9.19 Uhr:
[In der Muschel. Küche.]
Nun ist es endgültig. Mein Junge wird seinen Lebensmittelpunkt bei mir haben, sowie ich eine entsprechende Wohnung für uns beide gefunden haben werde. Meine Vorstellung ist, die Arbeitswohnung so, wie sie jetzt ist, also das Arbeitszimmer, in derselben Aufteilung einfach hinüberzubugsieren: als setzte man ein Modul von hier nach dort. Daneben kommt das Jungenzimmer, und mit etwas Glück wird es auch noch ein Wohnzimmer geben.
Die Endgültigkeit muß allerdings nunmehr fixiert werden. Doch nach etwas mehr als zehn Jahren einer währenden Liebeserzählung wird d i e s e r Roman geschlossen werden und Finis daruntergeschrieben. Das bedeutet auch einen Bruch mit vielem, was ich in diesen Jahren war, und es wird Folgen für die BAMBERGER ELEGIEN haben: vielleicht ist, daß diese Entwicklung eigentlich hätte vorhergesehen werden können, der wirkliche Grund für die von mir zunehmend deutlich gespürte Unabschließbarkeit des Projekts.
Ich verliere zwei Kinder, aber werde Vater für meinen Jungen auf eine noch ganz andere Weise werden, als ich es bislang gewesen bin. Und das gerne und mit Überzeugung.
11.15 Uhr:
[Arbeitswohnung. Berio, Laborintus 2.]
Minutenlang die schmerzenden, geradezu blau angelaufenen Fingerspitzen unter warmes Wasser gehalten; so kalt ist es trotz der dicken Handschuhe, wenn man mit dem Rad von Kreuzberg auf den Prenzlauer Berg fährt; es ist aber s c h ö n, und Fahrrad fahren bei permanentem Glatteis (sogar der Kanal, als ich über die Schleusen kam, war zugefroren; allerdings aufgehackt: Schollen standen und leuchteten in der Wintersonne; ein Berlin, das mir so sehr gefällt)… also Fahrrad bei Glatteis zu fahren hat etwas ausgesprochen Meditatives. Ich dachte, konzentriert aufs Geradel, ruhig nach und dachte eben, da ich angekommen war: Ich werde nun nicht mehr klagen, auch keine Klagegesänge mehr schreiben und schon gar keine Zwergenkämpfe mehr führen. Es ist die Zeit zu handeln.
Den Entwurf der Vereinbarung formulieren.
Mich um eine neue Wohnung kümmern.
Wichtig: Den Privatkonkurs angehen, damit bei den Einnahmen auf jeden Fall der Unterhalt meines Jungen, Wohnung, Ausbildung usw. gesichert sein werden.
Mit Finanzamt und Gäubigern telefonieren, bzw. Briefe schreiben.
Mit lockerer Hand die literarische Arbeit wieder aufnehmen. Bei den BAMBERGER ELEGIEN bedeutet die neue Siuation, daß das, was bislang ihr seelischer Motor gewesen, nun ins rein Materiale hinabfällt, und zwar so, daß ich es endlich behauen kann, wie es einem Steinmetzen ansteht.
Kurz: Stabilität und Kontinuität unaufgeregt herstellen: Vater sein. Der patriarchale Anteil daran ist mir bewußt, und er ist gewollt.
Um 12 geh ich erst mal ans Cello für eine Stunde.
20.50 Uhr:
[>>>> Johann Cilenšek, Konzertstück für Flöte und Orchester.(Cass.-„Projekt“ Nr. 107).]
Womit, hm, ging dieser Tag herum? Das Stück, das ich gerade höre, habe ich gegen Ende der Siebziger aus einem ziemlich einfachen Radio aufgenommen; ich schnitt damals a l l e s mit, was von Radio Bremen an Neuer Musik ausgestrahlt wurde. Ich habe das Stück ganz bestimmt zwanzig Jahre lang nicht mehr gehört; jetzt bezaubert mich diese alte Tonband-Cassette auf ganz unerwartete Weise. Also womit ging dieser Tag herum, nachdem ich erst einmal wieder hierwar? Mit dem Cello, mit ein paar Briefen, mit dem Entwurf der Vereinbarung, mit dem Mittagsschlaf und damit, daß mein Junge dann hierwar, seine Marmeladebrote futterte, dann fragte: „Papa, wie sind eigentlich die Buchstaben entstanden?“, so daß ich ein wenig erzählte; schließlich fiel mir ein, daß ich einen Riesenschmöker über die Entstehung der verschiedensten Lettern der Welt hierhabe, und ich zog das Ding heraus, woraufhin er eine halbe Stunde drin herumschmökerte. Danach wurde Cello geübt, dann zog der Bursch Ans Terrarium ab, während ich eine nicht ganz schöne Korespondenz mit der Presseabteilung der Deutschen Oper Berlin begann, die ich morgen in Die Dschungel einstellen will, weil sie etwas sehr Bezeichnendes aussagt. Ich mag das jetzt noch nicht tun, weil ich gerne eine Zeit lang noch >>>> Diadorims so passenden Evolutionstanz mit dem als Kommentar eingestellten schönen Text ganz am Anfang Der Dschungel stehen haben möchte. Geärgert, über die besagte Korrespondenz, habe ich mich vor allem, weil ich neulich ohne Honorar für die Deutsche Oper auf dem Podium saß und es doch zumindest schon deshalb angemessen gewesen wäre, meiner Anfrage zu entsprechen. Aber nein. Na gut, die Deutsche Oper hat in dem Opernhaus-Hickhack Berlins bekanntlich den allerbesten Stand und kann es sich leisten, Publizisten zu dupieren. Also d a s noch, danach rüber Ans Terrarium, um meinem Jungen weiter vorzulesen, danach, quasi wortlos, wieder hierher zurück. Αναδυομένη will nachher herkommen, um hier zu kochen; nur blöd, daß ich nicht an meine Kohlen komme, um einzuheizen. Gut, der Heizlüfter läuft halt jetzt; ich selber komme ja – außer fürs Cellospiel – gut mit den Temperaturen klar, aber – Frauen?: Nienich‘.
