Heidelberger Vorlesungen III (2). Kybernetischer Realismus, ff.

[Fortsetzung von >>>> hier.]

In der Matrix des Kybernetische Realismus stehen nicht nur faktische Er/Kenntnisse als Komponenten, sondern auch Möglichkeiten; insofern ist er kein ausschließendes, sondern ein integratives poetisches Verfahren, das kausale Zusammenhänge eben n i c h t festfährt. Für einen Roman bedeutet das, daß dieselben Erzählstränge sich ebenso spalten können wie die erzählten Subjekte und daß diese gespaltenen Erzähl­stränge jeder zu anderen Weiterhandlungen führen, die parallel miterzählt werden, ohne daß es einen Akzent auf eine bestimmte Weiterhandlung, bzw. ihre Bevorzu­gung gäbe. Schon deshalb ist es unmöglich, einen die Gegebenheiten der nachpost­modernen Gegenwart nicht ignorierenden Roman so zu planen, daß von Anfang an ein Ziel feststeht, auf das dann hingeschrieben wird. Zwar mag ein Ziel intendiert sein, es wird aber praktisch nie oder nur in einem von vielen möglichen Erzählungen über denselben Handlungsgegenstand erreicht.

Immer wieder, während ich an dem dritten ANDERSWELT-Band arbeitete, wovon ich über drei Jahre lang täglich Textproben in das Literarische Weblog stellte, sind diese von Lesern Der Dschungel kommentiert, teils kritisiert, teils ergänzt und weiterfantasiert worden. Vieles davon habe ich meinerseits in meine laufende Arbeit hineingenommen und weiterverarbeitet. Kommentatoren wurden sogar zu Figuren des Romanes selbst, etwa Brem, der sich schließlich zu einer der tragenden Figuren ausgeformt hat; ohne ihn wäre der Roman heute gar nicht mehr denkbar. Das war anfangs durchaus nicht abzusehen, geschweige geplant. Eine wieder andere Person ersteigerte sich bei ebay das Recht, Romanfigur zu werden; das ging seinerzeit heftig, auch mit Häme, durch die Presse. Anders, als mancher meiner Kriti­ker das will, handelt es sich bei so etwas nicht um ästhetische Marketing-Mätzchen, sondern um eine von mir bewußt umgesetzte Strategie, Wirklichkeit und wirkliche Menschen in die Texte hineinzubekommen und sie auf diese Weise mit der Imaginationswelt interagieren, das heißt auch umgekehrt: von dieser die Realität verändern zu lassen.
Und als wäre er nach einer Berlinreise aus dem ARGO-Roman nach Winterthur heimgekehrt, schrieb der völlig reale Schweizer Schriftsteller >>>> Markus A. Hediger >>>> am 2. Dezember 2005 in Der Dschungel:

Romanfigur Hediger (3). Als diese sehe ich mich selbst spätestens seit ich der Romanfigur Herbst in Berlin begegnete. Und bin ausserordentlich verwirrt deshalb, weil ich nun den Verdacht nicht loswerde, Herbst habe mich tatsächlich erfunden. Nun bin ich Romanfigur, die sich in Variationen selber liest.

Ich hatte nämlich aus ihm und einer imaginierten Romanfigur einen weiblichen Hybriden synkretisiert, der allein über ihren Namen („Judith Hediger“) mit dem Schriftsteller-Kollegen verbandelt war; dennoch war der nun immer wieder auf sie angesprochen worden; man war sich offenbar nicht sicher, ob ich nicht eine mögliche Schwester oder sonstige Verwandte Hedigers portraitiert hatte. Diese Mischung ist für den Kybernetischen Realismus maßgeblich. Sie spiegelt unsere medial vermittelte Weltwahrnehmung sehr viel exakter und ist deren künstlerischem Ausdruck sehr viel angemessener als jegliche Ästhetik, die es auf Dokumentation eines vermeintlich Wirklichen anlegt, das wir letztlich doch glauben müssen, weil wir die Angaben nicht selbst überprüfen können. In jedem Fall gelangen Sie auf diese Weise zu einem Romanmodell, das sich jeglicher Eineindeutigkeit verweigert und dennoch, je im Hinblick auf einen bestimmten Erzählstrang, sinnlich evident und auf sich bezogen den Gesetzen der Kausalität verpflichtet bleibt. Prinzipiell gilt, daß der Eingriff in ein Geschehen Auswirkungen auf jedes Einzelelement des gesamten ökologischen Systems hat, also auf jede Komponente der narrativen Matrix. Insofern der Kybernetische Realismus sich wie alle vorgängigen Ästhetiken zur Wirklichkeit mimetisch verhält, so eben hier zu einer prozessual verstandenen, also immer in Bewegung befindlichen Wirklichkeit.
Daraus ergibt sich abermals, daß ein nach-postmoderner Roman, der nicht regressiv ist, kein bestimmtes Ende haben kann, sondern immer nur verschiedene bestimmte Enden. In WOLPERTINGER ODER DAS BLAU finden Sie diesen Ansatz in den drei einander widersprechenden Epilogen, die das Buch abschließen und geradezu notwendigerweise in ein nächstes Buch hineingeführt haben: in den ersten Band der Anderswelt-Triologie nämlich, in THETIS. ANDERSWELT. Es handelt sich insge­samt n i c h t um ein hermetisches Erzählprinzip, sondern gerade um das Gegenteil. Daß dennoch oft eine starke Hermetik empfunden wird, liegt daran, daß wir es ge­wohnt sind, gewohnt gemacht worden sind, die Abschließbarkeit von Handlungsvor­gängen vorauszusetzen und sie in einem Roman deshalb zu erwarten, ja sie von ihm zu fordern. Hiergegen steht meine Arbeit und steht der Kybernetische Realis­mus völlig quer.

