Achtung, wo einer herkommt! Europa ./. USA. Und was sich verlieren soll. Damit wir geschichtslos werden. Ein Beitrag zur Fremdenfeindlichkeit.

Je älter ich werde, desto wichtiger wird mir, woher ich komme: das meint:: woher ‚meine Linie’ stammt und was sie kulturell getragen hat. Vielleicht liegt es daran, daß sich der Tod am Horizont meldet, weit weg noch, wahrscheinlich, aber da ist schon – man hat die Lebensmitte überschritten – so ein Leuchten, ein rotes, gelbes, wie ein Morgenrot zu erkennen, wenn es noch Nacht ist. Und es mag sein, daß man sich dann dieser und i n diese Linie stellen will, wobei etwas dasein muß, gewiß, daß sie fortsetzt. Ich spreche von Kindern, denen man dann erzählt, woher auch sie kommen.
Interessanterweise war dies ein mir über Jahrzehnte sehr fremder Gedanke, auch wenn ich jetzt merke, daß er mich kulturell eben d o c h bestimmt hat. Weshalb ich dem Orient sehr viel näher bin als den USA, von wo aus mich kulturell tatsächlich n i c h t s geprägt hat, weder die Literatur noch die Musik. Ich bin ja nahezu popfrei und auch im Herzen ‚voll’europäisch.

Dazu eine Geschichte, die mir in Hall >>>> José F.A. Oliver erzählt hat. Er sei Professor an einer US-amerikanischen Universität gewesen und habe dort ‚natürlicher’weise viele Studenten gehabt, die oder deren Eltern und/oder Großeltern aus uns fernen Ethnien stammten. Es sei ihnen deutlich anzusehen gewesen, und er habe bisweilen nachgefragt – unvoreingenommen, eher liebevoll interessiert, schließlich entstamme er, als Deutscher, selbst dem jüdisch-maurischen Spanien. Nahezu jedesmal habe er dann zur Antwort bekommen: „I am American.“ „Ja, aber woher sind Ihre Eltern, welche Kultur haben sie geatmet, wie träumen sie?“ „I am American.“ „Aber Sie werden doch schon einmal sich mit Ihrer Herkunft beschäftigt haben?“ “Why? I am American.“ Undsosturweiter.

Dies bezeichnet für mich, von allem sentiment geblößt, the american kind of being und damit eine des Verdrängens. Es wird so getan, als wäre es wahr und man k ö n n e Herkunft verleugnen, Kultur verleugnen… nein, nicht verleugnen, sondern so tun, als wäre sie nicht und auch nicht gewesen. Und als hätten wir nicht a u c h die Gesichter, d i e wir haben. Nur aber, was nicht gewesen ist, kann nicht weiterwirken, nur, was nicht dennoch i s t; alles andere w i r k t, so oder so. Man will bloß nicht wissen, daß dem so ist. Gerade der Kapitalismus, dem es auf marktbare Funktionalität ankommt und der deshalb Bedeutungshöfe schleift, will das nicht wissen. Und eleminiert es – per Dekret, nicht etwa per evolutionärer Sprachentwicklung – aus den Wörtern. So kommt es zum Regelwerk der Neuen Deutschen Rechtsschreibung. Ein solches k o n n t e überhaupt nur entstehen, nachdem eine Generation herangewachsen war, die per Pop über die US-amerikanische Geschichtsfeindlichkeit seelisch geprägt worden ist, nachdem sich verloren hat, auch für viele unter uns, und daß sich das verlieren sollte: daß wir in einem Geschichtsstrang, einem Geschichtsfluß stehen, der für uns nach wie vor Abendland meint und wie jeder Abend seinen Morgen mit einschließt. Die Tatsache einer grauenhaften Geschichtszeit – einer Insel des Schreckens in diesem Fluß, wie es der Nationalsozialismus i s t – entbindet nicht; man wird sie übers Vergessen nicht los. Aber auch die entbindet nicht davon, daß es ein Vorher gab, ein l a n g e s Vorher gegenüber den zwölf Jahren, ein gewichtiges Vorher. Weder für Deutschland noch gar für Europa hat die Geschichte aber auch mit Hitler begonnen; er vertritt k e i n e umgekehrte Eschatologie. Auschwitz ist n i c h t die höchst erreichbare Bestialität, mit Auschwitz endet nichts und beginnt nichts, sondern auch dieses Undenkbarste (dem sehr schnell die Undenkbarkeit des Atombomben-Abwurfs gefolgt ist) steht in einer G e s c h i c h t e der Brutalitäten, setzt diese Geschichte fort und w i r d fortgesetzt. Ebenso wenig beginnt die Geschichte der USA mit ihrer constitution, auch wenn man’s gerne so hätte. “I am American” ist falsch.
In Fluß stehen wir alle – er kennt auch Inseln großer Schönheit – und stehen unsere Kinder. Und sie werden möglicherweise, haben auch sie die Lebensmitte überschritten, zu fragen beginnen, wenn nämlich auch sie dieses Rot bereits zu erkennen glauben. Das ist vielleicht die einzige Auferstehung, die uns sein wird, eine des Bleibens, eine des Anteil-genommen-Habens und es immer noch Nehmens. Eine der Erbschaft, die wir erhielten und weitergeben. Versagen wir sie unseren Kindern, begehen wir Unrecht. Und keiner wird mehr sein, den sie fragen können. Habt Achtung drum vor Eurer Herkunft! Und begreift sie. Dann nämlich bekommt man auch Achtung vor der der andern und beginnt, auch einem fremde Kulturen zu ehren und zu lieben. N u r dann.

