Apotheose eines Kusses. Argo. Anderswelt. (168).

Zweierlei nun geschah gleichzeitig: Im realen Stuttgart gab es eine enorme Detonation, dort hatte der Selbstmordattentäter seinen Bombengürtel nämlich gezündet, und das Neue Kunstmuseum blähte sich, schon weithin Asche Schlacke fliegende Trümmer der zweite Nullgrund dieses Jahr, erst die ECONOMIA, dann der Stuttgarter Schloßplatz; in Europa aber, Zentralstadt Buenos Aires, zischte das Gebäude lediglich ein bißchen, kaum hörbar, bevor es einfach mit allem, was drin war, verschwand: mit der Stuttgarter Gesamtdatei, allen Menschen, allen Gebäuden, mit sämtlichen Straßen und Parks und Sandkästen und Abfalleimern und mit Professor Böhm und den avatarischen Ungefugger und Deters. Das überraschte die Porteños denn d o c h einmal, wie vor ihren Augen nicht etwa etwas erstand, sondern WUFF machte es, das Geräusch einer letzten ausbrennenden Gasverdichtung, sie merkten gar nicht, die Bürger, daß auch s i e WUFF machten, es war der Moment des ersten Kusses, sie blieben nämlich – für ihre eigene Wahrnehmung – einfach stehen und da, wo sie waren: Nichts änderte sich für sie, sie gingen ihren normalen Geschäften nach, selbst, plötzlich, das Kunstmuseum war wieder da und alles nur eine Täuschung gewesen, denn nach einiger Zeit, in Wahrheit Wirklichkeit, da waren weitere Teile der Zentralstadt nachgeholt in den Lichtdom, da konnten sie sogar verreisen wieder. Sie merkten auch nicht, wie die Zeitwelle durch Europa jagte und Niam nach Westen warf und Herbst und Zeuner nach Garrafff zurück, und wie diese Welle mit aller Wucht gegen die westliche Mauer schleuderte, die einen feinen Riß davon bekam, ein Krachen erst, das Knistern dann: Haarriß Sollbruchstelle ein fadendünnes, rasendes bifurkierendes Fingern bei Clermont-Ferrand, wo die Lamia wüten würde: in Gestalt der Mutter von draußen, als Tochter von innen wiederum die Argonauten, sie hatten sich quer durch die Weststadt geprügelt geschlagen gebombt, und dann stand Ungefugger da, der leibhaftige, er hatte nichts mehr zu verlieren außer seinem Körper, und er verlor ihn, Jason hob das Schwert, seitlich blitzte die Klinge, erst silbern, dann verschmiert mit Blut. Doch darauf kam es nicht an: denn drüben, so sah noch der fallende Kopf, erhob sich der Lichtdom über der alten zum Nullgrund gewordenen ECONOMIA, doch auch der Rheingraben, der weiterhin hielt, hatte sich unter der Zeitwelle kurz aufgebäumt, als wäre sie unter ihn gefahren, er schäumte, es gab ein Erdzittern in der Gegend um Kehl und um Koblenz, und alles das von diesem einen Kuß, gegenseitig nahmen sie ihre Wangen zwischen die Hände und atmeten durchs Geliebte, oder es rührte das von Stuttgarts Digitalisierung her, wie Sie nun wollen, es kommt auf die Perspektive an, aus welcher Menschen schauen: Es wurde, versichere ich Ihnen, selten ein erstes Mal so intensiv geküßt, hier gelangte nun wirklich einmal Liebe zu Liebe, und das bei solcher Abkunft, ich bitte Sie! der Sohn eines hinkenden weinerlichen Halbgotts und einer monströsen Mandschu, und die Tochter eines Machtmanns, dem der Mord-aus-Raison, nicht etwa einer aus Leidenschaft Gier, in den arktischen Augen saß, und einer primitiv Sentimentalen, die Musicals von Poesie nicht zu unterscheiden wußte und, sobald er herbeilief, jeden pfiffigen Webber für einen Anton Webern nahm, es mußte halt gut klingen. Sie saßen inmitten des Tokyo Towers draußen auf den Gerüsten, sie wußten nicht, daß Jasons Vater hier beschlossen hatte, sich seine Geliebte zu holen zu nehmen, aber immer noch hing projeziert in den Himmel Elena Goltzens Lichtplakat ELLE RECHERCHE VOS COMPÉTENCES* „Schön ist das, oder?“ sagte Jason sie lauschten hinab und hinauf auf Verfolger Martinshörner Sirenen. Aber da waren nur in der Ferne welche und die galten nicht ihnen, sondern den roten laminaren Fahrströmen, den weißen, die sich geschwungen auf ihren Bahnen am Tokyo Tower entlangzogen Richtung Großer Brache Sevilla La Villette Wien zwischen den Kratzern der Europäischen Wolken Widerständen Konsolen Reklamen aus Tönen und Schimmern Nordlichter waren’s, noch ferner das Leuchten vom Rheingraben her, und dann, als er merkte, daß Michaela Ungefugger gar nicht, wie er, hinunter- und hinwegschaute, sondern nur ihn a n, immer nur i h n, Den Stromer Aissasohn Der Wölfin Des Barden, und als sie ihm diese leidige Kapuze vom Haar zog und sagte „sieh mich an!“ und fragte „wer bist du?“, womit sie meinte „bist du es?“, so daß er gar nicht antworten konnte, nicht mit Worten, nur mir diesem bereiten, ergebenen Mund, dem Beben seiner schönen Lippen, auf die Michaela die ihren schmiegte, ganz feucht waren sie, nicht weniger schön und geöffnet, da sengte sich, als sich die Zungen berührten, deren Hunderte Tausende Geschmackswärzchen ein jedes sein anderes suchte unter ihrem und des andren Speichelfilm, vom Schloßplatz aus das Stuttgard weg, es war ein hastiger Schmauchbrand, nicht mal Schreie waren zu hören, denn das ja war der Clou an diesem christlichen Tod: daß kein Porteño, den es hinwegnahm, ihn eigentlich merkte, weder s i e, seine Kybernetisierung, noch e s, das damit verbundene physisches Erlöschen, weil es nämlich die Auferstehung war, die seit Jahrhunderten ersehnte: im Fleische kann man nichts s a g e n, wie im Fleische aber doch. So war Ungefuggers Vision einer gereinigten Welt zur Wahrheit geworden, Schulter an Schulter mit der Dreieinigkeit, ein S t e r n** war der Lichtdom über dem Haupte Mariae, und als sie den Stern sahen, wurden sie von sehr großer Freude erfüllt. Sie gingen in das Haus und sahen das Kind und Maria, seine Mutter, da fielen sie nieder und huldigten ihm.***

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*) >>>> Bunos Aires. Anderswelt, TS 71.
**) >>>> Mariastern.
***) Matth. 2, 10-12.

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