Tatsächlich versteht der Kybernetische Realismus Realität als eine Spielform – einen prozessualen Aspekt – von Dich­tung und Dichtung als eine Spielart der Realität. Damit ist n i c h t gemeint, daß die Welt ein Text sei, wohl aber, daß unsere Art, sie bewußt, d.h. begrifflich, wahrzuneh­men, immer schon semantisches Feld ist, das von a priori vorhandenen Kategorien der Anschauung gesteuert wird. Das direkte, sinnliche Moment von Lust und Schmerz ist selbstverständlich etwas anderes, ist reagens, doch sowie wir uns darüber verständigen, haben wir es mit dem semantischen, vorgegebenen Feld zu tun. Man kann deshalb sagen: wir nehmen Welt, wenn wir sie begrifflich-bewußt wahrnehmen und darstellen, als eine Dichtung wahr. Beide sind, da haben die monotheistischen Religionen recht, im Wort verknüpft. Hingegen ist Unmittelbarkeit nur im Bild zu haben. An die Präsenz eines Glases Wasser, sagte ich einmal, reiche kein Satz heran.

Die kybernetische Erzählweise ähnelt biologischen, bzw. gesellschaftlichen Matrices: diese, als sublimierte Natur, stellen die Vorlagen für die literarisch-mimetische Organisation nachpostmoderner Texte. Deshalb wird Selbstreferentialität als weiteres Form-Erbe der Moderne in den Kybernetischen Realismus übernommen; das erste ist die Seelen-, d.h. Wahrnehmungsdichtung der Phantastik. Dazu kommen die Collage so­wie das Unternehmen einer Aufhebung der strikten Trennung von poetischer und geisteswissenschaftlicher Arbeit. Nietzsche war noch den umgekehrten Weg gegan­gen und hat aus spekulativer Wissenschaft Kunst gemacht; davon ist Adorno sehr beeinflußt. Musil drehte das wieder um und kam damit Borges’ nicht nur iro­nischer Bemerkung nahe, die Metaphysik sei ein Zweig der Phantastischen Literatur. So lautete denn auch das Motto meiner Zweiten Vorlesung. Der Kybernetische Realismus versucht, die Positionen zusammenzudenken und dabei auch die Positiven Wissenschaften, Physik, Chemie und ihre derivaten Disziplinen mitzupoetisieren. Immerhin haben sie die mächtigsten Wirkdynamiken unserer letzten beiden Jahrhunderte gestellt, und zwar in zunehmend schneller aufeinanderfolgenden Zeiteinheiten – ein Prozeß, der ganz sicher noch lange kein Ende finden wird. Die Entwicklung vollzieht sich exponentiell. Hingegen läuft Dichtung nur träge, ihr Formenkanon ist konservativ und scheint müde zu sein, ermüdet. Das hat sie zurückbleiben und noch nicht einmal eine befriedigende Ausdrucksform finden lassen, die den Wahrnehmungen einer schnellen Autofahrt gerecht wird. Von einigen wenigen, die Schnittechniken des Films in die Dichtung übertrugen, sitzen die meisten Dichter noch immer in einer Kutsche und stoßen, wie Goethe es tat, mit dem formalen Gehstock gegen die Decke, wobei sie dem Kutscher zurufen: „Fahre Er langsamer! Ich kann ja gar nichts erkennen!“ Wofür man Verständnis aufbringen kann, nur daß das Auto sich deshalb nicht in eine Kutsche zurückverwandelt, sondern längst sehr viel schnellere Techniken des Ortswechsels in der Entwicklung sind.

