Dienstag, der 13. Dezember 2005.

5.15 Uhr:
Gerade ist der latte macchiato des Morgens fertig.
(Ein Leser schrieb neulich gleichermaßen liebevoll wie spöttisch, latte macchiato sei der meistverwendete Begriff in Der Dschungel; wahrscheinlich hat er recht; wahrscheinlich will mein Unbewußtes erreichen, daß, wann immer jemand bei GOOGLE latte macchiato eingibt, unter den ersten zehn Verweisen einer auf Die Dschungel erscheint – was selbstverständlich lavazza, segafreddo oder eine der anderen großen Produktionsunternehmen registrieren, so daß eines Tages auf den Packungen steht:




AUCH DIE DSCHUNGEL TRINKEN ***** (*BITTE VORAUSSCHAUEND
DEN NAMEN DES SPONSORS EINSETZEN)



Erst um kurz nach fünf aufgestanden, erwacht bereits mit dem Wecker. Aber mir träumte von einer schönen, ewigen Frau, was ein Nachhall Josefinens aus Arsène Lupin war, ganz sicher, den ich gestern nacht als DVD sah. Ich konnte mich von den Zuwendungen dieser dunklen Venus nicht lösen, sie waren kostbar in ihrer Boshaftigkeit und der Überwältigung, der sie sich ergab. Jetzt, während Felix auf mir herumtobt, der sich von dem Verlust seines Bruders wirklich nur sehr sehr langsam erholt, immer wieder überkommen ihn offenbare Zustände der Melancholie, an ARGO gehen. Dann, so im Lauf des Vormittags, muß ich aus dem Wust von ungeöffneten Briefen die Rechnung der Hausratsversicherung suchen, worin der Fahrradschutz enthalten ist, und die Schadensmeldung tippen, vielleicht vorher auch noch bei der VICTORIA anrufen. Es wäre jetzt, glaube ich, das dritte oder sogar vierte Fahrrad, das mir das Unternehmen innerhalb von nur acht Jahren ersetzt. Fahrraddiebstahl begleitet mich, seit ich vierzehn/fünfzehn bin, wie ein running gag. Ich hatte nur Ruhe, als ich, der imgrunde alle Wege mit dem Fahrrad macht, mir ein Fahrrad aus alten rostigen Rädern hatte zusammensetzen lassen, dem man nicht ansah, wie schnell es war. Das hat jetzt Katanga, und das hab ich mir vorübergehend von ihm nun wieder holen müsse. Als mein Junge zwei geworden war und ich einen Kindersitz anmontieren wollte, war mir das Rad zu unsicher geworden, und ich hatte ein neues besorgt. Damit ging die Diebstahlserie prompt weiter.

ARGO also. Von Professor Klaus Klingsporn-Böhm wird soeben erzählt, nachdem Deters gleichzeitig verschiedene Handlungen vollführte, die einander wechselseitig ausschließen, zumal an drei verschiedenen Orten, an denen er zur selben Zeit ist; Böhm wiederum hat seine 22 Probanden dem zu digitalisierenden Stuttgart vorausgeschickt und soeben die Geräte abgeschaltet, die ihre realen Lebensfunktionen erhielten.

6.06 Uhr:
Interessant übrigens, zu >>>> welchen Ergebnissen einer gelangt, der sprachliche Ausdrücke genau abzuklopfen beginnt. Selbst eine instinktive Überreaktion erweist sich dann oft als gerechtfertigt. Man riecht sozusagen den Anschluß, bevor es zu ihm kam.

9.33 Uhr:
Und w i e d e r eine Horrormeldung: Eine vorgebliche Telekom-Nachzahlungsforderung über 865 Euro; ich geh trotz meines spontanen Schreckens mal davon aus, daß es sich abermals um eine ‘Viren-Rechnung’ handelt. Und wenn nicht, wenn also abermals irgend ein Zugangsdatum falsch war und man mich dann trotz meiner Flatrate mit solchen Forderungen überschüttet: nach mir die Sintflut, denk ich jetzt. Hauptsache, ich krieg ARGO noch fertig, alles andere ist so ziemlich egal. Hatte eben, beim Frühstücken, den Gedanken, auf dem Sterbelager zu liegen und zurückzuschauen: Worauf komme es an? Das W e r k geschaffen zu haben, darauf. Ob ich ein guter oder glücklicher Mensch war oder nicht, ist vergleichsweise müßig dagegen. Glücklich zu sein, bedeutet, den Ausgleich zu haben, stillzustehen, zur Ruhe gekommen zu sein. Daraus e n t s t e h t nichts, das ist rein für sich, kommunikationslos fast. Wie der Tod. Das hinterläßt keine Spur. Nicht in anderen, nicht in der Welt als einem Ausdruck der anderen und eines selbst.

