Arbeitsjournal. Dienstag, der 5. September 2006.

5.23 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg. Pettersson, Dritte Sinfonie.]
Leichter Kopfschmerz, logisch. (Eigentlich wollte ich hier eben nur „Puh“ schreiben, drei Ausrufungszeichen dahintersetzen und meine Pettersson-Lektüren weiterexzerpieren). Nachtschwarze Welt, aber nicht mehr so kühl morgens wie in der letzten Woche. „Mein Engagement in diesem Werk“, kommentiert Pettersson ausgerechnet seine Zwölfte, die politische Gedichte von Pablo Neruda in Klang gesetzt hat, „ist nicht politischer Art.“ Er ist sich >>>> d e s s e n in aller Skepsis, die darin liegt, völlig bewußt, und umgekehrt wird es nun für mich durch die gegenwärtige Beschäftigung noch einmal nachdrücklich unterstrichen. Irgendwie arbeiten wir alle an etwas, das „der Welt abhanden gekommen“ ist und auch, vielleicht liegt d a r i n der Skandal, der Welt abhanden kommen s o l l: als tönte es aus einem nicht-göttlichen Paradies, verheißungsvoll wie die Lockrufe von Nixen: „erblühend in einem befreienden Schmerz“ (Pettersson).

6.23 Uhr:
[Pettersson, Vierte Sinfonie.]
Bei den Überlegungen, die mir jetzt neben der Konzentration auf die Musik und die Konzentration aufs Exzerpieren und gleichzeitigem Formulieren von Ansätzen für das Petterson-Requiem durch den Kopf gehen, fällt mir neuerlich auf, wie ich eigentlich das ganze Selbstverständnis meiner Arbeit – bis hin in die handwerklich kultivierten Formen – aus der Musik und so gut wie gar nicht aus der Literatur beziehe. ‚Vorbilder’, soweit ich noch welche haben kann, sind und jedenfalls w a r e n stets Komponisten; Autoren spielten und spielen eine eher marginale Rolle und sind, wurden sie d o c h bedeutsam, ein ziemlich seltsamer Haufen, an dem mich sehr viel mehr die Haltungen interessieren als die Inhalte. Bei Komponisten ist das anders, da geht immer alle Konzentration auf die Musik (nur bei Gustav Mahler war das anders, weil er sich in seiner seinerzeitigen Verkanntheit, die ich zu meiner parallelsetzte, so gut als Identifikationsobjekt eignete; dabei übersah der Zwanzigjährige, der ich damals war, völlig, daß Mahler, als Hofoperndirektor, ein mächtiger Mann gewesen ist; ‚übersah’ ist dabei ein guter Ausdruck, wegen der Mehrdeutigkeit: „etwas übersehen“ heißt ja a u c h: etwas überschauen, drüber hinschauen und drüber wegschauen, es – aktivisch gedacht – wegschauen w o l l e n: schauen also auf eine Weise, die das, über was man hinwegsieht, ganz bewußt n i c h t sieht).

8.45 Uhr:
Mit dem schwindenden Kopfschmerz (er war s c h n e l l weg über der Arbeit) kam Hunger auf. Also Pause, hab eben schnell Brötchen und Brot besorgt. Musikwechsel, nur fürs Frühstück. Die Musik Pettersons übigens hat einen stark suchtauslösenden Character. Je öfter man die Sinfonien hört, um so heller werden sie eigentümlicherweise, ihr bohrend-Düstres verliert sich fast darüber, und Zuversicht strömt durch einen durch. Wirklich seltsam.
Jetzt aber was futtern. Und:

[Joni Mitchell, für die Geliebte gehört. Hejira.]


Hab heute morgen eigenartige motorische Störungen entwickelt, dauerrnd fällt mir was aus der Hand, selbst die Frühstückseier kippten sozusagen vom Fahrrad; drei blieben dabei auf der Strecke, will sagen der Concordiagasse. Und hier stell ich die falsche Herdplatte an, tippe, rieche zwar was, aber komm nicht drauf: und schon ist das halbe Brot, das ich dort abgelegt hatte, verbrannt. Hm, Identifikation mit Petterssons physischer Behinderung? Oder nur Schlafmangel? Hat aber was deutlich Komisches. Wie wenn Buster Keaton dauernd was schiefgeht.

12.50 Uhr:
[Pettersson, Siebente Sinfonie.]
Alle Unterstreichungen in die Pettersson-Exzerpte-Datei fertig übertragen, 13 einzeilige Seiten sind es geworden. Für interessierte Freaks forme ich daraus nun noch einen eigenen Beitrag für Die Dschungel, stell ihn aber logischerweise nicht auf die Hauptseite, sondern unter >>>> NOTATE ein. Wird noch ein bißchen Arbeit sein, aber gut, is’ halt so. Zwischendurch den Mittagsschlaf, und abends gibt’s Grillen mit dem Bamberger Bürgermeister im Barockgarten der Villa. Das Wetter spielt heut ausgesprochen mit. Vielleicht krieg ich auch schon die ersten Zeilen für das >>>> Pettersson-Hörstück in die Datei der Rohfassung. Hab eine komische, so überhaupt nicht passende Assoziation, die ausgerechnet in Goa/Indien spielt, meinetwegen auch Kanataka: wie jemand aus seinem Häuserl hinaustritt und ans Meer und wie er plötzlich diese Musik hört… aus sich, in sich, aber doch, als käme sie von irgendwoher … wie Bässe, die sich nicht orten lassen … und mit derselben Gestik, die Petterssons sämtliche Sinfonien durchwirkt … und er, dieser Mensch, muß sich setzen, es drängt ihn dazu aufzuschreiben, was er hört. Aber er kann gar keine Noten schreiben. Und in denselben Momenten geschieht ganz das Gleiche anderswo und einem Anderen … und wieder anderswo wieder einem Anderen… außerdem ist bereits klar, daß ich eine uralte, selbstangefertige CassettenAufnahme in dem Stück verwenden werde. Mein Freund Andreas Werda und ich stellten damals – es muß um 1977/1978 gewesen sein – ein Hörstück her in seinem Wohnzimmer, er agierte als Tonmeister. In diesem Stück nun, das nie irgendwo aufgeführt oder ausgestrahlt worden ist, spreche ich auf die nachgelassene Purgatorio-Szene Mahlers (10. Sinfonie) >>>> Kafkas Kübelreiter – und das paßte, als wäre die Musik als Illustration dieses kleinen Prosastückes geschrieben worden oder das Prosastück seinerseits nach dem Hören des Purgatorios entstanden.

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