Es ist diese Haltung freilich auch eine deutschsprachige Spezialität; in anderen Idiomen verhält man sich gegenüber zum Beispiel sogenannter Science Fiction ganz an­ders. Daran hat auch nichts geändert, daß sowohl Döblin wie Ernst Jünger und Arno Schmidt hier grundsätzlich Eigenes dem Kulturschatz beigelegt haben. Da verwundert es wenig, wenn der negativen Voreingenommenheit gegenüber der Technik und also der Science Fiction eine Vor­eingenommenheit gegenüber dem Internet und überhaupt gegen Moderne und Fortschritt entspricht. Doch der von der sogenannten Linken aus freilich guten moralischen Gründen sozialpolitisch ge­steuerte Überhang drückt selbst herausragende Arbeiten in den Schutt der Literaturgeschichte. Weiß wohl jemand unter Ihnen mit dem Namen >>>> Heinrich Schirmbecks etwas anzufangen? Wahrscheinlich nicht. Es ist für unseren Kulturraum bezeichnend, daß selbst die Literatur der Unterhaltungsgenres vergleichsweise wenig zu den modernen Wissenschaften zu sagen hat, wiederum anders als im vor al­lem englischsprachigen Raum, aus dem deshalb die einschlägigen Romane permanent ins Deutsche übersetzt worden sind. Ich möchte noch einmal auf William Gibson ver­weisen. Nicht ästhetisch, wohl aber prophetisch ist nicht weniges aus seinen Roma­nen ausschlaggebend für reale kybernetische Entwicklungen geworden; ganz ähnlich sind die Quarks der subatomaren Physik ausgerechnet nach einer Bemerkung aus Joyce’s Finnegan’s Wake benannt.>>>> 7. Sehr wahrscheinlich gibt es hier eine Verbin­dung zu der Unterhaltungs-Ferengi-Figur Quark aus Deep Space Nine. Aus dieser Perspektive kann die proklamierte Ununterschiedenheit von U und E sogar als das notwen­dige Ergebnis eines Realitätsversäumnisses begriffen werden, nämlich eines mangelnden Wirklichkeitssinns der deutschsprachigen E-Literaturen nach 1945.
Jedenfalls ist der deutsche sozialbetonte E-Roman in seiner Moralität kleinmütig; ge­nau das läßt ihn die Provinz so favorisieren, an der die Gobalisierung ziemlich kalt­schultrig vorbeiläuft, um nicht zu sagen: über die sie mit Strahlenfliegern hinwegdüst. Daß sich die in meinem THETIS-Roman erzählte, von einer fundamentalislamischen Befreiuungsorganisation durchgeführte Sprengung des World Trade Centers drei Jahre nach Erscheinen meines Buches auch noch verwirklicht hat, macht das Mißtrauen gegenüber technischen und technolo­gischen Fantasien deshalb nur um so nachdrücklicher. Dabei ist das Geschehen, äs­thetisch betrachtet, nicht erst seitdem ein Thema gewesen. Es hat sich zugleich, siehe Allegorie, aber eben w i e d e r in einem Unterhaltungswerk, von Ro­land Emmerich ausdrücken lassen.
Insgesamt hat speziell die deutschsprachige Dichtung ihren alten Zug in die Projekti­on verloren und sich mit ihrem Realismus in die Klage zurückgezogen; sie ist rund­weg retrospektiv geworden. Man kann sagen, sie schaut trauernd auf ihre verlorene Bedeutung zurück, die sich genau deshalb nicht wiederherstellen kann, son­dern sich, wenn überhaupt noch an Literatur, an die U-Literatur delegiert. Hans-Ulrich Treichel, der zugleich Ro­manautor und Literaturpädagoge ist, >>>> sagt es deutlich genug: „Der Romanau­tor ist jemand, der immer zurückblickt. Egal, wohin er sich wendet. Der Romanautor ist, auf seine Weise, immer schon tot.“ Daß jemand mit einer solchen Perspektive auf Zukunft eines der maßgeblichen deutschen Literaturinstitute leitet, dessen Aufga­be vor allem die Ausbildung junger Schriftsteller ist, ist an sich skandalös. Der Mann sollte mehr vögeln, als solchen Quatsch zu äußern. Allerdings verschmilzt die rückgewandte Dauer-Trauer semantisch oft mit einer, die ihren Gegenständen tatsächlich angemessen, eben weil sie der Ausdruck eines Geschichtstraumas ist. Nur hat es die deutschsprachige Dichtung fetischisiert, anstelle wirklich etwas aufzuarbeiten, und Fetische sind Lust-Gegenstände. Die halten die Dichter an der doch Göttinseidank verlorenen und ja auch beklagten Welt fest, anstelle daß sie einer kommenden als Pfadfinder, meinethalben auch als Aufklärer, vorauszulie­fen. Aufklärung, im übrigen, ist >>>> auch ein militärischer Begriff.
Wir leben in einer Zeit direkter aufeinandertreffender Widersprüche und A-Historizi­täten, als das jemals zuvor der Fall gewesen ist. Man könnte allenfalls, aber selbst da sind die historischen Ungleichzeitigkeiten vergleichsweise lächerlich, das 16. Jahrhundert und den Einfall der technologisch überlegenen Spanier in die mittel- und südamerikanischen Kulturen zum Vergleich herbeiziehen. Den Prozeß aufeinan­derrückender Ungleichzeitigkeiten nennen wir Globalisierung. Es scheint mir, um eine literarische Leitbedeutung wiederzuerringen, unabdingbar zu sein, daß die poetische Ästhetik sich nicht nur den Globalisierungsprozessen, sondern den von ih­nen betroffenen Seelen anzunähern und ihnen zu entsprechen versucht. Das geht nicht ohne ein spürbares und oft schmerzhaftes Knirschen im Gefüge der Konstruk­tionen ab. Denn schon der Begriff-von-Seele selbst scheint zutiefst unzeitgemäß, un­modern, zu sein. Er begründet ebenfalls die Wiederaufnahme traditioneller Erzählmodelle, allerdings bereichert um – oder, je nach Perspektive, versäuert mit – den Erkennt­nissen der Moderne. Für mich hat das einen ungemeinen Reiz. Es ist die Erzählung, oder eine Erzählung, aus dem Erzählstrom der Gleichzeitigkeit. Simultanität ist also der nächste Poller, um dem der Kybernetische Realismus seine Leinen wirft.
Stellen Sie sich einen letztlich in mittelalterlichen, ja vormittelalterlich-tribalen Sozi­alstrukturen lebenden gläubigen Islami vor, über den die volle Flut der westlichen… ich bin mir nicht sicher, ob ich „Freizügigkeit“ schreiben darf… über den jedenfalls so etwas mit vollen Pranken hinüberschwappt. Und stellen Sie sich vor, daß derselbe Mann Waffen an die Hand bekommt, die dem historischen Stand seiner Entwicklung in gar keiner Weise entsprechen>>>> 8, schon allein, weil er die bewußte Erfahrung von Ab­schreckung und Kaltem Krieg nicht in einer Weise hat mitmachen können, wie sie uns geradezu schon in die Genetik gerutscht ist. Stellen Sie sich also sein Recht vor, und stellen Sie sich gleichzeitig unser Recht vor mitsamt den Errungenschaften eines Gesellschaftsvertrages und überhaupt der Entwicklung imaginärer autonomer Sub­jekte. Beide Rechte s i n d Rechte, aber sie schließen einander praktisch aus. Das gilt insgesamt für verschieden geerdete Moralsysteme, die sich nun alle aufeinanderschieben wie gegeneinandergestoßene Schollen des Erdmantels. Das tragödische Material, das Gebirge, das diese Situation auffaltet, ist unübersehbar.
Griffe uns eine außerirdische, uns technisch weit überlegene Zivilisation an und verlangte, wir möchten, weil wir noch unentwi­ckelt seien, auf unsere moralischen Errungenschaften, etwa die Menschenrechte, ver­zichten – gar kein Zweifel, wir betrachteten das als feindliche Intervention und würden uns mit allen Mitteln, auch kriegerischen, zur Wehr set­zen würden. Zugleich hätte die uns überlegene Zivilisation aber möglicherweise recht; in jedem Fall hat sie es in Bezug auf ihr eigenes, ebenfalls internalisiertes Moralsystem. Nicht anders haben wir recht, wenn wir uns gegen die Verletzung der Menschenrechte in außereuropäische Kulturzusammenhänge einmischen. Da es der Ethik bis­lang nicht gelungen ist, die ihr eigene Letztbegründungsproblematik zu lösen, stehen hier verschiedene Rechte als mit gleichem Recht empfundene einander feindlich gegen­über. Allein, um einer solchen Situation erzählerisch gerecht zu werden, bedarf es eines mehrper­spektivischen Ansatzes, ohne daß wieder dieser auf die Seite der so und/oder so par­teiischen Autorenintention ein besonderes Gewicht legt. Imgrunde müssen Sie das Recht beider – und mehrerer – Seiten gleich nachempfindbar gestalten. Schon hier ist zu erkennen, von welcher Strahlkraft der antike Tragik-Begriff selbst für unsere Ge­genwart ist. Es gibt bloß keine Einheitsperspektive mehr, die ihn gestaltet; er geht nicht länger von einem Gott aus, sondern ist Struktur selber – und damit Prozeß, nicht etwa steuernder Wille.

