der tonalen Musik sozialierter Höreindruck ist, also eine Empfindung. Kinder zum Beispiel kennen sie kaum, weshalb man mit ihnen ohne jede innere Sperre im Konzert Wolfgang Rihm hören kann. Je früher damit angefangen, das Ohr also ‚gewöhnt’ wird, umso geringer ist später das Risiko, es sei einem Menschen der Zugang zu etwas versperrt, das ihm doch Lust vermitteln könnte. (Etwa reagieren Kinder sehr viel stärker auf Rhythmik als auf Tonalität.)
Musiken anderer Kulturen kennen oft den ‚klaren’, eindeutigen Ton nicht; viele musizieren in Mehrklängen, etwa Resonanzklängen, die gar nicht angeschlagen und auch nicht notiert werden können. Gleichwohl ist daraus nicht selten eine hohe Musikkultur entwickelt worden, die ganz gleichberechtigt und ebenso komlex neben der unseren steht. Nicht ohne Grund haben einige dieser Kulturen gegen Ende des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts einen großen Einfluß auf europäische Komponisten ausgeübt, die den ‚Vorrat der Tonalität’ für ausgeschöpft hielten und nach neuen Klangmöglichkeiten – denen, literarisch gesehen, neue Möglichkeiten des Erzählens entsprechen – gesucht: nach einer neuen Ausdrucksform. Die Wege der Neuen Musik zu beschreiten, bedeutet: sich neue Ausdrucksformen zu e r h ö r e n.

>>>> Imrat Khan, Ragas. Den Link auf das bestimmte Stück, das mir im Gehör ist, kann ich nicht legen, da ich eine selbst mitgeschnittene Privataufnahme meine. Der hiesige Link führt auf eine unter mehreren Aufnahmen. Aber eine jede erfüllt ihren Zweck und, sowieso, das Ohr.

(Man kann bei dem von mir g e m e i n t e n Stück allerdings völlig außer Atem geraten, und der Herzschlag steigt anders, als bei Aufnahmen, die im Studio, und zwar nicht einmal bewußt, gezähmt worden sind. Meditation und Leidenschaft gehen in jener nämlich in eines, und es kommt auf einen „Vergreifer“ nicht an. Es kann gerade beim Improvisieren dieser „Vergreifer“ s e i n, der dann aufgegriffen und um den herum musikalisch weiterimprovisiert wird. Ganz ähnlich bei einem erzählerischen Einfall, der „eigentlich“ nicht ins Konzept paßt, aber womöglich später gerade die Güte eines Textes begründet – wofern man ihn nicht, gewissermaßen informell, gleich coupiert. Meditation wiederum besagt, wie bei einem Raga so bei der abendländischen Neuen Musik, daß z u g e h ö r t, ja beinah: sich versenkt werden muß. So etwas hört sich nicht ‘nebenbei’. Es geht nicht um Konsum. Man vollführt ja auch den Liebesakt nicht, während man, sagen wir, abwäscht.)

[Dies ist der 1500. Eintrag in Der Dschungel.]

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