17 thoughts on “Achtung, wo einer herkommt! Europa ./. USA. Und was sich verlieren soll. Damit wir geschichtslos werden. Ein Beitrag zur Fremdenfeindlichkeit.

  1. Ein schönes, leidenschaftliches plädoyer für das alte europa und gegen die globale nivellierung dessen, was sich aus dem “meer der armut” (Sloterdijk) heraushebt. es skizziert die klippen und die meere, die dennoch vorhanden sind, trotz pop (die ich dennoch höre : meistens nolens volens) und mcdonalds (bei dem ich dennoch essen gehe : weil es momente der bequemlichkeit gibt). bei unserer quasi-gleichaltrigkeit empfinde ich ähnliches. da ist nämlich der eindruck, daß das gefühl für die unmittelbarkeit der hitlerischen vergangenheit verloren geht. das ist scheinbar kein thema mehr, das einem die verließe der kollektiven psyche und ihrer so leicht manipulierbaren grundbedürfnisse nach identität in sachen revier und selbstbehauptung öffnet. insofern nehme ich an, daß diese aussage des “I am American” eine tarnkappe überstülpen will. es ist ein verbergen der identität, die sich eine andere geborgt hat: “The Search for Happiness”. dies vielleicht auch der schlüssel für die legalen und illegalen einwanderungen nach europa, als nächstliegendem kontinent für afrika und asien. ein hebel zur interpretation dieser phänomene sind sicher solche autoren, die von woanders herkamen, aus anderen kulturen, die sich assimiliert haben, aber dennoch kritisch geblieben sind gegenüber der gastkultur. am ehesten noch yoko tawada, dann noch zaimoglu, aber auch die russischen emigranten von einst, und Nabokov war einer von ihnen. zu fragen wäre vielmehr, wie sehr die USA identität verschleifen. ansonsten bin ich unserer deutschen vergangenheit gegenüber nur mit schrecken eingedenk, beginne aber, einen schrecken über die nivellierung zu empfinden, die allerorten fuß greift nach dem muster: DER WESTEN UND SEINE DEMOKRATIE. als müßte die welt erneut christianisiert werden. wir leugnen das anderssein, indem wir es entweder anprangern oder verniedlichen oder ignorieren.