Womit ging dieser Tag herum?
Nun ja.
Damit.
Glückwunsch Das m u s s nun vielleicht nicht kommentiert werden, aber ich sage mal: Glückwunsch! Einerseits beglückwünsche ich Sie dazu, dass Sie sich für Ihren Sohn und ein „alleinerzieherisches“ Zusmamenleben mit ihm entschieden haben, auf der anderen Seite wünsche ich Ihnen Glück bei dem keineswegs einfachen Unterfangen, Profession und VaterSein miteinander in Einklang zu bringen. Das ist durchaus eine Kunst (die den Initialen der Vornamen Ihres Sohnes ja schon eingeschrieben ist ;-)), deren Beherrschung nur mit Zugeständnissen möglich ist. Ich gönne Ihnen jede Minute der Freude und des Erfolgs.
Wohl wollender Segen. Schaden wird ’s nicht. Noch ist nicht alles verloren.
Vergiss die Träume nicht,
wenn die Nacht wieder über dich hereinbricht
und die Dunkelheit dich wieder gefangen zunehmen droht.
Ich wünsche dir, dass du die Zeiten der Einsamkeit
nicht als versäumtes Leben erfährst,
sondern dass du beim Hineinhorchen in
dich selbst noch Unerschlossenes in dir entdeckst.
Ich wünsche dir, dass dich all das Unerfüllte
in deinem Leben nicht erdrückt,
sondern dass du dankbar sein kannst für das,
was dir an Schönem gelingt. Ich wünsche dir,
dass all deine Traurigkeiten nicht vergeblich sind,
sondern dass du aus der Berührung mit deinen Tiefen
auch Freude wieder neu erleben kannst.
Mögen alle Deine Himmel blau sein,
mögen alle Deine Träume wahr werden,
mögen alle Deine Freunde wahrhaft wahre Freunde
und alle Deine Freuden vollkommen sein,
mögen Glück und Lachen alle Deine Tage ausfüllen
Das Grün der Wiesen erfreue deine Augen,
das Blau des Himmels überstrahle deinen Kummer,
die Sanftheit der kommenden Nacht mache
alle dunklen Gedanken unsichtbar.
Mögen die Regentropfen sanft auf dein Haupt fallen;
Möge der weiche Wind deinen Geist beleben;
Möge der sanfte Sonnenschein dein Herz erleuchten;
Mögen die Lasten des Tages leicht auf dir liegen.
bah! manchmal kann so zuviel schönes häßlich werden, igitt.
schwallig. stimmt schon. aber zählen sie durch. 23 (!). ist es stimmig.
Ich gratuliere Ihnen auch. Aber zu etwas anderem. Es fällt jetzt der Bann von Ihnen ab, in dem Sie gestanden haben. Auch so können Sie > DEN SCHLEIER auslegen, den Sie jetzt heben. Es wird Sie nicht mehr erschrecken, was Sie hinter der Fassade sehen werden oder eben nicht sehen werden. Sie werden auch nichts mehr hineintun, damit Sie dort etwas sehen.
Nun habe ich viel in Ihren Aufzeichnungen gelesen und muß sagen, daß ich allmählich verstehe, weshalb Sie den Dschungel immer wieder einen Roman nennen. Es ist ein Entwicklungsroman und für dieses Genre das Meisterstück. Das möchte ich Ihnen gerne sagen. Sie werden keinen Hildebrand mehr brauchen.
Zu Hildebrand @Scott. Dennoch würde ich mich freuen, wenn Sie >>>> die Serie für Die Dschungel weiterschrieben. Nach anfänglich ein bißchen Irritation – ich war auch ein bißchen verärgert – muß ich zugeben, daß sie mir einige Kraft gegeben hat, die nötige Distanz zu finden. Lese ich jetzt zurück, merke ich, daß genau daraus ein literarischer Reiz kommt, den ich gerne abgelöst von seinem Anlaß weiterfinden möchte, ob nun als Ihr „Tagebuch“ oder nicht.
Dank Ihnen.
ANH.