5.03 Uhr:
[Kinderwohnung, Küchentisch.]
Tatsächlich mal wieder auf halb fünf den Wecker gestellt und ihm auch leidlich gefolgt. Guter Dinge, zwar Ω’s in Berlin spürbarer Nähe wegen melancholisch, aber nur halb, und das ist ja mal was. Es sind Verfügungen zu treffen, auch wegen der Sommerferien des Jungen, und ich ging’s gestern an: daß ich das Wort ‚Verfügungen’ verwende, zeigt die objektivierende Richtung. Nein nein, nichts, was S i e damit assoziieren (was assoziieren Sie denn?) – bewahre. Es geht rein um Klarheit.
Sò, etwas mehr als eine Stunde ARGO, dann ist mein Sohn zu wecken, zu befrühstücken, zur Schule zu bringen. Er wollte gestern gar nicht aus Bamberg weg, so verliebt ist er in die Stadt. Er will jetzt Fußballer werden. „Wenn du magst“, sag ich ihm, „dann werd es doch. Mir gefällt das nicht so, aber darauf kommt’s ja nicht an.“ Mit seiner Mama und ihren Freunden scheint er ins WM-Fieber geraten zu sein, weiß Namen von Leuten, die mir restlos uninteressant sind, kennt Mannschaften, ist für Brasilien (wenigstens das). Ich sag nur: „Weißt du, der Papa mag halt keine Fahnen, kümmer dich einfach nicht drum.“ Es irritiert ihn allerdings schon, daß der nationale Taumel restlos an mir vorübergeht; ich spotte ja nicht einmal. Wäre gegenüber einem Kind allerdings auch unangemessen, aber ich spotte auch sonst nicht drüber: imgrunde bin ich nur fassungslos, auf was für ein Medienereignis die Leute hopsen, als merkten sie nicht die Show und Manipulation. Wäre alles drei Stufen tiefergehängt, fänd ich’s sogar nett; und als ich in einer Kneipe ein Spiel mit ansah, vor drei Tagen, glaub ich, fand ich’s sogar ein wenig spannend. Doch dieser Corpsgeist, mit wem nun auch immer, schafft mir schale, leere Gefühle – ob für Deutschland, ob für Argentinien, das ist zweitrangig, Nationalismus herrscht hier wie da: wir sind im Fußball völkische Herdentiere. W e n n ich Parteigefühle bekomme, dann für AußenseiterLänder, denen ein wenig Selbstbewußtsein nicht schaden könnte – sowas wie Trinidad & Tobago oder dieses kleine afrikanische Land vom letzten Mal. Für die Riesen ist alles NationenRaison. Wie erwachsene Menschen das nicht kapieren können, sondern rennen mit den deutschen Farben im Gesicht herum, haben Flaggen an den Autos, Flaggen auf den T-Shirts, und können nicht kapieren, was für ein Macht- und Geldspiel eigentlich hier gespielt wird, ist mir schleierhaft. Ich denke auch besser nicht drüber nach, sonst bekommt es etwas Bedrückendes. Ohne meinen Sohn wäre das alles auch leidlich an mir vorübergegangen: jetzt aber will er seine Judo-Ausbildung stecken und statt dessen in den Schulfußballverein.
Was mein Junge natürlich nicht sehen kann: wie die Medien der Riefenstahl-Ästhetik angeschlankt sind, wie dieselben Leute, die Leni Riefenstahl ihr Faschistoides vorwerfen, nunmehr den faschistoiden Kamerablick verwenden – und daß offenbar kaum ein Aas das merkt.Wäre i c h Regisseur, ich cuttete in die Übertagungen jeweils Bilder aus den Ländern: unsere Obdachlosen, die dortigen Slums (Brasilien usw), Fabriken, dann vor allem: Bilder von militärischen Anlagen, von Waffen. Das immer mal wieder über die Übertragung montiert. Oder Dokumentationen über nationale Aufmärsche. Es würde einiges klar.