  2. interessant… da ich mich auch gerade mit dieser thematik auseinander gesetzt habe,weniger woher ich selbst komme..das weiss ich schon eine weile,eher mehr damit,ob das eigentlich greifen könnte..kulturell alles gleich zu machen?
    dazu las ich vor kurzem ein interview mit einer hier in deutschland geborenen, jungen libanesin und was mich wirklich gedanklich bewegte war,daß sie es als RASSISTISCH empfand,wenn man sie nach ihrer herkunft befragte..sie ist deutsche und warum fragt man sie das?.ich war total betroffen,denn wie beschriebener professor neige ich auch dazu ,menschen zu befragen ,woher sie kommen und zwar wirklich aus interesse an der person und der geschichte…parallel las ich die geschichte einer chinesischen familie,die nach kalifornien kam ,um 1880-1995 und was ich da las,deckt sich nicht ganz mit dem bild von total amerikanisiert…ich glaube eher,dass es auch noch vom sozialen status abhängt,z.B.wohlhabende amerikaner jüdischer herkunft outen sich gern schon im 3. satz ,ist mir aufgefallen,während eher ärmere lieber den gesamten amerikanischen traum leben wollen und von daher eben nur amerikaner sind…nach zwei generationen sprechen sie oft die sprache nicht mehr,fangen aber dann interessanterweise an,zurückzugehen,um nach familie und identität zu suchen…und egal wo man in der welt hinschaut,es gibt immer communties,die je länger sie der heimat fern sind,umso mehr ihr kulturgut leben,das manchmal auch merkwürdig altmodisch wirkt…warum ich das überhaupt schreibe,ist,dass ich glaube dahinter steht eine andere motivation und zwar ein leichtes minderwertigfühlen…z.b. habe ich auch oft gehört,dass deutsche sich im ausland lieber selbst als europäer bezeichnen,gerade weil sie sich nicht mit fragen nach der deutschen geschichte belasten wollen…und sich in emigranten hineinversetzt,ist es wahrscheinlich das gleiche…die meisten sind aus not weggegangen und wollen erstmal mit dem alten nicht konfrontiert werden,zumal es in amerika nun auch wirklich noch sehr rassistisch zuging…es dauert wahrscheinlich sogar 3-4 generationen,ehe ein grundkonsens vorhanden ist und selbst dann gibt es immer noch kulturelle unterschiede…

  3. ich habe sicher zwei wochen lang nicht mitgelesen, aber: es gibt wieder ein tagebuch, in dem auch herbst mitschreibt. das nur festgestellt, eben beim klicken auf den “kommentar” — ich finde den gedanken schon seit vielen jahren in meinem schädel, mit 18 verzweifelte ich an der unmöglichkeit, in absehbarer zeit die fülle der nötigen kulturgeschichtlichen inhalte zu assimilieren, um diesen historischen “boden” zu gewinnen, jahre später entspannte ich mich und überließ meine boden-nahrung den unvermeidlichen begegnungen: mit büchern, kunstwerken, perönlichkeiten usw., denn die dinge kommen zu uns, wenn wir offen sind/bleiben dafür. einerseits bin ich bei ihnen, wenn sie sagen, was sie gesagt haben. andereseits zweifle ich – am wert kulturellen gutes. ist es nicht eine hochkomplexe verschleierung, ein ständiges futter für das neugierige und geschwätzige gehirn, das an einem riesenpuzzle zu bauen glaubt, in wahrheit aber nur müll umschichtet? wenn die amerikanischen studenten sich auf ein “i am american” zurückziehen, kann das aus verweigerung, verdrängung, und unbildung sein. oder vielleicht aus dieser amerikanischen entschlossenheit, ohne den ballst der europäischen tradition eine neue welt zu schaffen – was sie getan haben und nun in einer form weitertun, die uns das grauen lehrt? (nicht minder muß uns vor einer morddrohung am papst grauen, selbst wenn man weder von seinem amt noch seiner person begeistert ist: denn auch sie, die morddrohung, entspringt einer unbildung, einer kulturlosigkeit, einer dummheit, der in gewisserweise mit dem amerkanischen “i am american” vergleichbar ist. nur daß die amerikaner nie erfahren werden, wo rom liegt, weil sie keinen anschlag auf den papst planen.)
    versagen wir unseren kindern die kulturelle erbschaft (was du geerbt von deinen vätern: erwirb es, um es zu besitzen – eine leistung, die die wenigsten im alten europa vollbringen …), begehen wir unrecht. und was, wenn die kinder sich keinen deut für dieses erbe interessieren? weil es ihnen zu schwer ist, zu komplex, zu wenig geil und ihnen die grundlagen dazu fehlen, die wir noch in der mittelschule angedeutet bekamen, sie aber nicht mehr? was, wenn wir die letzten sind? wenn die, die nach uns kommen, etwa unter der erde leben, oder einfach, und fern von den städten, wir wir sie kennen? ich meine, ist unser kulturelles erbe wirklich so bedeutend, wie wir glauben, und wie es eben für uns wichtig ist?
    einen anderen gedanken hatte ich heute, auch einen alten, schon oft gedachten: wie würden unserer bücher, bilder, kunstwerke aussehen, wenn -gedankenexperiment – über nacht alle bücher, bilder, gebäude/kirchen/architekturen, alle originale und kopien, abbildungen etc. nicht mehr greifbar wären für uns, gewissermaßen fort wären? wenn wir aus der erinnerung aufbauen müssten; würden wir ähnliches wieder erschaffen? oder würden wir sein wie die kinder in goldings “herr der fliegen”, nur daß niemand auftauchte, um das schlimmste zu verhindern?

