Mittwoch, der 25. Januar 2006.

4.51 Uhr:
Um 4.35 aufgestanden, es ist ganz erstaunlich, wie einfach das funktioniert, wenn man etwas vorhat, das einen zieht oder sagen wir: stützt. Man muß sich nur equilibrierend auf dieses Plateau stellen – ein Surfbrett über die Zeit -, schon tragen einen die Wellenkämme, die ja ü b e r einem sind, voran. Und schon auch ist das Ufer immer zu sehen, man will es gar nicht so früh e r r e i c h e n. Ratz Felix turnt aufgeregt an mir herum, und der latte macchiato dampft, ja: dampft, aber es kommt mir gar nicht mehr so kalt vor; dabei hab ich bei offenem Fenster geschlafen. Bereits um viertel vor vier wachte ich ein erstes Mal auf, von einem Konglomerat aus Träumen, das ich mir zu notieren vornahm, aber jetzt vergessen habe. Nein, eben kam eine Spur zurück: Mein Fahrrad ist mitten entzweigebrochen, aber eine zweite Zwischenstange wurde hineingeschweißt. Ich habe einen Begleiter, der hinten aufsitzen soll, also muß es mein Sohn sein, i s t aber nicht mein Sohn, denn er ist erwachsen und gibt erwachsene Vorschläge, was jetzt zu tun sei. (Mir fällt ein: Ich bin in diesem Traum mein eigener Sohn… ah, ich bin zugleich mein Vater und mein Sohn, wir repräsentieren wechselseitig unsere Rollen). Es liegt Schnee, aber locker, wir kommen aus einem Haus, das ich irgendwoher kenne, und wir wollen über eine flache, typisch vorstädtische Verkehrslandschaft aus sehr breiten, einander kreuzenden, dennoch zubringerartigen Straßen. Da reißt die Kette. Ich seh das Bild vor mir: das gebrochene Kettengliedchen, die obere Hälfte wie mit Macht auseinandergedreht; die Bruchkante ist deutlich zu erkennen. Die Stadt ist nicht Berlin, dessen bin ich mir sicher; welche es aber ist, weiß ich jetzt nicht. (Nun ist es fünf Uhr, jetzt wollte ich ARGO beginnen, aber ich schreib diesen Tagebucheintrag erst mal zuende.) Nun wäre zu interpretieren, symbolisch genug i s t dieser Traum, zu dem aber eben noch andere Träume kamen, die sich wahrscheinlich so ineinander verhakten, daß die einzige Ausflucht das Erwachen war.
Dieses sich-ineinander-Verhaken i s t allerdings schon ARGO: genau so ist die Struktur gebaut, und wenn ich anderswo von >>>> Körnigkeit des Erzählraums schrieb, so scheint mir gerade der Traum ihn zu repräsentieren. Je m e h r Träume nämlich geträumt werden innerhalb derselben Zeit, desto kleiner müssen die Framente sein; schließlich bekommt man ein Pixeln, das nahezu jedes Element mit jedem anderen verbindet, dem Pointillismus ähnlich, der Zusammenhänge über Entfernung herstellt; geht man aber nahe heran an das Bild, dann zerfällt es. Es ist nämlich zwischen den Punkten Raum. Genau so sprach Vilèm Flusser immer über die Konstruktion der modernen Wirklichkeit und nahm statt des Pointillismus die Erscheinung einer im Fernsehgerät ausgestrahlten Sendung.
Metavirulent ist ein Teufelszeug, ich s p ü r e den grippalen Effekt direkt weichen. Ich leg jetzt aber keinen Link, googlen Sie einfach. Dazu scheint die Idee mit den Grogs gut gewesen zu sein; ich nahm echten Rum, so hab ich keine Kopfschmerzen. Und mir ist warm, wirklich warm, obwohl ich nach wie vor nicht heize. (Nachher der dringend nötige Gang unter die Dusche wird allerdings anfangs die Zähne zusammenzubeißen erfordern.)
5.08 Uhr. Ich tauch erst mal ab, lieber Leser, zu Brem und dem Sanften und zu Cordes in seiner Schönhauser Küche; der sanfte Bogen zu Deters’ Erwachen in der Archivdatei ist heut zu schlagen.

