Arbeitsjournal. Sonntag, der 26. November 2006.

7.40 Uhr:
[Berliner Küchentisch.]
Den ganzen Abend dann mit Katanga und DB, diesem unfaßlich gebildeten Vater-Freund, hier am Küchentisch gesessen, ihm die Gedichte gezeigt, den ersten Entwurf des Drucksatzes… überm Titel – „dem Nahsten Orient“ – rümpfte er, über die Wortbildung Nahsten, momentlang sozusagen die Stirn, dachte nach, gab ihm schließlich d o c h die Imprimatur, nicht aber, ohne zu bemerken: „Das verstehst du s c h o n, nicht wahr, daß man darüber erst stutzt und sich eine Meinung bilden muß?“ Auf die Spur, es zu mögen, brachte ihn, daß sich hier ‚nächsten’ nicht sagen läßt und ‚nahsten’ nichts anderes als die poetische Verkürzung von ‚nahesten’ ist. – Dann ging er die Gedichte durch, die Hälfte etwa, immer wieder sagte er: „Ja, das s t eh t.“ Das war mir so wichtig.
Ich las noch aus den Elegien, die zehnte, die zwölfte, also die Vater-Elegie, schließlich die letzte, dreizehnte. „Das i s t was“, sagte er, zweifelte, als ich erklärte, ich wolle das so feste, starre Versmaß bei der Überarbeitung lockern; er verwies auf Hans Sachs, „du hast die Form gewählt, dann weich nicht von ihr ab.“ Und daß ich den Tod ‚rein’ nenne – im Gegensatz zum gewollten ‚unreinen’ Leben -, gefiel ihm nicht: „auch der Tod ist unrein“, sagte er, „aber da bin ich einfach anderer Meinung“ und wertete, letztlich, ‚rein’ als etwas Gutes. Was die Elegien ja gerade n i c h t tun. „Ich habe den Tod gesehen“, sagte er, „er ist ebenso schmutzig, und ich werde“ – er geht langsam auf die Siebzig – „immer, bis zu meinem letzten Atemzug, gegen ihn opponieren. Der Tod ist ein Skandal: Er hat keine Achtung vor der Jupiter-Sinfonie, er hat keine Achtung vor dem Faust, er hat keine Achtung vor Notre Dame.“ Bis zwölf saßen wir und sprachen. Er ist mit einem Teil seines Innren noch immer Soldat, was mir ganz fremd ist, was ich aber zu akzeptieren lernte über die Jahrzehnte, die wir uns kennen. Er hat einen Abscheu vor dem Gemetzel, dem Meucheln; deswegen verachtet er auch dort, wo die political correctness Verachtung nicht zulassen will; er sieht immer ganz genau hin, mit einem leidenden Auge, möchte ich sagen, und es ist egal, ob man sagen ‚darf’, was er sagt. Das bezieht sich auf Deutschland wie auf Israel, auf Bosnien wie auf die USA. Er macht keine Unterschiede. Bestialität nennt er Bestialität, und Schmutz nennt er Schmutz. Seine Frau verstarb an schlimmem Krebs, qualvoll, sie ging mit großem Leid ein. Seither ist er n o c h genauer, noch unerbittlicher auch; es hat ihn nicht milder gemacht, sondern schärfer. Immer war er auf der Seite des Lebens zuvor, immer zuckte er oft auch beim Erliegen eines Schwächeren mit der Schulter und formte einen Vers daraus, oder er zitierte aus der abendländischen Literatur; das hat sich geändert. Er strömt große Weisheit aus; aber eine Weisheit, die nicht weich und gefühlvoll ist, sondern die auf der Perspektive des Menschen b e h a r r t und sich nicht darauf einläßt, daß alles ‚nur’ ein Tanz von Werden und Vergehen sei. Dabei hat er viel Humor, aber dieser Humor hat nichts Härtlingsches, nichts christlich Einverständliches, sondern es ist eine, ja:, Weisheit des Widerstands. Ich kann nicht ausdrücken, wie groß meine Achtung vor diesem Mann ist.
Die Kinder spielten nebenan am Computer, wir ließen sie, um halb zwölf brachte ich meinen Jungen schlafen; er sackte sofort in Traum. Hernach brachte ich den Freund in die Arbeitswohnung hinüber, wo er nächtigt – oder, jetzt, genächtigt haben wird. Am Abend werden wir uns wiedersehen, wenn ich von der Geliebten komme, mit der wir uns morgen früh zum Frühstücken treffen wollen. Er selbst wird sich „Drei Schwestern“ ansehen, jeden seiner vier Berliner Abende im Theater oder in der Oper verbringen. „Magst du mitkommen, ich habe Karten.“ „Nein, Dieter, ich mag mit meiner Familie sein. Laß uns uns dann am späten Abend treffen.“ Der Profi will heute ja dazukommen. Und tags werden sich LH und >>>> parallalie melden, und wir werden schon fürs Lektorat der Elegien zusammensitzen. LH nächtigt heute in der Arbeitswohnung, DB wird hier in der Kinderwohnung schlafen, ich werde drüben bei der Familie schlafen. Die geht aber immer so früh ins Bett, schon gegen halb neun, das krieg ich für mich eh nicht hin und werd dann wieder hinausgehn.
Was mir wichtig war: „Weißt du, Dieter, es hat mich sowas von gewurmt, daß man mir immer wieder sagte: Du bist ein guter Schriftsteller, aber kein Dichter. Ein Dichter ist was anderes. Daß ich jetzt Lyrik schreibe, ist deshalb geradezu notwendig gewesen. Um das Mißverständnis auszuräumen, mit dem meine Romanarbeit und meine Prosa insgesamt betrachtet wird. Die Perspektive ‚Schriftsteller’ ist ganz falsch, ist es immer gewesen; ‚Schriftsteller’ ist ein Begriff für das Finanzamt.“ Wir sprachen noch über Religionen. Er, der Evangelist, erbost sich. „Was ist das für ein ‚Erlösungs’werk! Was soll das wohl für ein G o t t sein? Was soll da gerecht sein?! Und selbst bei Jesus von Nazareth: Dessen Erlösungswerk beginnt mit einer Säuglings-Abschlachterei! Erzählt mir nichts von ‚Erlösung’!“ „Ich hab’s in THETIS aufgenommen, ganz mit denselben Worten: Erlösung wird, wenn wir die Säuglinge schlachten. Man hat mich dafür scharf angegriffen. Keiner sah, w a s ich damit im Focus hatte.“ Und ich zitierte meine Rilke-Travestie: „Ein jeder Erlöser ist schrecklich.“ So steht das ja a u c h drin in THETIS.
Ich zeigte ihm noch die Kerze auf der Toilette; es gibt in dem Räumchen sonst kein Licht; ich zeigte ihm, daß man die Mischung von warmem und kaltem Wasser in der Dusche vermittels des Wasserzufuhrreglers bestimmen muß, was Fingerspitzengefühl braucht; der Warm/Kaltwasserregler ist seit Jahren kaputt. Er möchte gern zweidrei Monate in Berlin verbringen, so, wie er zweidrei Monate in Rom verbracht hat, in New York City, in Kairo. Ich bot ihm die Arbeitswohnung an, „bis April kann ich sie sowieso kaum nutzen, und wenn die Zwillinge geboren sein werden, schon gar nicht; da werd ich eh vor allem bei der Geliebten sein, also nutz meine verbleibende Bamberger Zeit.“ „Dann muß ich dir aber wenigstens etwas zahlen.“ „Nein, aber für Kohlen mußt du sorgen, es sind nicht mehr genügend da; es hätte in diesem Jahr nicht gelohnt, welche zu kaufen.“ Und wenn er die kleine Miete in der Zeit übernähme, wäre es auch wirklich genug. Ich denke, er wird das Angebot annehmen. Es tut mir eh leid, daß diese Arbeitswohnung so lange ungenutzt auf einen warten muß, der sie füllt.
Ich werde also auch heute nicht viel, vielleicht auch gar nichts tun. Nichts anderes, als für den Jungen dazusein und mit den Freunden die Elegien durchzusprechen und abends mit der Familie zu sein und danach wieder mit den Freunden. Bewußt schlief ich heute aus, bewußt lege ich an diesem zweidreitägigen Nichtstun – nichts schaffen – als an einer Insel an, auf der ich mein Schiffchen mit Wasser versorge. Vielleicht formuliere ich aber noch die Bewerbung für das Essay-Stipendium der Stiftung Niedersachsen. Man schrieb mir auf meine Anfrage: „ (…) meine Antwort halte ich bewußt kurz: bewerben Sie sich!“
Guten Morgen.