    1. @ferromonte. Wir versuchen zu verhindern. Und wir wissen nicht, ob wir das Richtige tun. Nur: Nichts zu tun, zu denken, zu träumen, weiterzugeben:: das ist s i c h e r das Falsche. Jeder, der ein Kind hat, weiß das. Mag sein, daß unsere Kinder uns eines Tages dafür nicht sehr mögen. Ich bin mir aber sicher, daß, wenn sie eigene haben werden, wann immer, irgendwann, sie gar nicht anders handeln werden. Sofern sie begreifen, daß die Liebe ihrer Eltern bei ihnen war. Und w o sie es war, da begreifen sie’s. Ich bin mir da völlig sicher. (Es gibt Kinder, bei denen war diese Liebe nie. Das ist zu bedenken.)

    2. @ferromonte und was, wenn die kinder sich keinen deut für dieses erbe interessieren? …das ist ein zeitfaktor,den ANH hier sehr schön beschreibt…irgendwann kommt immer die zeit(meist ,wenn man eigene kinder in die welt setzt)in der man sich mit diesem erbe beschäftigen wird und es spielt eigentlich keine rolle,wann das ist,das es geschieht ist das eigentliche..kulturelle werte sind nichts künstliches, sondern vermitteln sich durch die authenzität der eltern eigentlich von selbst…und da wären wir bei leidenschaft(deshalb ist diese auch so wichtig)was unsere eltern oder wir selbst leidenschaftlich leben,wird in unseren kindern weiterwachsen,manchmal auch das leidenschaftliche gegenteil von dem,was vorgelebt wurde,aber das bedeutet auch nur eine auseinandersetzung mit dem betreffenden thema und ist eine variation…..die sich dann in der nächsten generation schon wieder zurückwenden kann.

    3. Wenn Kinder nicht von den Eltern traumatisierend verletzt wurden. Wird das elterliche kulturelle Erbteil (auch wahrscheinlich das soziale) mit zunehmendem Alter immer stärker. Und zwar auch dann, wenn in den jungen Erwachsenenjahren – vornehmlich aus ideologischen und Gründen des sich-Ablösens – “alles ganz anders gemacht” worden ist. So meine Erfahrung unterdessen. Tatsächlich kommen in mir W e r t e zum Tragen, von denen ich lange nicht wußte, daß sie in mir wirken. Und das ging tatsächlich mit der Geburt meines Jungen los. Man ist – als Mutter, als Vater; als Vater aber vielleicht noch sehr viel ausgeprägter – dann nicht mehr ohne Hintergund, sondern ein Boden, der zu wenig trüge, bestünde er nur aus dem, was man und als was man sich selbst schuf. Das Bewußtsein, ein Teil zu sein, auch ein Träger kulturell-allegorischer Inhalte – man könnte sie Seele nennen -, wird enorm stark, und die Vorstellung von Autonomie wird kleiner.
      Selbstverständlich ist es möglich, daß alledies einfach wegfällt, daß niemand mehr weiß noch wissen will, wo sie/er stand und steht; aber das ergibt dann ein flaches Bewußtsein, das schließlich nur rein noch funktional ist und aufs gut-Durchkommen fokussiert. Ganze Schätze gehen verloren. Was ich mit meinem ursprünglichen Beitrag meinte, ist, daß wir schon aus Liebe, schon, weil wir wollen, daß unsere Kinder reich sind, unserer Kultur und unserer Geschichte verbunden sein müssen – und wenn es Mischlingskinder sind, dann ist das ja nur um so besser, reicher, weiter. Dann können (könnten) diese Kinder in sich selber leben lassen, was Kultur so wundervoll macht: ständig neue Synthesen verschiedener Kulturen zu erschaffen. Und dafür als Person zu stehen. Welch ein großes Glück haben alleine die, die mehrsprachig sind, w i r k l i c h mehrsprachig, weil bereits in verschiedenen Sprachen aufgewachsen. So etwas läßt sich nicht nachholen. So wenig läßt sich aber auch nachholen, was man versäumt hat, als kunstkulturelles Erbe weiterzugeben.

