Arbeitsjournal. Sonntag, der 17. Dezember 2006.

6.39 Uhr:
[Berlin. Küchentisch.]
Folgender Gedankengang dreht sich heut früh durch mich hindurch; meine mehr als marode Finanzsituation läßt ihn mich denken. „Seinem Kind aus ökonomischen Gründen nicht bieten zu können, was dieses Kind brauchte und sich wünscht, ist inakzeptabel. Da es andere Familien gibt, d i e es können, und zwar ohne aus eigener Kraft und Leistung dazu befähigt worden zu sein, sondern etwa durch Erbschaft usw.“ Ich werde, sozusagen aus Vaterliebe, marxistisch auf meine älteren Tage. Hierbei geht es vor allem um Materielles, nicht etwa um Zuneigung oder Vermittlung von Kultur, aber in der materialistischen Welt und gerade in ihrer perfektionierten Form der demokratischen kapitalistischen Gesellschaft wird Materielles zunehmend zu einer Form von Bildungs-Voraussetzung und bestimmt in jedem Fall den Status innerhalb der Sozialität. Sollte in meinem eigenen Fall die Differenz zu anderen Familien zu scharf werden, würde ich mich deshalb nicht scheuen, kriminell zu werden. Das bedarf selbstverständlich der Raffinesse, denn man mag ja nicht erwischt werden. N i c h t akzeptabel ist aber, das eigene Kind darben zu lassen. Nicht akzeptabel ist jedoch ebenso, sich deshalb dem allgemeinen Vollzug anzupassen und nun etwa Bücher zu schreiben, die sich dem Primat der Unterhaltung, des Entertainments, beugen oder überhaupt von der Kunst-Schöpfung abzusehen, um zur Sicherung der Familie einem ‚normalen’ Beruf nachzugehen, der der Familie die existentiellen Grundlagen herbeischafft. Es wäre wiederum Verrat und zudem, politisch betrachtet, eine Art Anschluß. Abgesehen davon, daß ich das gar nicht könnte und sowieso nicht die Zeit für so etwas hätte: zu vieles liegt noch unausgeführt auf meinen Schreibtischen (weniges), in meinen Laptop-Dateien (viel) und in meinem Kopf (sehr viel) herum. Allein die Lebenszeit, die einer hat, ist zu knapp bemessen, um selbst ohne solch einen die Existenz sichernden Beruf allesdas auch nur einigermaßen ‚fertig’zubekommen. Bedeutet, ein guter Vater zu sein, möglicherweise a u c h: es aufzugeben?
Aber vielleicht – dieser Gedanke beschäftigt mich schon seit Wochen – bedeutet zu leben gerade a u c h: sich mit prinzipieller Unabschließbarkeit abzufinden; die Kunst-Idee einer formenden, es geformt habenden Klammer, i s t eben Kunst-Idee und als solche prometheisch: ein Aufstand gegens Naturgesetz; Natur erfüllt sich aber nicht, Teleologisches ist ihr wahrscheinlich ganz fremd, sondern sie läuft einfach immer weiter. Am nächsten kommt dieser ins Gesellschaftliche projezierten Auffassung der Hinduismus, am nächsten auch und gerade in der Ergebung darunter.
Andererseits, „es aufzugeben“: Ich habe vor etwa fünfundzwanzig Jahren Freunden gegenüber gesagt, ich würde mich durch meine kommende Lebenshaltung in eine Situation zu bringen wissen, die es mir eines Tages – wenn die Kräfte nachließen und die Hemmungen größer würden – nicht mehr möglich machten umzukehren. Das war erklärte Absicht und ist heute erreicht. „Ich werde eine lebensgeschichtliche Situation herstellen, die es mir gar nicht mehr möglich macht, korrupt zu werden – selbst dann nicht, wenn ich es wollte.“ Als ich das aussprach, war ich 25 oder 26 Jahre alt und wußte bereits sehr genau um den Widerstand, den man mir und meinen späteren Büchern entgegensetzen w ü r d e. Meine Haltung war – aufgrund der sehr bewußt gemachten Erfahrungen von Kindheit, Jugend, Schule und Elternhaus – bereits mit den ersten Publikationen als eine einzelkämpferische definiert und damit als eine des Widerspruchs von stark prinzipieller Prägung (daher meine ‚Querköpfigkeit’). Bis heute ist mir ein kontemplatives Verständnis von Welt sehr femd, auch wenn ich unterdessen – aus Alters- und Erschöpfungsgründen wahrscheinlich – bisweilen harmonisierende Anfälle habe. Ich würde diesen Kampf sogar einen Krieg nennen wollen, wäre nicht ‚Krieg’ insofern falsch, als er voraussetzt, daß sich die Kämpfer ihrer Eigenentscheidung begeben und Fremdentscheidungen einspruchslos akzeptieren. ‚Krieg’ ist insofern ein sozialdynamisches Geschehen und von streng hierarchisiertem Character, der auch akzeptiert – also gewollt – wird; es kommt auf eigenen Willen nach der ersten Entscheidung in ihm nicht mehr an. Man gibt den den eigenen Willen an den Willen anderer – Vorgesetzter – bedingungslos ab. Deshalb kennt der Krieg keine Verantwortlichkeit des Einzelnen, bzw. nur eine der jeweiligen Befehlshaber. In meinem – nahezu instinktiven – Kampfverständnis ist es grad umgekehrt: es kommt auf den Willen der Sozialität nicht an; Befehlshaber über sich ist alleine man selber; schon über andre befehlen zu sollen, ist eine Zumutung. In vielen Gesprächen mit Freunden wurde allerdings d a s deutlich: Die meisten Menschen w o l l e n nicht kämpfen; ich meinerseits wüßte gar nicht, was tun, gäbe es den Kampf nicht. In diesem Sinn auch der Profi: „Du definierst dich immer über deine Feinde, nie über deine Freunde.“ Insofern waren und sind schlechte Kritiken für mich stets wichtiger als gute, die mich immer etwas hilflos machen; jene hingegen lassen mich denken: Was ist nun strategisch der nächste richtige Schritt?