[Bianca & Fernanda. Bellini: Damit’s hell wird und sizilisch in mir.]

7.52 Uhr:
[Bellini, La Somnambula.]
Erster Cigarillo.Das wird ein Bellini-Vormittag. Die Szene Brem/Der Sanfte läuft ausgesprochen elegant, der Dialog läuft nur so durch die Finger, jeder Zwischenton, den er vermittelt auch. Dann schrieb ich die Frage „Woher kommst du?“, und ich dachte ans hinterste Osteuropa… fing zu recherchieren an und fand >>>> diese Site. Meinen Brief an Elena Filatova hab ich schon eingestellt, auch die kleine, sich daraufhin entwickelnde Korrespondenz. (Muß mal nach der Zeitverschiebung gucken.)
Dann kam mir ein Einfall. Im heutigen Newsletter werd ich ganz dezidiert nach einem Mäzen fragen, der für ein Jahr die Miete der Arbeitswohnung übernimmt. Das ist ja nicht mehr als 12 x 150 Euro. Die Dunckerstraße ist unterdessen längst ein literarischer Ort, also einer i n Literatur; es wäre absurd, ginge er als Arbeitswohnung noch vor Ende der Anderswelt-Trilogie verloren. Und es wäre sehr wohl ein Akt des literarischen Mäzenismus, ihn zu bewahren. (Eigentlich könnten das auch meine Vermieter tun, incl. Plakette unten am Eingang: HIER BEGINNT DIE ANDERSWELT. Aber ich fürchte, sie verstünden das Schöne daran nicht.) Na, ich werde nachher formulieren und Auszüge aus dem Newsletter dann hier wieder einstellen. Wenn Sie den Newsletter direkt bekommen möchten, dann tragen Sie sich doch bitte bei >>>> herbst & deters fiktionäre entsprechend ein. – So, ich will weiterschreiben, denn noch ist der Bogen in die Archivdatei nicht vollendet. Die wuchernde Flora um Tschernobyl hielt mich, den Erstaunten, auf.

12.11 Uhr:
Ich bin gerade ein wenig gerührt, w e r sich >>>> deshalb hier momentan meldet. Nämlich solche, die selber kaum etwas haben oder die immer schon gaben. Schreibe also Briefe, halte auch hin, weil ich den Tag gerne abwarten möchte. Unterm Strich wäre auch das etwas Enormes: ein Autor, der direkt von seinen Lesern lebt, ohne daß sich alledie Distributionskosten und der kalkulierte Mehrwert dazwischenschieben, die den Kaffeepflanzer ein Tausendstel dessen einnehmen lassen, was das nächste HERTIE davon bekommt. Dies zu beobachten zugleich, also den analytischen Verstand nicht wegzuschalten, ist nicht ganz leicht und hindert mich momentan an der Arbeit. Andererseits ist d i e s e Behinderung von Menschlichkeit bewirkt und insofern gut zu tragen. Off topic hier eine Stelle aus ARGO, die ich einer Leserin bereits mailte und die ich heute sehr früh morgens schrieb, als ich den Entschluß zu diesem speziellen Newsletter noch gar nicht gefaßt hatte. Und weil ich die Leser gerne ehren möchte, die sich jetzt melden, numeriere ich das nicht in ARGO. ANDERSWELT durch.
Der harte Brem trifft auf den Sanften. Es entspinnt sich ein Gespräch. Und unter anderem geht es so:
„Und wie bist du dahingekommen?“ fragte Brem, nachdem er den einen Becher vor Andreas, den anderen an den eigenen Platz gestellt hatte, an dem er nun Platz nahm.
„Ich bin gewandert, ich gucke nicht auf Karten, habe gar keine.“ Er lachte. „Ich geh nach Gefühl.“
„Und mit Gefühl willst du ins Zentrum?“
„Du meinst, das geht nicht.“
„Weißt du, was das Zentrum i s t?“
„Eine Stadt.“
„…und w i e das Zentrum ist?“
„Es ist schwer, weißt du, hier zu überleben. Die Leute haben doch selbst nichts.“
„Junge, ein Rat: Bleib da weg. Wer etwas hat, der gibt nichts. Wer nichts hat, gibt. Das ist ein Gesetz. Wenn du so schön singen kannst, wie du den Eindruck vermittelst, dann brauchen dich die Leute hier sehr viel mehr. Dann gibst du ihnen hier auch was. Dort, sei sicher, merken sie das gar nicht, wenn du gibst.“
„Na ja“, sagte Andreas, „du willst es ja ebenfalls nicht merken. Und du b i s t hier.“
„Ich bin etwas anderes“, sagte Brem. „Ich bin ein Mörder.“