  4. “ich habe sicher zwei wochen lang nicht mitgelesen, aber: es gibt wieder ein tagebuch, in dem auch herbst mitschreibt. das nur festgestellt, eben beim klicken auf den “kommentar” –”

    @ferromonte

    Nicht jeder Blinde ist ein Theresias, das zu Ihrer etwas herablassenden Einlassung zum Tagebuch. Ich finde es literarisch interessant, wie Lampe seine alltäglichen Beziehungsdramen von der griech.Tragödie, über das Vaudeville bis hin zu Ionesco spannt. Auch das Hakenschlagen Reichenbachs, die Flucht vor sich selbst, lohnt betrachtet zu werden. Und ich fand es sehr schade, dass auf seinen Eingangstext inhaltlich nicht näher eingegangen wurde. Die sexuelle Tragödie des älteren, durchnittlichen Mannes, der scheinbar nur noch die Wahl zwischen Masturbation und Puff hat, hätte ich mir diskutiert gewünscht. Für mich jedenfalls ist offenbarer denn je, dass immer dann auf die Form eingedroschen wird, sobald der Inhalt unbehaglich stimmt. Das erleben wir aktuell, siehe Trisam, was ANH’s Lyrik und seine Wiederentdeckung des Pathos anbelangt. Lieber ferromonte, nehmen sie mir es nicht krumm, aber das wollte ich immer schon mal gern an Ihre Adresse loswerden, sind wir doch nicht hier in einem Kleingartenverein, wo Harmonie per Statut verordnet wird.

    Sehr herzlich, ihr montgelas

    Zum Thema: Auch wenn es beißt, halte ich es eher mit dem Satz: I’m American!
    Denn Amerika ist nichts anderes als die vorweggenommene Perspektive Europas, das zu Beginn des 19.Jahrhunderts einen entfesselten Kapitalismus, der alle Köpfe zu Konsumenten scheren will, keine n e n n e n s w e r t e n* Steine in den Weg legte. Zu bedenken ist auch, dass das Bekenntnis I’m American der amerikanischen Bürger durchaus zivilisierende Funktion in der amerikanischen Gesellschaft hat. Dort wo ethnische und kulturelle Differenz dominierten, zerfiel die zum unvollkommenen Staat geronnene Vernunft. Wer in das ehemalige Jugoslawien vorurteilslos und ohne ideologische Scheuklappen schaut, kann das Beharren auf Standpunkten des 19. Jahrhunderts, als heutige Tragödie wahrnehmen.

    ANH beklagt leidenschaftlich zu Recht in seinem Tagebuchbucheintrag das Elend des Geschichtsverlustes in den jüngeren Generationen Europas. Ihre Anpassung an kulturelle Gewohnheiten, die von jenseits des Atlantik zu uns herüberschwappen. Es ist aber keine Verschwörung, die die „Neue Rechtschreibung“ uns verordnete, sondern eher ein postmodernes Wegwischen positiver abend- und morgenländischer Geschichte. Die Postmoderne, sie ist kein Kind Amerikas, sondern europäischen Ursprungs, ein Ausfluss dessen, dass mancher um die Jahre 1972 einmal Saussure gelesen und ihn gründlich missverstanden hat. Eagleton schreibt, und ich bin ohne wenn und aber mit ihm einverstanden:
    „ Die Postmoderne hat außerdem überdurchschnittlich viel Kitsch produziert. Sie hat eine Reihe unumstößlicher Sicherheiten ins Wanken gebracht, einige paranoide Totalitäten aufgesprengt, eifersüchtig gehütete Heiligtümer verunreinigt, repressive Normen gebeugt und einige ohnehin hinfällige Fundamente erschüttert. Folglich hat sie all diejenigen gründlich desorientiert, die sich nur allzu gut ihrer Identität bewusst waren, und all die entwaffnet, die sich ihrer Identität bewusst sein müssen angesichts derer, die nur allzu sehr darauf brennen, sie ihnen vorzuschreiben…“ (Terry Eagleton. Die Illusionen der Postmoderne. Stuttgart 1997. S. 36) Es waren nicht die Amerikaner, die Fragen nach Herkunft, Traditionen, und kulturellen Identitäten mit Scheintabus belegten. Nein! Amerikas Markt brauchte keine Brechstange, die Europäer haben selbst die Tore weit geöffnet, waren sie doch ratlos, angesichts der selbstverschuldeten Katastrophen des 20. Jahrhunderts.