12.43 Uhr:
Bin einigermaßen fertig. Kaum hab ich die Versicherungsscheiße wegen des Fahrrads erledigt, stellt sich durch einen Zufall heraus, daß mir die Telekom seit mehr als einem Jahr z w e i DSL-flatrates berechnet und zudem in jeweils dreifacher Höhe der unteredessen gängigen Betrages. Zugleich war die Telekom, als ich mich vor einem Jahr aufgrund des Computerabsturzes mit einer falschen Zugangsnummer einwählte, derweil die flatrate aber weiterlief, nicht bereit, auf dem Wege der Kulanz mit sich verhandeln zu lassen, sondern zog die ganzen knapp 700 Euro, die versehentlich und ohne Mehrleistung der Telekom entstanden waren, unter Zwangsvollstreckungsandrohung ein. Jetzt sagt mit der im übrigen freundliche und selbst etwas schockiert wirkende Verkäufer, ich könne das alles nur schriftlich machen, also auch den zweiten flatrate-Anschluß nur schriftlich kündigen, der nachweislich weder genutzt wird, noch hatte ich ihn je – wozu auch? – bestellt. Ganz offensichtlich ist er seinerzeit von der Telekom eingerichtet worden, als ich die Zugangsnummern zu meinem alten flatrate-Abchluß wiederhaben wollte. Bloß hat es sich, schriftlich etwas mit der Telekom zu versuchen, als ganz sinnlos herausgestellt. Man bekommt nie jemanden Zuständiges zu fassen. Also zum Anwalt den ganzen Müll? Ach, ich habe wirklich keine Lust mehr.
Hier ist ganz furchtbar der Wurm drin.

17.07 Uhr:
Es ist überhaupt nicht leicht, einerseits seine künstlerische Gewißheit zu wahren und zu formulieren und für sie ein-und geradezustehen, ohne zu rücken, und andererseits die Verzweiflung zuzugeben, das Depressive in einem, das eigentlich längst nicht mehr will. Klar vor Augen zu haben, daß ich ein Kind habe, für das ich dasein will und muß, daß mir aber zunehmend die psychischen Kräfte schwinden, was wiederum n i c h t heißt, daß man sich beugt. Daß sich zu beugen aber Woche für Woche von der Ökonomie erzwungen wird. Daß hinter dem allen noch eine gleichermaßen währende wie vergebliche, weil schuldhaft vertane Liebe steht, ohne die auch das Kind gar nicht wäre, wobei selbst dieses ‚schuldhaft’ nicht klar ist, sondern in hohem Maß ambivalent – und möglicherweise wiederholt werden und zu einem abermalig Schuldhaften würde. Daß nicht einmal d a s auszuschließen ist. Und daß man das s i e h t und durchdenkt. Daß es zugleich dem, was man künstlerisch denkt und gestaltet, seinen Wahrheitswert nicht nimmt, auch nicht die Schönheit und das Emphatische mancher Figuren, wenn Kignčrs, etwa, das erste Mal neben Corinna Frieling hockt, und da ist sie tot, und er fragt: „Darf ich?“ und streift, dieser grobe, oft brutale Söldner, ihr einen Ring ab und weint – oder Ansgar, der in den Orgelpfeifen von Flandern begreift, w e n er geliebt hat und wer da wiedergekommen ist zu ihm für diese eine Nacht und der dann endlich trauern kann – oder wie die Mandschuh in Thetis um ihr Schicksal w e i ß und es nimmt und mitten auseinanderbricht schließlich, im Wortsinn, in zwei Hälften, die als Marmor rechts und links auf den Boden knallen und zerspringen… aber wie ist das b e z a hl t! (Und der Freund eben, G., der mir auf eine nächste schlimme Nachricht, ärgerlich sagte: „Jetzt schreib das nicht wieder gleich in dein Weblog!“ Dabei hab ich so sehr das Gefühl, daß dies das einzige ist, was mir gegenwärtig bleibt: Zeugnis abzulegen für und wider mich. So tief zerstritten, wie ich unterdessen bin mit der Welt… nein, der Gesellschaft, mit den Usancen und Regeln…)

20.02 Uhr:
Eben auf dem Weg zum Einkaufen alkoholfreier Biere den Gedanken gehabt, >>>> vielleicht habe woman ja recht, und ich bin wirklich krank. Vielleicht ist dies, wie bei Hölderlin, ein P r e i s? Vielleicht gehört zur Gesundheit, weniger leiden, aber eben auch weniger Lust empfinden zu können? Und weil dem so ist, hat man dann solche Probleme, einander verständlich zu machen.

… n e e, Leute, ich s c h r e i b das hier, und wenn mir hundertfach gesagt wird, das gehöre sich nicht, solche Stimmungen mache man mit sich allein ab… solche Gedanken vor allem, die so etwas – jaja, Sie wissen schon – umkreisen. “Sie verlieren ja jede intellektuelle Grundlage so… jemand, der so etwas tut, k a n n gar keine relevanten Theorien vertreten…” usw. usf. – aber keine hundert Jahre später kauft man sich dann für 280 Millionen Dollar einen van Gogh oder den Autograph eines Herbsts und hat dann gleich doppelt an dem Krieg gewonnen. Und w i e d e r hör ich Hyänen: “Jetzt vergleicht er sich schon mit van Gogh!” etc. es ist wirklich zum Kotzen. Aber hindert mich nicht, es d a r z u s t e l l e n, das innere Brodeln.

Und hab ich eine Lesung und trag ich Euch vor, dann lächle ich wieder und bin aufs wahrste herzlich verbindlich. Ihr scardaneskes Untier