[Krieg.]

Ein hübscher Adventseintrag, fürwahr!

6 thoughts on “Arbeitsjournal. Sonntag, der 17. Dezember 2006.

  1. Das einzige ‘Ding’…, was ich heute früh für Sie ‘drehen ‘kann, besteht leider
    nicht aus ‘schlechter Kritik’, sondern aus Zustimmung.
    Jede Form einer Teleologie ist erschlichen…
    Was vorgibt, ‘Lebenswerk’ zu sein und damit Abschluss
    suggeriert, ist in aller Regel eine Projektion des Feuilletons.
    Allerdings neige ich sehr stark dazu, einen im beschriebenen Sinn
    motivierten ‘kriminellen Coup’ als legitime Finalursache
    gelten zu lassen…
    (Einen schönen Advent wünsche ich!)

    1. Die “legitime Finalursache”. Macht mir, so schartig sie auch ist, grad unerwartetes Vergnügen. Wie pfiffig!

      Und selbstverständlich m a g ich gute Kritiken und genieße sie. Aber sie treiben nicht weiter. Das eine ist der Narzissmus (Eitelkeit), das andere ist das Werk.

  2. Vielleicht überschätzen Sie ein bisschen die finanzielle Unterstützung, die ein Kind von seinen Eltern fürs Studium braucht.
    Meine Eltern waren nicht in der Lage, mich finanziell, dafür aber in allen anderen Belangen, während dem Studium zu unterstützen. Und dennoch hab ich’s geschafft. Obwohl ich nebenher arbeiten musste, war die Studienzeit eine schöne, wenn auch nicht immer einfache.

    1. Ich mach mir, lieber Hediger. Einfach ein bißchen Sorgen. Sehen Sie’s s o. Und meine vitale Struktur ist eine, die immer sofort überlegt: “Was tu ich im Falle, daß das und das passiert?” Ich sehe mögliche Geschehen immer wie eine Erzählung an und schaue, in welche Richtungen sie zielt.

    2. Das verstehe ich sehr gut. Aber versuchen Sie a u c h es so zu sehen: Die Erziehung und damit all die Werte und Stärken, die Sie Ihrem Sohn jetzt schon vermitteln, werden ihn befähigen, sich sehr gut selbst durch und für sein Leben zu schlagen. So wenig ich über Ihren Sohn auch weiss, er scheint mir ziemlich gut darauf vorbereitet zu werden.
      (Er wird s e i n e Erzählung schon zu schreiben wissen.)

      Ich weiss, ich habe gut reden. Mein Kind kann jeden Augenblick nun auf die Welt kommen und es ist mir bewusst, dass sich meine Ansichten und Meinungen und Überzeugungen da von einem Augenblick auf den anderen sich ändern können. Wenn eigenes Blut in anderem Fleisch fliesst – das wirft so ziemlich alles über den Haufen, was an vorgefassten Meinungen jetzt vielleicht noch vorherrscht.

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