    I’m American insoweit, dass ich den Amerikanern und Russen dankbar für die Befreiung Europas bin. I’m American, weil mir Amerika u. a. E.A. Poe, N.Hawthorne. Ernest Hemingway T.S. Elliot. Ezra Pound, Thomas Wolfe, Upton Sinclair, Thomas Pynchon, George Gershwin, Edward Hopper und Martin Luther King schenkte.

    Amerika, du hast es besser
    Als unser Kontinent, der alte,
    Hast keine verfallenen Schlösser
    Und keine Basalte.
    Dich stört nicht im Innern
    Zu lebendiger Zeit
    Unnützes Erinnern
    Und vergeblicher Streit.
    (Goethe)

    Zur Rolle des Vater als Freund und Bewahrer der Erinnerung lässt sich viel sagen, da sind wir einig. Eines will ich allerdings hinzufügen: Das Bemühen, seinen Kindern Orientierung zu geben, wirkt aktuell oft hilflos, entfaltet aber, so habe ich es selbst erlebt, dann doch seine positive Wirkung…

    *So ist es erstaunlich, dass ich die ganze Arbeiterbewegung, Anarchismus, Sozialismus und Kommunismus vergass, als seien sie nicht nennenswert. Proudhon, Lassalle, Luxemburg, Lenin und Trotzki werden es mir nicht vergeben. Und sind in diesem Falle eindeutig im Recht.

    1. Damit hier keine Missverständnisse aufkommen, ich halte ANH’s Besorgnis und sein legitimes Hinterfragen , wo kommen wir her – wo gehen wir hin ? für notwendig. Auch deshalb, weil ich selbst Vater bin und manchmal ungeduldig die Hände über den Kopf zusammenschlage, angesichts des Verlustes der Erinnerung in den jüngeren Generationen.

    2. USA. @montgelas und alle. Ich bin sehr anderer Meinung in Hinblick auf die Postmoderne, erkläre aber >>>> hier, weshalb ich derzeit dieses Thema nicht weiterdiskutieren kann. Nehmen Sie’s nicht als Ausflucht, sondern behalten Sie den Fragekomplex bitte in der Erinnerung. Sowie ich mit dem PETTERSSON fertigbin, würde ich hieran gerne weitersprechen. Es ist wichtig. (Etwa stimmt zum Beispiel nicht, daß die US-Amerikaner Europa vom Hitlerfaschismus befreit hätten; vielmehr griffen sie erst zu einem Zeitpunkt in den Krieg ein, als klas war, daß er verlorengehen würde und daß man sich um Ressourcenverteilung zu kümmern habe – zu der nicht nur Europa als Stützpunkt gehörte, sondern vor allem die Übernahme technologischen Wissens. Es ist eine längst bekannte Banalität, daß es US-Amerika gar nicht gestört hat, Kriegs- und Menschenrechtsverbrecher in ihre eigene technologische Administration zu übernehmen. Wernher von Braun ist da nur e i n Beispiel unter vielen anderen. Aber ich verzettel mich schon wieder… das Hörstück hat Vorrang.)

