10.04 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg. Pettersson, Sinfonie Nr. 13.]
Hab tatsächlich bis fast neun Uhr geschlafen, nachdem wir im Anschluß an >>>> Gerald Zschorschs Lesung aus Czerwonka noch bis in die Puppen in der Kneipe saßen, in erstaunlich kleinem, geradezu familiärem Kreis. Immer wieder warm-ironische Blicke zwischen mir und Zschorschs SuhrkampLektor Hans-Ulrich Müller-Schwefe, mit dem ja auch mich eine alte Geschichte verbindet – eine des meinerseits Versuchens und seinerseits michAbrutschenLassens.. aber das liegt bald zwei Jahrzehnte zurück. Dennoch, wie bei der Begegnung mit Rainer Weiss, ebenfalls Suhrkamp – jedenfalls bis vor kurzem; sein Weggang machte bekanntlich die Blätter rauschen -, wirken diese alten Dynamiken nach. Und mir fällt der erste Satz ein, den ich seinerzeit beim Verkäufertraining lernte: „Es gibt niemals die Chance für einen zweiten ersten Eindruck.“ Ist Abwehr da, lernt man nicht, sie zu modifizieren, der erste Eindruck ist festgestanzt, und es braucht schon eine deftiger Überraschung, wenn er ausgehebelt werden soll: Das Gefühl muß überrascht werden, die Ratio hilft da überhaupt nichts.
Mit meinem hr-Redakteur wegen PETTERSSON korrespondiert; es geht bereits um die Sprecher, die wir nun doch der Praktikabilität halber aus dem Frankfurtmainer Land nehmen werden. Das Problem mit später einzumontierenden Aufnahmen in Berlin ist, daß man verschiedene Raumklänge bekäme. Bei >>>> VERBEEN war das wurscht, weil ohnehin Module collagiert wurden, beim PETTERSSON bin ich mir nicht sicher, ob nicht wirklich besser die Sprecher bei ihren Aufnahmen beieinander sitzen. Also muß ich auf meine Wunschsprecher von der Ahe, Mellies, Lieck verzichten; wäre das Typoskript schon fertig, wär das was anderes. Aber ich arbeite ja wieder einmal höchst zeitknapp.
Mein gestriges Arbeitsvorhaben, den Dies-irae-Part fertigzubekommen, ist f a s t erreicht gewesen, mir fehlt aber noch die Vollendung des Sprecherinnen-Hymnus da mittendrin; auch er, übrigens, >>>> Sie lasen es wohl, im Hexameter. Die Sonett-Idee schieb ich erst mal auf und geh, wenn ich die Katastrophenmeldungen beisammenhab, als Feinheit bei der ersten Überarbeitung daran.
Und >>>> hier entwickelt sich eine spannende Diskussion; ich nähme gerne weitergehend daran teil, aber darf mich jetzt nicht ablenken lassen und setz deshalb auf S i e, meine Leser, das Ding weiterzuführen. Denn etwa, lieber montgelas, ist gerade Pynchon, den Sie anführen, ohne die Postmoderne, die ich – klar, als postmoderner Dichter-selbst – ganz anders sehe als Sie, überhaupt nicht denkbar. Und gerade auch die Wiederentdeckung des Pathos ist das nicht. Aber ich verzettel mich bereits, indem ich d i e s e s hier schreibe. Langsam spür ich den PETTERSSON-Druck sehr wachsen, und so sehr es mich reizt, Ihnen zu replizieren, so sehr muß ich jetzt Prioritäten setzen. Außerdem fallen mir permanent erste und zweite Gedichtzeilen ein (eine, sehr schön, lautet: „Du stammst, mein Sohn, aus dem Orient“), und ich weiß nicht einmal, wie ich d a s hineinschieben kann.
>>>> Zschorschs Czerwonka, übrigens, ist wunderschön und sehr sehr erdenschwer, als atmete er die tiefen Wolken des Ostens nicht aus, sondern ein.
13.02 Uhr:
Der Dies-Irae-Part steht. An sich wäre jetzt Zeit für den Mittagsschlaf, aber ich laß ihn ausfallen, weil >>>> der Dichter Paulus Böhmer heute 70. Geburtstag hat; wir sahen uns lange nicht, telefonierten eben, und als ich auflegte, kam mir der Einfall, kurzerhand in den Zug zu steigen und heute abend bei ihm als Überraschung aufzukreuzen. Davon ahnt er nichts, und wer unter Ihnen, Leser, ihn kennt und vielleicht vorher spricht, möchte bitte schweigen. Und ich nehm dann halt morgen früh von Frankfurt aus den Sprinter nach Berlin und nicht den Frühzug von Bamberg. Eine Notübernachtung hab ich eben auch schnell geregelt.
Also weiter mit dem PETTERSSON. Paar Aufnahmeprobleme sind vor ein paar Minuten auch schon mit dem Redakteur besprochen. Das wird jetzt eine echt abenteuerliche Arbeit, viel Freiheit, aber auch viel Einschränkung, was die Perfektion anbelangt. Nur: Unter erschwerten Bedingungen wurden f ü r die erschwerten Bedingungen und ihretwegen großartige Opern geschaffen. Nun bauen wir halt so ein Hörstück. Wenn denn mal der Text endlich fertig wäre!