Daß sich dieses Prozeßhafte auch in die Erzählunghandlungen spiegelt, dürfte klar sein. Sie sind in die Regelkreise mindestens doppelt rückgebunden; überhaupt hat der Ky­bernetische Realismus eine Tendenz zur mehrfachen Determination; Kritiker haben bei meinen Arbeiten bisweilen, ich deutete das oben schon an, von überdeterminiert gesprochen. Nun ist das ein ganz unlauterer Ausdruck, weil er letztlich nicht wahrha­ben will, daß etwas so und nicht anders aus einer Vielzahl von Gründen geschieht, weil er, mit anderen Worten, einen Begriff von Freiheit an die Dichtung legt, dessen Gemeintes diese Dichtung-selbst gerade bestreitet. Ich behaupte sogar, daß etwas vorgeblich Überdeter­miniertes sich der tatsächlich wirkenden Determination überhaupt erst nähert: näm­lich über matrische Mehrfachbindung an die letztlich unabsehbar zahlreichen Komponenten der, sagen wir, Lebensmatrix. Dies mag Ihnen erklären, weshalb ich ein entschiedener Gegner der Vorstellung bin, letztlich sei alles einfach. Ebenfalls deswe­gen bin ich ein Gegener anorektischer Ausdünnung (Ursula Krechel sagte einmal über den Text einer Nachwuchsautorin, da sei „zuviel Erzählfleisch“, das müsse alles weg). Im Gegenteil, Weltzusammenhänge sind kompliziert, sind hochkomplex – dieser Komplexität hat sich eine Dichtung, die unserer Zeit noch einigermaßen entsprechen will, zu stellen – – ihr muß sie einen Ausdruck verleihen, der zugleich sinnlich fühlbar ist. Das kann s i e viel besser als die Unterhaltungsliteratur, auch als der Unterhaltungs-Spielfilm, weil der ihr zur Verfügung stehende Formenkanon ein sehr viel umfassenderer und weil er nicht darauf angewiesen ist, industrielle Normen zu erfüllen, um Kassenerfolge zu produzieren. Zugleich steht im Kybernetischen Realismus für diese sinnliche Fühl­barmachung der bewußte Verzicht auf empathieferne „konkrete“ Sprachexperimente; genau deshalb wird statt dessen an das traditionelle Erzählen angeschlossen.

