Schachtelsätze.

Der Schachtelsatz wehrt sich gegen die Gewalt der behaupteten Einfachheit, die stets moralisch-religiös und meist monotheistisch konnotiert ist; er vertritt dagegen das Vielgestaltige Komplexe. In seiner Form schützt er die zahllosen Einzelnen wie eine mehrfach gefaltete Decke, in deren Schlupfe sie sich nun einschmiegen können, ohne daß irgend ein logischer und/oder dogmatischer Prokrustes sie auf das Bett der Eineindeutigkeit zurechtstutzen könnte. Insofern ist der Schachtelsatz heidnisch: ihm widerstrebt jegliches Dogma, und wie die Wirklichkeit ist er g e f a l t e t, nicht gerichtet. Es geht ihm immer sowohl um Ambivalenz als auch um Beleuchtung der verschiedenen Aspekte eines Inhalts als Substanzen-selbst. Er verneint die Behauptung, es gebe das Akzidentielle, sondern noch das Blatt ist ihm Wesen und nicht Funktion eines Astes; so wenig er diesen für eine Funktion des Baumes durchgehen läßt. Die moralische Botschaft des Schachtelsatzes schützt das Einzelne, wie er es doch zugleich in den Zusammenhang mit allem anderen stellt und es nicht vivisezierend daraus löst. Hiergegen sind der ‚einfache Satz’ und seine ‚einfache Aussage’ das Skalpell, das aus dem Organischen das Organ hinausschneiden will und es damit zu toter Materie macht. Der ‚einfache Satz’ steht für die Äquivalenzform – im Terminus der Ökonomie: für das nur bei Tauschbarkeit funktionierende Geld -, der komplizierte komplexe für die Unaustauschbarkeit. Er emanzipiert seine Inhalte.

[Poetologie.]

(CCCLXXV).

7 thoughts on “Schachtelsätze.

  1. Da mich hier gerade protestierende Emails erreichen… Ganz gewiß ist nicht j e d e r Schachtelsatz gut. Nur daß er schachtelt, genügt nicht und erfüllt, ist er als ästhetisches Gebilde nicht gelungen oder einfach nur verknotet, durchaus nicht, was ich oben formuliert habe. Beginnt er aber, nach meinethalben mehrfachem Lesen, zu s t r a h l e n, dann ist er dem nah. Diese Chance indessen kennt der kurze Satz schon deshalb nicht, weil ihm das eigene Mißlingen nicht so nah an der Haut brennt..

  2. Das Augenmerk lenken möchte ich auf den Umstand, dass die Satzgefüge in den verschiedenen Sprachen durchaus unterschiedliche Grade von Rationalität evozieren. Aus keinem anderen Grund hat Sam Beckett bald nur noch im Französischen gearbeitet. nicht wegen des Klangs, sondern der recht simplen Subjekt-Prädikat-Objekt-Struktur, die seinem Anliegen am nächsten kam. Im Englischen spielte ihm zu viel Bedeutung, subtext, mit. Z.B. war er mit der Übertragung vom “Endspiel” ins Englische nie ganz zufrieden. Die strikte Ökonomie des Französischen fehlte ihm dort (wie auch im Deutschen).

  3. Samuel Beckett Beckett hat es selber gesagt: “Ich habe das Französische gewählt, weil es eine arme Sprache ist”.
    Alles, was Grau sagt ist sehr zutreffend.
    Das Französische ist keine fest akzuentierte Sprache, ein Kieselstein, der vom Meer der Jahrhunderte abgenutzt worden ist. Diese Sprache entsprach genau der Weltanschuung von Samuel Beckett.
    Schachtelsätze findet man aber bei den grössten: Proust und Claude Simon.
    Abgesehen von diesen Ausnahmen, sind die französischen Schriftsteller, eher Moralisten als “natürliche” Romanschriftsteller (Céline inbegriffen).

  4. vielfalt in schachtelsätzen der beschriebenen art kann man sich und seine absichten auch verbergen, dann werden sie tückisch.
    der großartigste schachtelsatz, den ich je gelesen habe, stammt vom vergessenen Krzyzanoski, wahrscheinlich 1918 in Wien geschrieben. er hebt an “wenn uns der zug eines schachspielers …”.
    über jahrzehnte konnte ich ihn auswendig, weil er aus dem schachspiel in einem einzigen, nicht einmal sehr langen, dennoch komplizierten gedankengang eine poetik entwickelt, die der kleistischen verblüffend nahe steht, ohne sich unmittelbar auf sie zu beziehen. ich habe leider nicht nur in unregelmäßigen abständen meine eigenen sachen zerstört sondern in unbändigem selbsthass auch meine nach farben benannten hefte, in denen ich solche blumen sammelte.
    dieser autor lässt sich leider nicht ergoogeln, im reprint der “bücherei des jüngsten tags” stößt man aber auf (unvollständig) weiterführendes. wenn ich mich recht erinnere, fand ich diesen satz, der ganze gedichtbände aufwiegt, in einer ausgabe der “Ernte”, die ich mir damals kostenlos fernausleihen konnte.
    zurück: wer schreibt, versucht seinen sätzen kontur zu geben, nach innen, nach außen, ihnen unterschiedliche geschwindigkeiten, farben, lautstärken zu geben. kein satz darf den anderen auffressen, der kurze steht neben dem langen, das “ach” der Alkmene ist ein anderer ausdruck für “42”.