Jedenfalls war mein Junge ein wenig irritiert, daß es bei mir gar keinen Fußball gab, daß ich auch nicht mit ihm Fußball spielen mochte. „Ist ein bißchen v i e l Fußball im Moment“, sagte ich, „frag doch deine Freunde.“ Was er dann tat. Und so ist’s okay. Stattdessen hat er mit mir den Fluß durchschwommen, war er mit mir in dem Orgelkonzert und spielte mit meiner Nachbarin auf ihrem Konzertflügel. Die andere Welt.
7.15 Uhr:
[für meinen Jungen: Paolo Conte.]
Plötzlich hast Du Bauchschmerzen, guckst ganz ernst. Magst nicht zur Schule, obwohl Du doch Deinen großen Erfolg (das schwerste Einstern-Heft gestern fertiggebracht) genießen wolltest. Erst sag ich Dir: Willst es mit der Schule nicht erstmal probieren, Deine Lehrerin kann Dich ja abholen, wenn es nicht geht. Dann seh ich, daß sich Dein Schmerz noch verkrampft. Jedenfalls hast Du Dich jetzt wieder hingelegt, und ich beobachte. Ich bin mir unsicher, ob Du organische, oder psychosomatische Bauchschmerzen hast: Was Du von dem ‚Neuen’ und daß Du es mir erzählt hast, auch daß ich nachgefragt habe, hat Dich spürbar belastet; und es belastet Dich ebenfalls die sich nun auch in den verschiedenen Städten objektivierende Trennung, daß Du einerseits gern zur Mama, andererseits gar nicht mehr aus Bamberg wegwillst; hast ja gestern fast geweint, als wir aufbrechen mußten. Und hattest im Zug den ersten kleinen Bauchschmerz-Anfall. Vielleicht merkst Du auch, daß sich Dein Papa langsam umorientiert, nachdem, was derart nach Zusammenwachsen aussah und auf was wir beide so sehr hofften, derart unversehens und hart wieder kaputtging. Daß es keine Möglichkeit mehr zu geben scheint, das Ruder noch einmal herumzudrehen. Vielleicht spürst Du auch das existentielle Ausmaß der juristischen Aueinandersetzung, in die ich nun wieder gezwungen worden bin. Und Du spürst möglicherweise, daß ich eine andere Frau kennenlernte, die mir mehr als gefällt. Es ist ja ohnedies ein Wunder, mit welcher Lebenslust Du bislang alle Ambivalenz ausgehalten und getragen hast, die Dich in Deiner gleichen tiefen Liebe zu Mama und Papa eigentlich längst geschädigt haben könnte – und es nicht hat. Aus der Kraft, die in Dir ist. Wegen dieses Ja’s zum Leben.
Ich bin Dir nah mit Deinem Bauchschmerz. Es war meine Weise auch als Kind und hielt sich bis ins späte Erwachsenenleben, wenn etwas nicht weiterging, wenn etwas quälte, das sich anders nicht austragen ließ. Auch ich, mein Junge, habe immer so reagiert; andere Krankheiten hatte ich kaum. Aber die. Und möchte es Dir so gern ersparen. Aber kann es nicht. Kann es Dir nur etwas leichter machen, vielleicht. Durch Gegenwart.
(Einmal mußte ich wegen einer BauchschmerzAttacke ins Krankenhaus, da war ich ungefähr dreizehn. Meine Mutter packte meine Sachen und ließ mich dann alleim ins Krankenhaus gehen. Sie hatte ja Patienten, denen sagt man wegen eines elenden Kindes nicht ab. Ich verspreche Dir, daß weder Deine Mama noch ich selbst jemals derart mitleidlos sein werden.)