Das bedeutet nun aber eben nicht, es könne weiterhin ungebrochen linear erzählt werden, jedenfalls nicht prinzipiell. Daß es immer wieder einzelne, auch sehr gute Erzählungen, mei­nethalben auch Romane geben wird, die es dennoch tun, ist davon unbenommen; al­lerdings kann ihnen dann kaum eine umfassende Modernität zugesprochen werden. Muß es auch nicht. Doch im Rahmen einer zeitgenössischen Ästhetik sind gerade diejenigen Erzählmodelle von Interesse, die eine solche Modernität im Auge haben und ganz bewußt zeitgenössische Dichtung in einem Sinn sein wollen, der sich den Veränderungen der inneren und äußeren Lebenswelten adäquat machen will; den anderen Dichtungen – das betrifft auch einige meiner eigenen Arbeiten – werden im­mer ein wenig der Eskapismus anhängen und eine gewisse spürbare Sentimentalität, die sich in das sogenannte Einfache hineinschmiegt und es sich darin ästhetisch wohlergehen läßt. Hier finden sich die Übergänge in den Pop. Wobei ein Konzept wie das des Kybernetischen Realismus schon der eigenen Grundtheoreme wegen nicht von einer „reinen“ Form ausgehen kann; Reinheit ist geradezu zu meiden. Deshalb kann es vorkommen, daß auch ein Roman aus dem Pop-Literatur-Umfeld, gewissermaßen unwillentlich, eher einem Kybernetischen Realismus entspricht, als eine Arbeit, die dessen Theoreme Punkt für Punkt verfolgt. Notwendigerweise sind die – wohlgemerkt: – Übergänge zwischen E und U fließende, ungefähre. Auch hier gilt eine prinzipielle Unabschließbarkeit. Überdies besteht zeitgenössische Dichtung ja nicht aus nur einem einzelnen Werk oder einer Reihe einzelner Texte, sondern eine ästhetische Epoche bezieht ihre Konturen gerade aus der Vielzahl von Werken, die nicht selten interagieren, zudem sich der Blick auf sie mit zunehmendem zeitlichen Abstand verändert, so daß ganz andere Arbeiten und anders weiterwirken, als es Arbeiten in ihrer jeweiligen Entstehungszeit taten. Von dieser Erfahrung haben wir heute ein Bewußtsein (man muß sich nur klarmachen, daß Johann Sebastian Bach zu seiner Zeit und lange Zeit nachher nichts als ein Komponist gewesen ist, der nebenher mitlief), und dieses Bewußtsein zieht der poetische Kybernetiker mit in konstruierenden Betracht. Einerseits ist er sich ständig seiner Relativität bewußt, anderseits muß er sich um so nachdrücklicher ästhetisch positionieren. Dieser innere Zickzack ist dem Kurs des Schiffes eingeschrieben: es kreuzt vor dem Wind durch ein Realitätsgewässer voller Untiefen, wechselnder Strömungen und Klippen: es kreuzt durch die a-lineare Welt. Tausende Komponenten schlagen hier quer und spleißen die Handlungsstränge in neue und aberneue auf. Dabei spiegelt der Anspielungsreichtum, spiegeln die Links, den matrischen Komponentenreichtum; es b l e i b t insofern bei Mimesis, nur wird nicht mehr eine feste Natur nachgebildet, sondern eben er. Wie ich bereits in der letzten Vorlesung sagte, wird dabei nicht mehr zwischen natürlichen, technischen und imaginären Komponenten unterschieden, ja die Bedeutung verschiebt sich – wenigstens im Rahmen der westlichen Industriegesellschaften – auf das Technische, das längst als ein seelisches wahrgenommen wird. Die gewohnten Hierarchien eines vorgängigen Natürlichen hinauf zu seinen technischen Ableitungen lösen sich auf, die Interdependenzen bekommen etwas flächig Gleichwertiges; damit fällt auch die personale Bindung an Landschaften; Welt insgesamt wird zunehmend Stadt, und kommunikative Infrastrukturen, nicht etwa mehr jahreszeitliche Zirkel, bestimmen die sozialen Verhältnisse. Dieser Prozeß reflektiert (man könnte fast sagen: verdoppelt) sich noch einmal im Netz, wirkt indes aus dem Netz auf Individuen und Gruppen zurück. Entfremdung wird zur existentiellen Grundbedingung, an die sich die Seelen zunehmend assimilieren. Fehlt das so entfremdete Umfeld, wird genau das als Entfremdung wahrgenommen. Ein wie von kleinen Gruppen proklamiertes Zurück zur Natur führte, würde ihm allgemeingesellschaftlich gefolgt werden, zu unabsehbarem Massenelend. Dem kann ein herkömmlicher Realismus, der sich auf naive Formen stützt, die bereits dem 19. Jahrhundert nicht mehr ganz angemessen waren, nicht mehr nahekommen. Der Realismus, >>>> schrieb ich andernorts, ist unrealistisch. Das lineare Erzählen ist es genauso. Soweit es sich auf ein sogenannt Einfaches konzentrieren will, das es damit fetischisiert, trägt es mehr Eskapismus in sich als irgend ein Science-Fiction-Roman der C-Ebene. (Allerdings ist auch die sog. SF meistens auf nichts anderem als einem ins Später verschobenen Realismus aufgebaut; das fällt vor allem in den Bereichen der rein auf Unterhaltung hin verfaßten Romane auf; ich habe darauf ebenfalls >>>> schon an anderer Stelle hingewiesen).