    “alles reden ist so voller mühe, dass niemand damit zuende kommt”, heißt es im Qohelet. und um die wahrheit dieses satzes komme ich auch nicht mit dialektik herum, obwohl …

  5. Ich danke Ihnen allen für diese schönen Kommentare. Selbstverständlich nimmt das Paralipomenon sehr bewußt eine P a r t e i, die in Zusammenhang mit der gegenwärtigen Diskussion, bzw. Ideologie zu verstehen und eben nicht absolut ist. Lieber vunkenvlug, wer wollte Ihnen bei Alkmenes “Ach” widersprechen? – sicher nicht einer, der in jedem Rosenkavalier hochgradig bangend auf das “jaja” der Marschallin lauscht…

    Was nun Beckett anbelangt, so ist er einerseits nie “mein” Autor gewesen, andererseits verstehe ich sehr wohl seine Dynamik, deren Ästhetik sich völlig berechtigterweise gegen den Schmock absetzt – aber eben dann, Dialektik der Aufklärung, selbst zum Fetisch wurde; ein ähnliches Schicksal, wie es den Theater-Brecht ereilte, den meines Wissens erst der frühe und “mittlere” Syberberg (etwa der des grandiosen Hitler-Films) , indem er ihn mit Bloch und Kleist “kreuzte”, wieder vom ideologischen Sockel erlöste. Ähnliche Entwicklungen waren und sind in der Kunstmusik zu beobachten – über Anton Webern wäre nichts anderes mehr hinausgegangen als das Verstummen. Was nun keine ernsthafte Option sein kann, solange (eben je neue) Menschen noch leiden sowie glücklich sind.

    1. “vor sich hinschachteln” ist. Eine geradezu wunderbare Wendung! Die klau ich Ihnen.

      Daß der von Ihnen zitierte Schachtelsatz unschön, ja monströs häßlich ist, darüber müssen wir alle, denke ich, nicht reden. Schon zweimal aufeinanderfolgende RelativEinschübe – zumal mit demselben Pronomen – sind strikt zu vermeiden, da gibt’s gar nichts. Ich hab das – als Travestie auf Imm. Kant – in >>>> WOLPERTINGER ODER DAS BLAU einmal spöttisch durchgeführt. Hier diese kleine Binnenerzählung als Zitat – und einen Dank an die Computertechnologie, weil sie solches schnelle copy and paste erlaubt. Über die knappe abschließende Formulierung “um es kurz zu machen” quietsche ich heute noch vor Vergnügen.