11.48 Uhr:Dieser Junge ist so was von erstaunlich! Erst schläft er noch eine Stunde, ich spicke immer mal wieder hoch. Dann wacht er auf und möchte gerne Salzstangen haben. Geh ich also welche kaufen und setze zugleich Kamillentee auf, misch ihn mit etwas Zucker und kaltem Wasser, er kostet, sagt: „Kamillentee ist mein Lieblingstee, Papa.“ Und stopft die Salzstangen durch seine riesige Zahnlücke oben, wo die Milchzähne ausgefallen sind und die neuen noch nicht einmal einen Weiß.Anflug zeigen. Seine Bauschmerzen sind ganz offensichtlich genau so weg wie die Zähne, aber er will sie noch ein wenig behalten. Ich laß sie ihm auch, klettre zu ihm aufs Bett, er hat zu lesen angefangen, also zu blättern. Er sieht mich an, lächelt, streckt die rechte Hand aus und streichelt meinen Schädel. „Was liest du? Ah, das Buch von der Mama!“ Ich lege mich lang. Da beginnt er mir vorzulesen, ich richte mich auf, er lehnt sich an mich, liest weiter. Und liest das gesamte Buch vor. „Oh“, sagte er, „ich hab ja das ganze Buch gelesen!“ „Ist das das erste Buch, das du ganz allien gelesen hast, von vorne bis hinten?“ „Ja“, sagt er und strahlt. Ich sag: „Das schreibe ich jetzt da hinein, neben die Widmung von der Mama.“ Er strahlt. Ich klettre runter, schreibe bereits, da hör ich ihn: „Wo ist meine Unterhose, Papa?“ „Wie, du willst aufstehen?“ „Ich geh jetzt zur Schule, Papa“, sagt er. Ich: „Das find ich ja nun klasse! Ey, sind die Bauchschmerzen wirklich weg?“ „Fast weg, Papa. Ein bißchen hab ich noch. Aber das ist egal.“ „Du bist fantastisch, Junior! Du hast ja keine Ahnung, wie stolz ich auf dich bin.“ Er strahlt, hat wieder Farbe, will seinen Einstern- und Leseerfolg in die Schule tragen. „Soll ich dir das Buch für die Mama mitgeben? Dann kannst du es ihr ebenfalls vorlesen, dann hat auch sie was davon.“
So schieben wir denn ab, die restlichen Salzstangen pack ich ihm ein. Zum Arbeiten, freilich, bin ich bislang nicht gekommen. Aber was soll’s? Der kleine Bursche ist wieder auf dem Damm. Er hat’s gebraucht, daß man sich um ihn kümmert, einfach da ist, auch außer der genormten Zeit. Und ich denke: bei so vielem war i c h dabei, als er es das erste Mal schaffte: beim Fahrradfahren, bei dem ersten gezogenen Zahn, als er seinen Freischwimmer machte, bei seinem ersten Judo-Turnier (das ich gegen die Turnierleitung durchfechten mußte, weil er nach der Satzung zu jung dafür war; ich nahm das Risiko auf meine Kappe), sogar bei seiner ersten Wiese. Vatergeschenke sind das. Und wenn Sie jetzt glauben, so etwas gehöre nicht in ein Literarisches Werk, so irren Sie sich: gerade bei einer Arbeit wie der meinen, die zur Abstraktion, zum Schwierigen, zum sprachlichen Experiment und, sowieso, zum Tabubruch neigt, gibt es nichts Wichtigeres als Erdung.13.37 Uhr:
Man soll sich niemals freuen, b e v o r etwas war, niemals sich a u f etwas freuen. Aber mir gelingt das nicht. So bin ich nun ziemlich desorientiert. Das ist die Kehrseite der intensiven Lebenshaltung.
Hatte mich zum Schlafen hingelegt, träumte wohl auch, da kommt der Anruf und sagt, mit verständlichen Gründen, keine Frage, etwas ab, das mir sehr wichtig war. Sagt etwas vorübergehend ab, verschiebt eigentlich nur, aber locker. Ich weiß sofort, es wird eine Distanz entstehen, die ungut ist. Will und kann aber nicht drängen. Bin hilflos. Entdecke, daß der Junge sein Schmusetier hier vergessen hat und werd jetzt schnell zur Schule gehen, um es ihm zu bringen. Um wenigstens irgendwas Sinnvolles zu tun. Weiterschlafen kann ich nicht, arbeiten geht momentan ebensowenig. Manchmal ist man solch eine aufgerissene Haut.
15.21 Uhr:
Ich könnte gerade die Wände hochgehen!