Nun führt eine gerade wie immer auch traditionell erzählte A-Linearität bei heutigen Lesern nach wie vor zur Irritation, viel mehr, als ein auf den ersten Blick sprachexpe­rimenteller Text das täte, von dem man dergleichen erwartet. Menschen denken in Gewohnheiten, die ihnen wie zu Kategorien werden. Zumal gibt es im Kyberneti­schen Realismus ja keinen Vergil mehr, der sie verläßlich bei der Hand nähme, so sehr vertraut Grammatik und Syntax ihnen auch vorkommen mögen. Dieses Unver­traute im Vertrauten ist aus der Phantastischen Literatur entnommen und spiegelt das untergründige Mißtrauen gegen die Selbstentmächtigung durch Technik, der man zugleich bereitwilligst folgt, wenn es um Fragen des Wohllebens geht. Wie sie, die Leser, in die Technik, so ist auch der auktorial erscheinende Erzähler immer selbst schon mit in das strudelnde Gefüge eingebunden, er steht nicht länger darüber. Dem entspricht der Schreibprozeß, sein prinzipiell Dissoziierendes. Nur daß es sich bei Texten des Kybernetischen Realismus eben um letztlich realistische handelt, da mag wie auch immer ins Phantasmagorische weggesurft werden.
Ich habe das Verfahren nach ersten Versuchen in der VERWIRRUNG DES GEMÜTS im zehn Jahre nachher erschienenen WOLPERTINGER-Roman zu perfektionieren versucht; hier wurde die Perspektivenfrage ohne äußere Zutat zentral, also ohne daß ein Erzähler hinzukam, der sich noch als festes Ich, sei es einer imaginierten Figur wie bei Thomas Mann (Zeitblohm etwa), sei des Autors selbst erkennen ließ. Auch da führte mich der Weg in die Spiegelungen, die schließlich einen Kreis aus Wechselwirkungen ergaben. Das war aber nicht von Anfang an intendiert, es war keine vorgängige Konstruktion, sondern entstand rein aus der Schreibhaltung, das heißt, indem ich, wenn auch auf traditionell-sprachlichem Weg, dem Handlungsverlauf gleichsam hinterherschrieb.
Im Endergebnis gibt es drei Haupt-Erzähler des Romanes, die alle Ich sagen können; dazu addieren sich noch kleine Nebenerzähler, die auf die weitere Dissoziation als Möglichkeit hinweisen. Die Grunderzähler sind der Erzähler A, der eine Person B er­zählt, die wiederum als Erzähler einer Person C fungiert; und diese, etwa ab der Mitte des Romans, gibt sich als der Erzähler von A aus; wobei alle drei Erzähler aus verschiedenen Zeiten heraus erzählen: A von 1981 aus, B von 1985, C von 1989. Diese Erzählerursachen wirken auch rückläufig, was deshalb funktio­niert, weil der Roman innerhalb eines überschaubaren Zeitrahmens von sieben Tagen spielt und von daher ein Kontinuum herstellen kann, das ich später mit ANDERS­WELT gänzlich verlassen habe.
Das Grundmodell der Erzählerverhältnisse sieht s o aus: Sie können sich vorstellen, daß daraus diagonale Verbindun­gen der Zeitebenen folgten. Diese führten zu Überlappungen, denen in der Erzählung-selbst die mythischen Überblendungen der handelnden Personen und so­wieso die mythischen Themen entsprachen, die ich seinerzeit zum ersten Mal ange­schlagen hatte. Die Schnittmenge aller drei Zeitebenen ergab den absoluten imagi­nären, mythischen Raum. Um ihn, wie es im WOLPERTINGER-Roman heißt, hatte sich die Zeit herumgebogen; er war das Kontinuum, war die Falle, in der Hans De­ters sieben Tage lang festsaß, bis er, mit einem großen Zeitsprung, das Buenos Aires genannte Berlin der ANDERSWELT betrat:Auf den Character eines Kontinuums weist übrigens schon der bei über 800 Seiten Umfang irr anmutende Kapitelteil „Intermezzo“ deutlich hin: Hier wird etwas in et­was Begonnenes (das eine Reise ist, eine Transition) hineingeschoben. Am schließ­lich offenen Ende des insgesamt über 1000seitigen Geschehens – offen wegen der einander widersprechenden Epiloge, die das Buch abschließen – haben Sie ein komplettes selbstreferentielles System, das allerdings noch k e i n e Matrix ist, aus dem aber diese drei Ebenen in drei möglichen Fortsetzungen des Zeitstrahls hinaus­führen; der Zeitstrahl selbst spaltet sich auf. Im ersten ANDERSWELT-Roman THETIS wird dann fünf Realjahre später noch ein vierter Epilog hinzugeschrieben. Darin erst wird das System zu einer Matrix, die auch mich selber als eine Figur mit hineinnahm – als eine sich mit allen übrigen Figuren permanent wandelnde Figur. Im Roman MEERE von 2003 habe ich das mit meiner Autobiografie und derjenigen anderer Menschen weitergetrieben; das hat zu dem bekannten juristischen Konflikt geführt. Hergestellt wurde aber eben k e i n e Autobiografie, sondern eine mögliche andere Welt, die ununterscheidbar reale und imaginierte Fakten mischt. Diese Vermischung bildet unsere medial vermittelte Wahrnehmung von Welt ab, also unsere Form von „Wahrheits“findung, und gibt ihr die Form von Kunst.

Ich will hier noch einmal auf das Motto der ersten Vorlesung zurückkommen und betonen, daß sich allesdies nicht absichtlich vollzogen hat; vielmehr hat es sich als eine und vielleicht d i e logische Konsequenz eines Ansatzes ergeben, den ich be­reits 1983 mit dem Roman DIE VERWIRRUNG DES GEMÜTS entwickelt habe, worin es allerdings auch schon um die Frage ging, was denn Realität eigentlich sei. Damals bezog ich mich unter anderem auf >>>> Paul Watzlawick und fing an, mich mit Geheimdiensten und ihrer Kunst der Desinformation zu beschäftigen. Desinformati­on, Täuschung, Wahn sind seitdem Grundkategorien meiner Arbeit. In all den Jahren seither bin ich eigentlich nur dieser Spur gefolgt.
Als ich, im WOL­PERTINGER, zum ersten Mal einen Computer – also sein Innengeschehen als ein ge­schlossenes System – in mein Konzept mit aufnahm, hatte ich übrigens noch gar kei­nen; da eines der Hauptthemen des Wolpertingerromanes ein mythologisches – oder phantastisches – ist und Mythen sich durch enorme Wandlungsfähigkeit auszeichnen, lag es allerdings nahe, nicht mit einem kausallogischen, sondern gleich mit einem biologischen zu spielen – – es ist wohl das gewesen, was mich narrativ in die au­topoietische Matrix geführt hat. Interessanterweise entstanden in nahezu derselben Zeit thematisch ganz ähnlich gelagerte Werke wie >>>> Cronenbergs eXistenZe (1999). Wirkende Themen liegen wie Auren in der Luft. Allerdings finden sie ihren ersten Ausdruck unterdessen viel häufiger in Filmen und Büchern der Unterhaltungsbran­chen als in der Dichtung. Das war einmal anders. Mit ihrem Bedeutungsverlust scheint sie den Kontakt zu den momentan wirkkräftigsten Geschehen mitverloren zu haben.