    3. der WK2 war nicht nur eine physische und moralische zerstörung von unfaßbarem ausmaß, sondern auch eine kulturelle auslöschung. wie ANH sagt: die amerikaner hatten kein primäres interesse an der befreiung der europäischen menschen von der nazidiktatur (wie sie auch kein interesse an der befreiung der iraker von saddam hussein hatten, was augenscheinlicher war für uns), sondern vielmehr machtpolitische, wirtschaftliche und technologische interessen (in diesem zusammenhang stell ich mir immer gerne die frage, wer hiltlers krieg eigentlich finanziert hat …). ein resultat des krieges ist, das alles, was VORHER war, kaum noch wirkung hat auf unsere geister. die alten kulturgüter (sofern nicht zerstört) sind zwar noch da, aber sie sind nur mehr museale gegenstände. selbst die bücher großer dichter haben an leben verloren (nicht für alle, aber für eine breitere masse, die VORHER anders mit diesen bildungsgütern umging: mit mehr respekt, mehr achtung, mehr wertebewußtsein); das, was VORHER war, ist von uns, und viel stärker von unserern kindern, durch eine barriere abgeschottet: den WK2 und das, was nachher in europa geschah und geschieht. wenn unserer kinder keinen zugang mehr zu diesem kulturellen gedächtnis finden, auch trotz eines leidenschaftlichen engagements und vorgelebtem leben, so ist das nicht ihre schuld. sie sind geschichtslos. sie sind “european”. das haben wir auch durch unser EU-projekt mitentschieden. viele dieser kinder sind orientierungslose konsumtrotteln, ganz der medialen gehirnwäsche und den suchtmitteln unserer gesellschaft/”kultur” ausgeliefert. wenn wir sie davor bewahren wollen, müssen wir täglich mehrere stunden mit ihnen verbringen und sie aus den schulen nehmen um sie anders zu unterrichten. und wer kann das schon.
      ich glaube nicht, daß diese erkenntnis “in einem fluß zu stehen”, ausschließlich und/oder ursächlich mit dem erfühlen der eigenen endlichkeit, mit dem überschreiten der lebensmitte, mit der geburt eines eigenen kindes zu tun hat. wie gesagt, mit wurde das wesentlich früher klar, lange vor der vaterschaft, aber es hatte schon auch mit der bewußtwerdung der eigenen sterblichkeit und dem schwimmen in der kulturgschichte zu tun.
      damit es klar ist: ich nehme den fluß wahr und ich liebe ihn, sehe mich selbst in diesem fluß, leider mehr schwimmen als stehen oder gehen, nähre mich von seinen wassern und seiner stärke; aber ich glaube, daß die anzahl derer, die solchermaßen ‘erben’ sind, klein und rapide schrumpfend ist. unsere kinder, so befürchte ich, haben kaum eine chance; vielleicht sehe ich das in zu engem radius, gehe ich doch sehr von meinen eigenen erfahrungen aus. und: ich zweifle immer.
      wie weiter oben schon gesagt, ich zweifle auch am wert dieses kulturellen erbes. da bin ich immer ambivalent: einerseits magisch angezogen und begeistert, ja süchtig danach, andererseits sehr skeptisch, über wochen hinweg das alles eher als eine art müll betrachtend, als vorwissenschaflichen mummenschanz, mythen, die die formen unserer ängste bekleiden, nichts weiter … das hemmt mich auch ungemein, in jeder hinsicht: ich kann an nichts glauben, auch nicht an die kunst. (ich beneide sie oft, ANH, um ihren unbedingten glauben an die kunst)
      der schlüssel ist die LIEBE, wie sie es ja sagen: “sofern sie begreifen, daß die liebe ihrer eltern bei ihnen war.” ja, das ist es. und letztendlich ist das das einzig wichtige: die liebe.

      @montgelas:
      ich kann nicht erkennen, wo ich “per statut harmonie” im kleingartenverein verordnen möchte. aber warum sollten sie das nicht können?
      bedauerlicher finde ich ihren unkritischen umgang mit den USA.
      übrigens bezog sich mein eingangssatz, den sie da zitieren, auf herbsts entscheid, aus privaten gründen nichts mehr ins tagebuch zu schreiben. daß ich das “chorische tagebuch” aus ästhetischen gründen nicht goutiere, kann doch kein problem sein für sie. oder?
      ganz herzlich
      ihr ferromonte

    4. Ich habe keine Probleme lieber ferromonte,
      denn über unterschiedliche ästhetische Vorlieben soll man sich einfach nicht streiten. Sie sind zu respektieren. Und einen unkritischen Umgang mit Amerika kann ich nicht feststellen, denn die Namen, die ich hier als Beispiele nenne, sicher sind noch andre hinzu zufügen, sind für mich Amerika.
      Was das kulturelle Gedächtnis betrifft bin ich mit diesen Ausführungen /?p=10968/
      völlig einverstanden. Was mich stört bei Ihrem aktuellen Kommentar, ist das Ausfindigmachen des “Beelzebubs”. Ich seh das völlig anders.
      Ich wurde vorhin leider unterbrochen, sorry.