Und auf alles noch d a s als vergorenes Sahnehäubchen: Bring ich also den Stoffhund in die Schule, frage nach meinem Jungen. Da sagt die Erzieherin, die im Garten Aufsicht führt, seine Mama sei gerade da, vielleicht holten die beiden noch eben die Griffelmappe aus dem Klassenzimmer. Bei mir spontan Panik, wirklich ärgerlich ist das: s i e will mich ja nicht sehen nicht sprechen. Dennoch leg ich das Schmusetier draußen auf Adrians Sportzeug, das ich sofort erkenne, und mach mich vom Acker. Schreib noch schnell eine SMS, wo der ‚Hundi’ liege und gehe im weiten Bogen um jede Berührungsmöglichkeit herum. Dann denk ich: wie feige! du hast doch überhaupt nichts getan, wofür du dich schuldig fühlen müßtest – und fange mich innerlich erst richtig zu verkrampfen an. Ah! und bin sauer auf mich selbst, bin obendrein nervös wegen der Absage vorhin, rufe diese Frau dann aus einem spontanen Entschluß heraus nochmal an (wiewohl die innere Stimme w a r n t: nicht drängen! nicht drängen!), erreiche sie auch, schlage vor, heute abend essen zu gehen, ich setzte mich sofort in den Zug, käme dann und dann an – klar, ich hab’s ja gewußt: Spontaneität ist m e i n e Sache und so gut wie nie die der andren. „Warum zerrt ihr eigentlich alle an mir rum?“ fragt sie und hat wahrscheinlich nicht einmal unrecht. Andererseits, was ist so schwer daran?: sehen wissen dasein. – Nun fahr ich um sieben mit dem Profi an den Wannsee.
Können Sie mir mal sagen, wie ich jetzt arbeiten soll? Das hat mich seit meiner Kindheit begleitet: die literarische wie jede andere Arbeit war niemals Sublimation, sondern floß immer aus dem befeuerten Glück – oder aus dem Leid. Beides gleichermaßen. Und immer aus der Einfühlung. Dabei alles gleichermaßen intensiv. Es ist eine seltsame Last, niemals halbe Gefühle zu haben, niemals moderat vor sich hinleben zu können, noch auch, als Folge, das zu wollen. Sondern immer sofort zu wissen: ICH WILL oder ICH WILL NICHT. Dazwischen gibt es, bis heute, für mich nichts. Was freilich nicht heißt, daß ich nicht bisweilen mehreres zugleich will, das einander auch ausschließen kann und dann ganz besondere Probleme bereitet.
Und als ich in der Kinderwohnung ankomme, vermeldet mein Mobilchen, die SMS wegen Adrians Stofftier habe nicht zugestellt werden können. Na toll.
(Nett wiederum: Das >>>> Börsenblatt vom 14. 6., zusammengefaßt vom Perlentaucher, weist auf Die Dschungel hin. Ich stell mir grad neue Leser vor, wie irritiert die dieses Tagebuch lesen… Ob ich heut wohl noch etwas anderes hinbekomme außer diesem länger und länger werdenden Persönlichen?)
18.20 Uhr:
(Ja, bekomme ich hin: Wutanfälle. Außerdem fang ich jetzt schon n a c h m i t t a g s an, Bier zu trinken. Ich werd den Profi betrunken erreichen. Überhaupt nichts gegessen. Mir ist nicht nach Essen.)
Nichts getan, so gut wie gar nichts getan. Ich >>>> wüte bloß >>>> schriftlich vor mich hin. Und wollt’ doch nichts als umarmen. (Dabei beobachte ich mich, notiere, jeden Ausfall fixiere ich: wie einen Probanden nehm ich mich wahr, Fallstudie, könnte man sagen, aus der dann wieder, wenn ich sie in einer Geschichte brauche, die Psychodynamik destilliert wird. Interessant, daß ich niemals so weit gehe, wenn mein Kind bei mir ist. Wenn Du das eines Tages lesen wirst, erfährst Du mehr von Deinem Vater als irgend ein anderer Junge. Aber bis dahin werden noch einige Jahre vergehen, und es ist sehr wahrscheinlich, daß auch gegen Die Dschungel, um sie wegzukriegen wie das verbotene Buch, bald schon oder eines etwas ferneren Tages scharf Front gemacht werden wird. Ich sitz schon in den Startlöchern und warte.)