Hingegen spricht der Kybernetische Realismus deutlich vom Hier und Jetzt und vom Morgen, und zwar von einem, das den Vorhang der scheinselbstverständlichen Si­cherheiten gehoben hat und in das Spiel aus Informationen und Desinformationen mit eintaucht, das er als ein ästhetisches begreift. Deshalb ist Ästhetisierung auch ei­ner seiner grundlegenden Bewegungen. Denken Sie bitte in diesem Zusammenhang an die Auslassungen zur Perversion in meiner zweiten Vorlesung und denken Sie sie mit. Ästhetisierung ist immer eine bewußte Entscheidung für künstlerische Perversi­on. So lautet ja auch der Vorwurf des Moralisten an sie. Aber diese Bewußtheit ist es, die den geradezu monströsen Unterschied zur Unterhaltungsliteratur be­stimmt. Anders als in einem Krimi oder im Landser-Groschenheft wird auch an den brutalen Stellen nie so getan, vor allem: formal nie so getan, als erzählte sich eine Welt, deren Tücken wir genießen können, weil wir von ihnen freigestellt sind. Das uns scheinbar Ferne wird eben nicht als ein eigentlich nicht Existierendes ausgeklam­mert („Das ist ja nur ein Film“); die Bewegung des Kybernetischen Realismus ist vielmehr, anders als im Unterhaltungsmedium, eine der Aufdeckung. Wirklichkeit klammert nicht aus.
Der Kybernetische Realismus, indem er zugleich von Alltagssorgen u n d vom Krieg erzählt, von den Feinheiten intimster Verliebtheit und von den Verstümmelungen, die in den zugleich geführten Kriegen geschehen, rechnet die Klammertermen in den Alltag zurück, und er rechnet uns vor, nach welchen nahezu unausweichlichen Mus­tern wir persönlich gestrickt und wie wir in sie verstrickt sind. Daraus läßt es sich immer nur mit Teilaspekten unserer Ichs lösen, wozu wir diese Ichs wirklich mehrere sein lassen müssen – im bürgerlichen Sinn bedeutet das: indem wir Doppel- und Dreifachleben leben und das so akzeptieren. Auch das entspricht der allgemeinen Realität nicht-festgesetzter – sexuell gesprochen: nicht-verklemmter – Subjekte, auch wenn das dieselben Subjekte offiziell – aus moralischen nämlich, bzw. aus sozialnor­mierten Gründen – nicht zugeben möchten. Der kybernetisch realistische Text erzählt all das – oder doch möglichst viel davon – immer mit. Das ist eine der Ursachen für seine Eignung zu Skandalen, obwohl er doch alles andere als leseerwartungsfreundlich ist und sogar die Idee einer geschlossenen Ganzheitlichkeit-in-sich-selbst auseinanderfällt. Ich ist zahllose andere. Es gibt nicht einmal dasjenige Ich, das die zahllosen anderen einheitlich zusammenfassen und ich-ideal beobachten und werten könnte. Jedes Ich hat ein ebensolches Recht hat wie jedes andere der zahllosen anderen. Dem trägt die Spaltungsästhetik des Ky­bernetischen Realismus Rechnung. Dem trägt die a-Linearität der Handlung Rech­nung. Dem tragen die permanent aneinanderreibenden Ungleichzeitigkeiten, so­wohl persönliche wie historische, Rechnung.
Eigentlich könnte man denken, aufgehobene Linearität führe zu einem Still­stand der Handlung, etwa nach Art der Entropie, bzw. indem sie sich, wodurch eben die Fließgeschwindigkeit verringert wird, delta-artig ausbreitet. Doch wird zwar der Ro­mantext zunehmend breit, aber indem die einzelnen Motive immer gleich ernst ge­nommen und deshalb ihrerseits ständig mit neuen und aberneuen Komponenten syn­aptisch verbunden werden, gewinnt er an Tiefe. Das reißt den nunmehr sehr breiten Erzählfluß mit einer viel größeren Gewalt weiter, als sie anfangs überhaupt auf die Motive gewirkt haben kann. Zugleich nimmt das Disgressive immer weiter zu und betont die Unabschließbarkeit der erzählten Motive. Zwar können sie sich durch­aus, gewissermaßen lebensepochal, in einem alten Sinn erfüllen, also in kleineren Sinneinheiten abgeschlossen und die Erzählfäden traditionell verknüpft werden, aber jedes Ergebnis ist wieder nur ein deutlicher Ausgangspunkt der je nächsten Entwick­lung. In extremem Gegensatz zur Matrix-Trilogie der Brüder Wachowski hat Cronenbergs eXistenZe vorgeführt, wie so etwas aussieht. Die Tendenz zu offenen Enden hatte freilich schon Godard, während Pynchon die Spiralen anhält, indem er am Ende des Regenbogens eine Rakete in das Kino der Handlung einschlagen läßt. Was ein Erzähltrick ist, der sein eigenes Vorhaben endlich zuendebekommen will und deshalb entropisch zerstreut: es dem Wärmetod aussetzt, der einer von Kälte, nämlich stillgesetzter Interaktion ist. In ARGO. ANDERSWELT geht es hingegen nach dem zum zweiten Mal scheinbar endgültigen Kollaps der westlichen Zivilistion zurück in eine Zukunft des Hexameters auf dem Thetismeer, aber eben mit dem Bewußtsein des zuvor durch Generationen Erlebten. Es ist also kein Regreß, sondern ein Rück-Sprung, der sämtliche Energien für erneuerte, wenigstens weitere Zukunft mit im Gepäck hat. Schon Jules Verne wußte von der existentiellen Überlegenheit technisch Erfahrener zu berichten, die es wider Willen in die „reine Natur“ zurückverschlug. Wobei wir uns darüber einmal im klaren sein sollten, daß das, was wir um uns herum erleben, auch auf dem Lande mit Erster Natur schon seit Jahrhunderten nichts mehr zu tun hat, sondern das bewußt gestaltete Ergebnis unausgesetzter technischer Eingriffe ist. Über den deutschen Wald heißt es denn auch im WOLPERTINGER-Roman: „Jeder Weg hindurch führt zu einer Brauerei.“ Ein wirkliches Naturerleben kann man allenfalls noch auf hoher See, an den Kratern tätiger Vulkane, in Wüsten und in den wenigen Gebieten für sich belassener Regenwälder haben; doch wenn Sie >>>> Google‘s Earth ein wenig an die Hand nimmt, werden Sie sehen, daß auch dort bereits der Kataster die letzte Zurichtung vorbereitet. Rückkehrer zur Natur sollten sich deshalb auf die interplanetarische Raumfahrt vorbereiten. Nur daß die Milch, die dort im All die Naturbrüste geben, vereist ist. Weshalb sie nicht fließt.

Thomas Pynchon hat den Weg der abendländischen, letztlich westlichen Zivilisatio­nen romanpessimistisch als einen Weg zunehmender Verdinglichung beschrie­ben, deren Dinge sich schließlich atomisieren; V., seine Göttin der Geschichte, zerfällt schließlich in von Kindern hinweggetragene Dingstücke. Zusammen mit dem düsteren Prognostizismus einer männlichen Erbschaft permanenten weiteren Todes hält er seinen Lesern einen kommenden Wärmetod vor Augen: Entropie. „Wärme“ heißt das, weil eine Durchschnittstemperatur gemeint ist, die zwar weit über 0 Grad Kelvin liegt, aber eben immer zugleich weit unter jedem lebenserhaltenden Celsius: die Partikel sind so weit auseinandergeschleudert, daß sie nicht mehr kommunizieren können, sich also die für jedes Leben nötigen Wechselwir­kungen nicht mehr vollziehen können. Das ist, abgesehen von dem Kinderzitat, Zivilisationspessimismus pur und spiegelt die Kälte des technischen Environments in den Leser zurück. Bei Cronenberg finden wir dagegen, vermittelt über Ballards Roman, erste freilich unangenehm anmuten­de Ansätze dazu, sich in dem von Donna Harraway so genannten Cyborgism einen Platz zu erhalten. Bei dieser Affirmation geht allerdings erst einmal das meiste dessen verloren, was wir unter dem höchst unscharfen Begriff „menschlich“ verstehen. Dagegen ist es die Zielrichtung eines Kybernetischen Realismus’, soviel wie nur möglich dieses Menschlichen – von dem, was für uns bislang die Seele der Dichtung aus­gemacht hat – in die neuen technischen Welten, die ganz zweifelsfrei kommen wer­den, hinüberzuretten. Das kann, in der medialen Vermittlung, nur eine Aufgabe der Künste sein, und zwar jener, die bislang für E galten und für E wieder gelten müssen. Denn wie verdinglicht wir bereits sind, ohne daß wir das merkten, das zeigt kaum eine andere Unterhaltungsform so deutlich wie der Pop, der durch den Vorschein ei­ner Unmittelbarkeit, die doch von höchstem industriellen Kalkül ist, die verdinglich­ten Sachverhalte mehr oder minder verkitscht verschleiert; das eben ist seine Aufga­be. Eine grundlegende Analyse davon haben Adorno und Horkheimer geleistet. In­dem der Kitsch seinen nach Unmittelbarkeit sehnsuchtsvollen Rezipienten eine erreichte Un­mittelbarkeit vorspielt und sie dadurch beruhigt, können sich die technischen Welten nahezu unbemerkt an die Stelle der humanen schleichen. Darüber ist mit Pop-Anhän­gern aber kaum Klarheit zu gewinnen; beispielhaft soll hier ein kleines Streitge­spräch erzählt sein, das ich, der Opernliebhaber, vor einiger Zeit mit einem Chart-Jünger führte: „Ich will den natürlichen Klang der menschlichen Stimme“, hielt er mir vor, „nicht die künstlich hochgezüchteten Artifitialitäten von Opernsängern.“ Er be­griff nicht, daß dieser vorgeblich natürliche Klang nur noch über ein Höchstmaß an Technik aus Verstärkern, Mikrofonen usw. zu haben ist, wogegen der ebenso Gesang eines Opernsängers nach wie vor rein aus der menschli­chen Kehle kommt und keiner technischen Verstärkung be­darf. Genau das hören wir offenbar nicht mehr mit. Verdinglichter können wir gar nicht mehr sein. „Vergnügen heißt allemal: nicht daran denken müssen, das Leiden vergessen, noch wo es gezeigt wird. Es ist in der Tat Flucht, aber nicht, wie es behauptet, Flucht vor der schlechten Realität, sondern vor dem letzten Gedanken an Widerstand, den jene noch übriggelassen hat.“>>>> 9.
Damit, daß diese Entwicklung nicht rückgängig zu machen ist – wäre sie es aber, die Katastrophe wäre ganz besonders barbarisch -, werden wir leben müssen wie mit den Umwälzungen der nahenden Gentechno­logie und einem zunehmenden technischen Morphing der Körper wie einer zuneh­mend feingriffigen Fremdsteuerung der Seelen. Für das, was dieser Begriff immer gemeint hat, ist in den künstlichen Welten der Technologie, von denen wir existenti­ell abhängen, künstlerisch ein Raum zu schaffen. Wenn es uns darauf denn ankommt. Kybernetischer Realismus heißt, es genau hiermit ästhetisch aufzunehmen, und zwar nicht, wie man meinen könnte, in der technischen Kälte, sondern indem wir i h r tun, was sie u n s tun will: sie vereinnahmen und ihr ein Organisches geben, für das unsere Körper – wie die der Tiere und Pflanzen – einstehen. Und unsere Seelen.

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