      montgelas

    5. Es geht um das Interesse: Sie unterstellen den Amerikanern reine machtpolitische und ökonomische Interessen, die sie zum Kriegseintritt bewogen hätten. Sicher mögen auch das Gründe gewesen sein, aber ausschließlich waren sie nicht. Pearl Harbour darf man auch nicht vergessen.
      Der zu beklagende Verlust von Kenntnissen in europäischer Kultur und Kunst
      bei den Jüngeren, unseren Kindern, ist doch das eigentliche Thema… , ich zupf mir selbstkritisch an Nase, lassen sie uns bitte dahin zurückkehren.

    6. Es geht um das Unbehagen darüber, daß kein Geschichtsbewußtsein mehr vorhanden ist. Ich hoffe, das so richtig auf den Punkt zu bringen. Es dürfte auch nicht um das gehen, was man das Bewußtsein einer Nation nennen kann, über dessen Vorhandensein man sicher zweifelnd denken darf in dieser unserer Zeit. Nicht die USA oder Deutschland verfolgen machtpolitische und ökonomische Interessen, sondern gewisse Schichten in diesen Ländern. Insofern wird der ganze nationale Rest zu reiner Propaganda für diejenigen, die nicht zu diesen Schichten gehören. Eine Nationalflagge ist ein Fliegenfänger.
      Seit 1945 haben wir keine Geschichte mehr erlebt, sondern nur in den Zeitungen gelesen, im Radio gehört, im Fernsehen gesehen, so wie wir einen Horrorfilm, einen Liebesfilm, einen Dokumentarfilm sehen. Die Beziehung, die wir dazu knüpfen, ist kein Einbezogensein, sondern die eines Zuschauers. (Tja, die berühmte Schiffbruch-Metapher). All das, was wir sehen, stellt keine Bedrohung für uns dar. Die Bedrohung erwächst uns aus der Spekulation über die Möglichkeit, daß es auch uns treffen könnte. Genauso spekuliert man über die Möglichkeit, von einem Blitz getroffen zu werden, wahrscheinlicher aber noch bei einem Autounfall zu sterben. Überlegungen, die schon Musil angestellt hat.
      Und der nur scheinbar kollektive Wahn, der dem Islam unterstellt wird, wirft nicht den geringsten Schatten auf unser Dasein. Dennoch sind wir des kollektiven Wahns mittlerweile uneingedenk, dem 1945 ein Ende gesetzt wurde. Danach ist es etwas passiert, was diesen Wahn (zumindest in der westlichen Welt) umgelenkt hat in andere Bahnen. Und wie sollte man diese Bahnen anders nennen, als die der individuellen Befriedigung inmitten des kollektiven Warenangebots. Waren haben keine Geschichte: sie wollen den Konsumenten. Darum treten sie auch wie Prostituierte auf. An die Stelle des (manipulierten) kollektiven Wahns ist die (manipulierte) kollektive Lust getreten. Es hat auf jeden Fall unbedingt damit zu tun. Die Lustbefriedigung entschädigt für die täglichen Erniedrigungen. Da braucht es keine Nationalflagge mehr. Und die deutsche bei den letzten Fußballweltmeisterschaften sagte nichts anderes aus: Wir können Weltmeister werden, so wie wir uns ein teures Essen in einem teuren Restaurant doch auch mal leisten können.
      Darum gibt es kein Geschichtsbewußtsein mehr, weil es in der unmittelbaren Befriedigung nur ein Heute gibt, dem alles andere egal ist. Und selbst wenn Geschichtsfetzen an die Lustobjekte geheftet werden, dann auch nur, um die Lustobjekte dadurch noch begehrlicher zu machen. Denn diese Geschichtsfetzen haben keinen Zusammenhang als den, den sie behaupten. Also keinen, weil sie unbegründet und aleatorisch daherkommen, je nach den Moden, die wir uns von Hollywood borgen. Man denke an die Kindergeneration nach Jurassic Park: wie viele Dinosaurier in den Kindernzimmern!

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