9.08 Uhr:
Katanga machte mich gestern nacht noch auf etwas aufmerksam, das ich ganz anders empfand. Ich sagte: „Ich habe die Bamberger Elegien in einem halben Jahr geschrieben“, er sagt „nein, du hast sehr viel weniger Zeit gebraucht“, ich sagte „du irrst dich“, er sagte „überprüf’s“; ich überrüfte. Er hat recht. Die Datei sagt, daß die Arbeit am 4. August begonnen wurde; also sind die Elegien in dreieinhalb Monaten entstanden. „Und dazwischen“, sagte Katanga, „hast du noch den PETTERSSON geschrieben.“ – Starkes Gefühl von Stolz, so im Zurückschaun. „Und die vielen Gedichte“, sagte ich, „die sind ja a u c h noch entstanden.“ Wenn ich das ansehe, dann hat das immer ein unmittelbares Wissen darum zur Folge, daß ich was bin. Der Junge ist gerade erwacht, wir schmusten etwas, und ich bin durchflossen von Vater: etwas geben zu können, etwas weitergeben, vielleicht sogar –reichen zu können.

17.34 Uhr:
Lyriker und Lyrikkenner am Berliner Küchentisch.(Ich bin wieder bei den Jungs, gleich geht’s heim zur Geliebten bis etwa halb neun. LH und parallalie plaudern derweil in der Arbeitwohnung, DB ist zu Tschechows Drei Schwestern in die Schaubühne gefahren; gegen 22 Uhr werden sich alle wieder zusammenfinden, im Prater Kastanienallee; auch der Profi wird dazustoßen. Getan hab ich nix. Und nicht die Spur eines schlechten Gewissens. Über die Elegien gesprochen wurde allerdings schon – Vorscharmützel, sozusagen.)

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .