Arbeitsjournal. Mittwoch, der 18. März 2009.

6.19 Uhr:
[Aus der Muschel.]
War ein schwerer Tag gestern; momentan bist Du schwierig, mein Junge, dabei kommt es jetzt auf so vieles an. So vieles erinnert mich an mich selber früher: die Verträumtheit, der innere Block gegen Mathematik (eigentlich: Rechnen), die unleserliche Handschrift, die sich bis heute erhielt, die Unpünktlichkeiten, die Schludrigkeiten, das pressende Geknorkel im Schulranzen, in dem man dann auch schon mal einen zerfetzten Wochenarbeitsplan findet, und ich fühle mich ein wenig hilflos, weil ich einerseits nicht weiß, was das Richtige ist, das ich tun kann, und andererseits ist meine berufsinnere Struktur so stark geworden, daß ich dazu neige, Dich „zu trainieren“, mit zu viel Härte vielleicht, gerade in der jetzigen Situation. Dann die Geschichte mit dem Kinderfahrrad, von dem es nun heißt, Ihr hättet es demoliert; Du sagst: Ich hab mich nur draufgesetzt, weil ich Angst hatte, daß *** mich mit dem Stock haut; den hatte er erhoben. Du hast dich draufgesetzt? Und dann? Dann hat *** den Fahrradträger abgemacht. Wie: abgemacht? Das weiß ich nicht, ich habe ja richtigrum auf dem Fahrrad gesessen und konnte hinten nicht sehen. Und dann? – Jedenfalls heißt es, Du seist dabeigewesen, und *** hat dann das schon ganz zerlegte Fahrrad noch aus 2 ½ Metern Höhe runtergeschmissen, damit auch noch der Rahmen brach… Anruf von Frau XY, der Mutter XYZs, der ebenfalls dabei gewesen sein soll, oder auch nicht, völlig war das nicht z klären – also Anruf bei Deiner Mama: „Und dann auch noch das Fahrrad eines farbigen Mädchens!“ Als spielte das eine Rolle, man nennt das umgedrehten Rassismus. Jedenfalls träfen sich die Eltern der angeblich beteiligten Kinder morgens – nachher also – vor der Schule, ob auch s i e komme? Nein, sie können nicht., sie habe die Zwillinge, das schaffe sie nicht bis acht. „Ich finde, das soll er alleine klären.“ Ein neunjähriger Bub. „Bitte, Papa, kommst Du morgen früh dahin?“ „Selbstverständlich, mein Sohn, aber weißt du: das wird jetzt so viel insgesamt, ich weiß gar nicht, wie ich das mit meinen eigenen Terminen zusammenkriegen soll, ich krieg meine eigene Arbeit nicht richtig fertig. Aber ja, selbstverständlich, ich werde da sein.“
Dies also der Vormittag. In einer dreiviertel Stunde fahr ich hier los.

Für den „Miniaturen“-Text ein wenig herumgelesen gestern; vor allem Heinz-Klaus Metzger, zu Weberns Bagatellen: Negation, Negativität u n d „Kritischere und deshalb wahrere Musik wurde nie geschrieben.“ Wahrere: sowas steht wirklich da. Dagegen Doderers Spott in den „Kürzestgeschichten“. Und, ohne das wird es nicht gehen, Maimonides’ Blatt. Auch das Finanzamt wartet, ich wittere bereits die Schritte, die bei mir das Treppenhaus hochkommen werden, und wittere das freundliche Gesicht, das ich machen werde, wenn ich den Herrn, den ich ja schon kenne, hereinbitten werde. Die poetischen Impulse sind gerade ganz still. Die Sorge um meinen Jungen… all das ausgerechnet jetzt, wo’s um den Übergang zm Gymnasium geht. Und Do im Ohr: „Ihr habt Glück, daß er nicht noch ganz anders reagiert!“ Auf die Trennung, klar. Als ich dem Jungen gestern abend vorlas in seinem Kinderzimmerbett und wir die Tür zuschlossen, weil die Zwillingskindlein immer hereinwollten und dann Unfug anstellen – sie sollten ja selbst längst ins Bett -, schlägt schließlich das Mädchen gegen die Tür und weint aufschreiend: „Papa! Papa!“ Da bin ich raus, ging in die Hocke und nahm das Kindlein in den Arm. Es mochte gar nicht loslassen. Dieses ständige Wiedersehen ist nicht gut; es wird dringende Zeit für die Sohnes-Vater-Wohnung. Auch der Zwillingsbub, wenn ich da bin, umklammert meine Beine und möchte nicht loslassen. Was das mit mir selber anstellt, daran will ich nicht denken: ich brauche jetzt einfach einen ganz klaren Kopf. Es ist wie es ist. Im Zweifel für die Tatsachen, sagt Hegel. Ich will nicht, daß Dich die Trennung das Gymnsium kostet. Αναδυομένη wiederum: „Du setzt das Kind viel zu sehr unter Druck. Das schlägt zurück. Laß locker!“ Und der Profi, zu dem ich abends radelte, weil in der Nachlaßsache meiner Mutter ebenfalls gehandelt werden muß, und zwar zügig, ich brauchte Rat: „Er hat da einen Block. Laß ihn doch. Wenn er auf der neuen Schule ist, ist’s eine neue Schule. Das wird Anreiz genug sein. Der Bursche ist doch klug!“
Ich bin Atlas. Ein bißchen. Momentan. Ich halte die kleine Welt einer zerbrochenen Familie. Und meine eigene zusammen. Aber die Berge stürzen von den Schultern einfach je zu den Seiten weg. Und auch die Muschel wird bald nicht mehr sein; nicht mehr so jedenfalls, nicht mehr nächtlich umarmend und dem Lächeln am Morgen. Aus objektiven Gründen, rein auch, um andere Kinder zu schützen. Wer sich ein bleibendes Haus baut.