14.14 Uhr:
Bei sperrangelweitem Fenster eine tiefe Stunde lang sehr fest geschlafen und fünf Minuten vorm Weckerklingeln aufgewaht. So ist es ideal. Jetzt eben einen starken Espresso, dann rasieren und unter die Dusche, dann n i c h t an den Kachmir-Text, sondern nun d o c h die Kritik über den >>>> grandiosen Trittico an der Deutschen Oper schreiben; http://Opernnetz.de ist der Kritiker ausgefallen, der eigentlich diese Inszenierung hatte besuchen wollen, und ich meinerseits war ja in ihr drin und hab ein Heft voller Notizen. Damit werd ich den Nachmittag verbringen, dann geht’s >>>> zur Staatsoper Unter den Linden. Damit steht diese zweite Hälfte des Tages unterm Stern des Musiktheaters. Also auf! Der Espresso ist gekippt und die bittersüße Zuckerneige gelöffelt.

16.54 Uhr:
[Puccini, La Rondine.]
>>>> H i e r z u muß ich jetzt etwas schreiben. Meine Art Aufruf scheint jemandem so zu mißhagen, daß sie oder er mir einen Kommentar daruntersetzt, der mich in eine moralische Zwickmühle bringt. Denn löschen darf ich und würde ich ihn nicht, der russische Kollege ist ganz sicher ebenso in Not, es gibt v i e l e Künstler in Not. Aber eben nicht nur im Ausland, sondern auch hier. Unter das Hilfegesuch eines deutschen Künstlers dasjenige eines ausländischen zu setzen, und zwar mit der gesamten Autorität des deutschen PEN-Clubs, bedeutet jedoch, das Hilfegesuch des deutschen Künstlers zu moderieren, es kleiner zu machen – und bewirkt letztlich, daß sich ein Mäzen nicht mehr entscheiden kann, denn einem von beiden tut er ja Unrecht (oder richtig: einem von beiden tut er nicht Gutes), so daß überhaupt nichts geschieht; zumindest wird dem potentiellen Mäzen ein schlechtes Gefühl untergejubelt. Wer immer dieses Posting eingestellt hat, hat es genau darauf angelegt. Lösche ich das Posting aber – den Teufel werde ich tun! -, dann hab ich unmittelbar den moralisch schwärzesten Peter, der sich publizistisch vorstellen läßt. Hinzu kommt, daß der anonyme Kommentator ganz gewiß mitnichten der PEN i s t, aber Uneingeweihten das Gefühl vermittelt, er (sie) s e i der PEN. Das ist düsterste Zwangs-Diplomatie. Und wogegen richtet sie sich? Daß ich mir möglicherweise ein Jahr lang keine Sorge um meine Bleibe machen muß, mit allen Folgen, die das andererseits im Schlepptau hätte. Erzählen Sie mir nicht, liebe Leser, es ginge dem Kommentator nicht darum, mich fortzubringen. Genau das ist das Ziel seines auf den Augenschein so menschlichen Postings.

17.54 Uhr:
Ach! Sie müßten dieses „Amore!“ hören, das – immer noch La Rondine – bei mir soeben die letzte Schallplattenseite, fa s t, beschloß. Denn dann seufzt noch einmal sie, und mit zwei tiefen Streicherakkorden schließt das Stück. Manche Opern haben den nicht fallenden, nein sich senkenden Vorhang einkomponiert. Sie sind Szene bereits im Klang

Arbeitsfortschritt:
ARGO,
bis TS roh 407 (ohne Anhänge, das sind: Entwürfe, Skizzen usw., die mir zwischendurch einfallen und die ich dann einfach immer h i n t e r den Fließtext schreibe, so daß die Pagninierung sie mitaddiert). Korrekturen übertragen bis EF 52.
Kritik über >>>> Il Trittico geschrieben.