      Also der damals noch recht junge Hans Deters geht im Intercity auf die Toilette, und nun fängt sein Unglück folgendermaßen a n: Bei betätigter Spülung konnte er in der Toilettenschüssel, so er den Deckel offenhielt, vielleicht anderthalb Meter unter dem Öffnungsrohr den Schotterboden wegrasen sehen. Das forderte ihn heraus. Er stellte sich mit gespreizten Beinen vor den Abort, hatte dabei die Jeans bis auf die Unterschenkel hinabgezogen. Deshalb ließen sich die Oberschenkel nicht weit genug spreizen, um eine dem Schlingern des Zuges gemäße Equilibristik zu gestatten. Egal. Mit einer Hand hielt Hans Deters sein Glied, mit der anderen den Klosettdeckel, der ständig zufallen wollte, weil der Lauscher den linken Fuß gleichzeitig auf den Bodenknopf preßte, der mit dem Spülmechanismus einerseits, der dadurch aufspringenden Bodenverschlußlamelle andererseits, aber vor allem mit dem widerständigen Klodeckel kollaborierte.
      Dergestalt gab Deters seinem Harnlauf grünes Licht und bemühte sich, genau in die Mitte der Bodenröhre zu pinkeln, um noch mit möglichst linerarem Strahl den wegrasenden Schotterboden zu treffen. Das Unternehmen wurde jedoch nicht nur von der anspruchsvollen Grundposition behindert, sondern nachgerade durchs nicht mehr Schlingern, nein: jetzt Wanken des Zuges sabotiert, das an sich bereits konservativeren Pinklern Disziplin abverlangte. Bei einem etwas nachdrücklicheren Rucken – und weil der Zug, vermutlich einer Kurve wegen, sich schräglegte -, verlor Deters den Halt, kippte seitlich zum Fenster, hatte aber die innere Schließmechanik nicht ganz unmittelbar in der Gewalt, infolge welcher nervlich bedingten, wenn auch kurzfristigen Verzögerung ein nur wenig voluminöser, dafür scharfer Strahl sein eigentliches Ziel nicht nur nicht traf, sondern weitab davon gegen die Tür schlug.
      Nach Berücksichtigung erstens des Umstands, daß: Ausfallswinkel = Einfallswinkel, – wie zweitens eines von Deters reflexhaft unternommenen Bewegungsimpulses, dem – so man des jungen Mannes Fallbewegung in einem Kräftediagramm schematisierte – der umgekehrte Durchlaufsinn der aus letzterem folgenden Resultante zueigen war, wird hinreichend klar, daß auch der Urheber der verschossenen Flüssigkeit von Befeuchtung durch dieselbe nicht ganz unbehelligt blieb. Dies hatte einen der Sache durchaus nicht adäquaten, wenn auch analogen zweisilbigen Fluch zur Folge.
      Vorerst war fünferlei nötig: Es mußte nämlich 1) zu innerer Sammlung gerufen werden, die herzustellen Deters qua Beachtung zweier Unterpunkte besorgte: 1.1) kurzfristig überlegen, ob er 1.1.1) die Hose hochziehen oder sich 1.1.2) besser ihrer entledigen solle – denn noch behinderte sie seinen kaum wiedergewonnenen Halt allzu sehr und durfte in Höhe der Unterschenkel nicht bleiben, mußte demnach, wohl oder übel, hinauf oder hinab, – und, nachdem er sich für 1.1.1) entschieden hatte, galt es 1.2), und zwar aus vornehmlich psychologisch-kosmetischen Gründen: nämlich einen Blick in den Spiegel, der ihm 1.2.1) versichern sollte, daß er er noch war, wie er auch 1.2.2) dem Zurechtlegen des Wirrschopfes diente, was ihm zu freilich nicht dauernder Heiterkeit verhalf, zumal der Stoff bereits durchschwemmt war; —– 2) hatte umgehend eine zumindest provisorische Reinigung 2.1) seiner Person und 2.2) seiner Umgebung zu erfolgen, wenngleich auch 2)’ denkbar war, nämlich die Örtlichkeit flüchtigst zu verlassen, und zwar im vorbezeichneten Zustand; allerdings lehnten sich gegen diese Erwägung alle besseren Regungen des Hans Deters’ auf, wenn er auch wußte, daß sie, die auf Hygiene und den Standard eines mit abendländischem Stolz durchdrungenen guten Benimms so beachtlichen Wert legten, letztlich auf pure Sozialisationserfolge sich zurückführen ließen; gleichwohl waren sie es, deretwegen er von 2)’ Abstand nahm; —– 3) war zu überlegen, so das Bisherige Klärung gefunden, also Deters sich für 2) erwärmt hatte, ob 3.1) erst die Person und dann die Räumlichkeit oder 3.2) erst diese, dann jene entsprechenden Prozeduren unterworfen werden sollte, obgleich ja – und dies ist ein zentraler Untersuchungsbereich – gar nicht auszumachen war, unter Zuhilfenahme 4.1) welcher Mittel die Hose ihres erniedrigenden Zustandes enthoben werden könne, während allerdings 4.2) genügend Papiertaschentücher vorrätig waren, um wenigstens 2.2) zur Erledigung zu bringen, so daß 4.2) eine Handlungsentscheidung in Sachen 3) zumindest bezüglich 3.2) erlaubte, und zwar aus den genannten instrumentellen Gründen, —– während nun aber 5) überhaupt gefragt werden muß, inwieweit 5.1) die Betrachtung all dieser Punkte noch mit einer der hinlänglich bekannten Definitionen von “Sinn” gedeckt werden kann, auf deren Nennung wir hier a) der Übersichtlichkeit halber und b) deshalb verzichten, weil sie zum Erfassen vorliegender Problematik recht und billig vorausgesetzt werden dürfen, – und ob 5.2), sofern 5.1) sich positiv entscheiden läßt, davon ausgegangen werden kann, daß sie – die Fragen – einer Abhilfe bezüglich des desolaten Zustands von Kleidung und Versuchsraum entgegenkommen, und hieraus springen zwei Möglichkeiten als intelligibel deutlich ins Auge: nämlich 5.1.1) ein diesbezüglich negatives Urteil (und niemand wundert sich mehr, daß ein solches geradezu existentielle Folgen zeitigte, und zwar, was den gesamten Punkt 2) dieser Deduktion anlangt), weshalb nur noch auf 5.1.2) zu hoffen ist, den positiven Entscheid also des positiven Entscheids,– der jedoch infolge der verwickelten Fragestellung und nebenbei auch aufgrund des inneren wie äußeren Zustandsbildes des Menschen nicht erfolgen k o n n t e, wobei sich das eigentliche Problem durch den Umstand ein weiteres Mal verknotete, daß auch 5.1.1) nicht erfolgte, was wiederum ihren desolaten Zustand nicht zu beheben vermochte, so daß, wenngleich fünferlei nötig war, nicht eines das Experiment zufriedenstellend abschloß und Deters, um es kurz zu machen, nicht wußte, was er tun sollte.
      (Wolpertinger oder Das Blau, Erste Abteilung.)

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