15.16 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Es waren selbstverständlich a l l e beteiligt, und die fünf Burschen standen sich wacker in der „Vernehmung“; keiner sagte, d e r da war es, ich war es n i c h t. Das gefiel mir letztlich gut. Auch das kleine, wirklich s e h r kleine Mädchen war dazugeholt, ein Inder- oder Tamilenmädchen; die Eltern hätten sehr viel Angst, sagte uns die Lehrerin. Sò, Lösung des Ganzen: die Jungs treten am Sonnabend um halb zwei gemeinsam an, dann reparieren sie das arg demolierte Rad unter Anleitung zweier Väter. Ich werde dabeisein. Die Jungs werden losgeschickt, wenn wir Ersatzteile brauchen, d i e wir brauchen; dann wird das Rad neu lackiert, und ein paar Verschönerungen, die es vorher nicht hatte, werden gestehalber dazugetan. Am Montag wird das Rad dem Mädchen dann neu übergeben werden, und jeder der Buben hat ein Geschenk für sie dabei. Damit wird die unschöne Sache dann vom Tisch sein.
Kaum war ich wieder hier, rief Αναδυομένη an: da gebe es eine preiswerte Wohnung dort und dort; ich solle sofort hinfahren. Tat ich. Die Eckdaten stimmen, aber es ist ziemlich weit weg von Deiner künftigen Schule, vor allem aber: Fünfzigerjahre„neu“bau mit ganz niedrigen Decken, alles mufft nach Kleinbürgertum; mir ging eine Spange ums Herz, wie Atemnot, wie Rückkehr, gezwungener, in den Muff. Ich bekäme Depressionen. An sich müßte ich drüber wegsehn, aber da ginge ich nie gerne hin, und außerdem bekäme ich meine Bücher dort nicht unter, nicht die Musiksammlung, kaum den Schreibtisch durch Hausflur und Wohnungsflur; ich müßte die Arbeitswohnung deshalb zusätzlich halten, und dann wäre w i e d e r alles auseinanderdividiert und zentrumslos für den Jungen. Aber, wie auch immer, ich muß mich um die Wohnung dringend kümmern, sonst läuft mein Bub völlig aus dem Ruder. Kurz auch darüber mit der Lehrerin gesprochen: „Lassen Sie uns ein Vierrteljahr abwarten, dann müssen wir entscheiden.“ Das Gymnasium steht wieder auf der Kippe. „Wir wissen, weshalb,“ sagte sie, „darüber müssen wir nicht sprechen; aber es bringt nichts zurückzugucken; es bringt nur etwas, nach vorne zu gucken.“
Das beschäftigt mich.
Mit dem >>>> Miniaturen-Text begonnen. An sich hätte ich nachher um 17 Uhr ein Treffen mit dem Dramaturgen der Deutschen Oper; ich habe es abgesagt. Ich krieg momentan kaum den normalen Ablauf auf die Reihe, geschweige, wie sollte ich da etwas Neues ankurbeln können? Tief tief tief geschlagen zu Mittag. Und, liebe diadorim, >>>> das gehört auf die Hauptsite Der Dschungel. Hab’s schon umquartiert.
Ein sehr schöner Brief von >>>> Büttiker zu >>>> MEERE: ich habe von den unterschiedlichsten mitlesern meines blogs, auch solche die ich gar nicht kenne, nachricht erhalten, dass sie meere erstanden haben. das ich schön. ich warte nun auf feedback und werde diese dann an sie weiterleiten.Dazu A. in Skype: „Ja, ja… von wegen totes Buch und so! *kopfschüttel* HERBST was gut ist setzt sich durch!!“

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