18.32 Uhr:
[EC Würzburg-Frankfurt.]
Eigenartig sehnsüchtiges Gefühl, im Zug „Budapest – Dortmund“ zu sitzen, den ich nach einer RB-Überlandfahrt von Bamberg aus soeben bestiegen habe. Sitze im Speisewagen, trinke ein österreichisches Ottakringer, gegenüber den ICEs scheinen diese Waggons aus dem frühen 20. Jahrhundert zu stammen, alles scheint auf gediegene, zugleich nüchterne Weise heruntergekommen zu sein. Sogar die Regionalbahn wirkte dagegen modern.
Hab während der bisherigen Fahrt im Notizbücherl das Agnus Dei entworfen, ein umgekehrtes, pervertiertes: Der Sprecher bittet darin den Gottessohn (bzw. das herausgeschnittene Herz des Lamms), ihm seine Krankheit zu verzeihen, andere bitten um Nachsicht dafür, daß man ihre Kinder im Schrapnellhagel zerriß. Usw. Sehr düster, ich weiß, aber ich brauche diese Kontraste. Und ein weiteres Gedicht kam mir ‚so in den Sinn’, modern-eichendorf’sch sozusagen, mit den Augen über die nahezu ebene Landschaft hinter Haßfurt wandernd und Täler imaginierend, die dann prompt auch erschienen: herrliche Ausblicke in Weinberge, die vollgrün dastehen, märchenhaft ein wenig und sommerfrischig – herbstsommerfrischig, sollte man sagen: Vorgeschmack Goldener Oktober – das „Gold“ rührt von der Sonne und vom W e i n? Und beim Halt in SCHWEINFURT STADT (seltsam, erst danach kommt SCHWEINFURT HBF) stand auf dem Fluß ein langes, sehr langes Restaurant- und Ausflugsschiff und rührte eine Erinnerung in mir an, die ich irgendwie mit der Heidelberger Gegend verbinde.
Was ich für den PETTERSSON n o c h bräuchte: Tondokumente von 9/11, Tondokumente aus dem Golf- und Irankrieg, Tondokumente vom Geschwisterschlachten auf dem Balkan. Tondokumente aus Bombays Slums hab ich in meinen eigenen O-Ton-Archiven; was aber noch hinzusollte, sind Geräusche von einer Neugeborenen-Station im Krankenhaus. (Die wunderbaren Töne einer Nacht in Palolem/Goa unter den Palmen am Meer habe ich ebenfalls und werde auch sie einmontieren. Außerdem montierte ich gerne Töne eines abendlichen Spaziergangs an Chowpatty Beach in Bombay hinein, aber da muß ich erst jemanden fragen, weil man ihre Stimme drauf hört). Sollte jemand unter I h n e n, Leser, sich die Arbeit machen wollen, wär ich für paar Aufnahmen von Schreckensmeldungen aus der Tagesschau oder Ähnlichem dankbar. Ich hab ja keinen Fernseher und mag mich für sowas auch nicht eigens bei Freunden einladen.
Dies hier, Leser, werd ich am Frankfurtmainer Hauptbahnhof in Die Dschungel stellen, weil ich dort den T-online-Hotspot nutzen kann. Danach mach ich den kleinen Spaziergang nach Sachsenhausen hinüber zu Lydia und Paulus Böhmers Wohnung, über die Fußgängerbrücke, am Staedel vorbei, den kleinen Rucksack mit meinem Arbeitszeug hintendrauf und an der rechten Hand die Tasche mit Ratzfelix’ (den man allmählich besser ‚R e i s e ratz’ nennte) Käfig und ihm selber d a r i n. Ich glaube nicht, daß Sie danach heute noch etwas von mir hören werden. Es sei denn, mich packt’s spätnachts, und ich geh dann gegen alle Vernunft noch ins Netz. Ist aber unwahrscheinlich, da ich morgen früh den Sprinter von Frankfurtmain nach Berlin nehmen will und vielleicht d o c h mal gelegentlich ein wenig schlafen sollte. Und sei es im Schlafsack auf der Isomatte bei Paulus Böhmers Sohn. Es ist keine Sünde hinwegzunehmen, nur zu verzeihen hab ich, übrigens, über das Agnus dei notiert.
Der letzte Absatz Der letzte Absatz Ihres Arbeitsjournals hat mich tief ergriffen. Ich sehe Sie mit Felix im Käfig in der Hand über eine Brücke zu Paul Böhmer gehen. All die Einzelheiten haben an sich etwas Beruhigendes, Naatürliches. Sie sind einsam aber nicht allein. Sie gehen zu einem Freund. Warum ist dieses Bild so stark in mein Gedächtnis eingegangen? Sehr lyrisch, das Bild des Dichters mit Rucksack, Ratte, auf einer Brücke; ein Dichter, der sich zu einem Freund begibt… ich konnte es nicht so lassen, ohne ein Wort dazu zu schreiben.
Das Agnus Dei, spür ich, wird sehr g r e i f e n.