Paul Reichenbachs Donnerstag, der 12. Juli 2007. Stimmungen.

Stimmung I.
9 : 45 Uhr

Eintagswesen! Was ist einer denn, was ist einer nicht?
Eines Schatten Traum ist der Mensch…

(Pindar)

Niemand, behaupte ich und setze mich damit garantiert ins Unrecht, der durch Rom spaziert, kann eigentlich wirklich begreifen, dass er einen Boden berührt, den vor ihm tausende Jahre zuvor schon andere gingen. Die Oh und Ah der Touristen gelten nur den Nachbarn, die ebenso in Oh und Ah ausbrechen, wenn sie die anderen hören. Sie alle sehen, was sie sehen wollen und was ihnen gesagt wird, sind kommunizierende Esel, die sich der Lautverschiebung unterwerfen. Statt IA schreien sie jetzt Oh Ah. Und es ist fast egal an welchem Ort der Welt, ob in Kairo, Peking oder Machu Pichu sie lautstark ihr Staunen simulieren. Da ist kein Gedanke an Brechts Fragen eines lesenden Arbeiters und der Begriff Suburba ist ihnen fremd. Das „Ächzen der Jahrhunderte“, es stöhnt aus den Steinen, vernehmen sie nicht. Ich bin heute ganz schlecht drauf und ungerecht. Mit zunehmendem Alter tendiert die eigene Zukunft gegen Null, las ich einmal, da muss man sich nicht mehr um solche unbestimmten Begriffe wie Gerechtigkeit kümmern. Die Frage nach der Zukunft der Demokratie, die gestern ANH in seinem Kommentar aufwarf und vor allem >>>walhalladadas Musilzitat ließen mich schlecht schlafen. Ich weiß keine Antwort…und muss aufpassen, dass mich mein Pessimismus nicht zerfrisst. Denn er ist nichts weiter als die Summe der Zeiten, als ich mich dem Wahnsinnsgedanken der Weltverbesserung hingab. Die Dinge rächen sich, frei nach Gracian, im verlängerten Umgang durch Ekel und die Lust an ihnen verliert sich mit ihrer Kenntnis.

11:00

*Alle Esel, die Lastenträger und klugen, potenten Grauköpfe bitte ich, wegen des obigen Vergleichs um Vergebung.

12:00
Piazza Navona

Der König: „Sie sind beide zur Stadt gegangen.
Guck doch die Straße hinab und sage mir, ob du einen
von beiden sehen kannst.“ „Ich kann niemanden
auf der Straße sehen“, sagte Alice.
„Ich wünschte,ich hätte solche Augen“,
sagte der König in einem schnippischen Ton.
„Fähig zu sein Niemanden zu sehen!
Und dazu noch in solcher Entfernung!“
(Lewis Carrol, Alice im Wunderland)

Niemanden sehen heißt alle sehen
und Keinen erkennen
.

Stimmung II
14:00

Wer hier liest, kennt schon, was jetzt folgt. Der Tag ist heute nicht für das TB gemacht. Server- Ausfall bei unserem Büroprovider und zu Haus geht der PC nur noch schleppend und mit gutem Zureden. Der Bildschirm fällt einfach aus oder flackert und flimmert in einem grellen Grün, das in die Augen sticht. Die gelbe Signallampe der Festplatte leuchtet unaufhörlich. Jeder Klick braucht lange Zeit ehe er sich in eine Operation verwandelt. Der Lüfter hat Probleme mit dieser permanenten Festplattenrotation und wird dementsprechend laut. Das geht nun schon seit Wochen so. Eine Lösung wäre ein Neuaufbau des Systems, davor graut mir aber. Bin ich doch überhaupt nicht sicher, ob ich noch alle Programme in CD-Form habe. Es wird Nachmittag. Langsam schiebt sich die Sonne durch den Wolkendunst und der Text vom Morgen scheint obsolet. Sein vergnatzter Pessimismus wird nun herzlich verlacht. Was schert die Welt dich…, meint das Alter Ego.

Stimmung III
17:00

Ich falle und falle, stolpere und falle, stehe auf
und falle erneut, Rückfälle sind
meine Spezialität. Was habe ich anderes getan
als vorzutäuschen, ich käme heraus, und zurückzufallen?
Niemanden ziehe ich je mit
im Fall. Große Gleichgewichte umgeben mich,
stützen mich aber nicht, nein, gerade weil ich falle,
bleiben sie aufrecht. Wie schön war das alte
Liebespaar, das Arm in Arm
im doppelten Überschwang sich messen wollte
mit der Absperrkette am Ponte Sisto,
überzeugt, dass ihr Zusammenbleiben ihnen
Halt gäbe, fielen sie gemeinsam,
noch immer Arm in Arm, nicht gedemütigt,
aber gewiß erstaunt, wie diese
vollkommene Zweisamkeit sie aus dem Lot brachte,
und dennoch einander dankbar,
zu zweit zu sein, so dass keiner von beiden,
der eine unversehrt, den anderen fallen sah.

Patrizia Cavalli

Ja ! ….

2 thoughts on “Paul Reichenbachs Donnerstag, der 12. Juli 2007. Stimmungen.

  1. der anamorphotische blick… “Aber in diesem Alter, mit fünfzig(?), sieht man den zeugenden (und immer wieder die sogenannte Geschichte, um die soviel Geschichten gemacht werden), fortzeugenden Strom doch schon von seitswärts her, wie er da zu fernen Rändern rinnt, ohne jemals zu Rande zu kommen. Und bei einem solchen Anblick wird es vollends unglaubhaft, es sei dies fortzusetzen oder auch verneinend und vernichtend anzuhalten, als des Menschen Lebens-Inhalt oder seine eigentliche Aufgabe gemeint. Sie wird darauf keinen anderen Bezug haben als den eines nicht als Protest vorgebrachten sondern als Faktum gesetzten Trotzdem. Als welches wohl ein vollständig Neues ist gegenüber dem unaufhörlich alternden Dahinfallenden, jedoch erkannt als eben denselben sieben Tönen impliziert wie dieses und so in fundamentaler Weise unrevolutionär.
    Die konservative Haltung reiferer Jahre ist nicht ein Nachlassen des Sturmes und Dranges, sondern dessen eigentliche und genauere Richtung”.

    (H.v. Doderer: Liber Epigrammaticus, 1947)

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .