4.59 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Seltsam, wie leicht es wurde, sich schmerzhaft zu trennen. Gestern verlor ich (oder vorgestern, ich weiß es nicht) den alten Wappenstein aus dem Familienring, den mein Vater trug, den s e i n Vater trug, den dessen Vater trug, den ich meinem Sohn hinterlassen wollte. Ich bemerkte es am Bahnsteig zu Wandlitz; ich weiß, wie mein Gesicht kurz zuckte, ich spüre das noch, aber wie so sehr schnell ich das im Griff hatte und mit meinem väterlichen Freund Dieter B. dachte: Dinge. Es sind Dinge. Er hat mir von Goethe erzählt: Am Ende bleiben die Dinge – einen Satz, den d e r immer bei sich getragen zu haben scheint. Ich dachte, daß es doch n u r Dinge seien. Es tat mir leid wegen Dir, weil Du immer gesagt hast: Und wenn du tot bist, Papa, dann bekomme ich ihn, nicht wahr? – Das, Junior, wird nun nichts mehr werden.
Seltsam, wie ich mich in der vergangenen Woche von lauter Dingen getrennt habe, willentlich, nicht, wie hier, unabsichtlich. Aber das Unabsichtliche, wenn es eins ist, paßt. Ich weiß nur nicht genau, worauf, habe eine kindliche Tendenz, es symbolisch zu verstehen, o h n e es doch zu verstehen.
Gleich breche ich auf: ich will möglichst täglich wieder laufen. Αναδυομένη auch. Sie schlug vor, es sehr frühmorgens gemeinsam zu tun. Also ins Sportzeug und ab.
6.30 Uhr:
[Strauss, Oboenkonzert.]
Zurück. Das tat gut. 4 km/25nochwas, paar Dips, Liegestütz, Bauch und so, was wehtun muß, um was zu bringen… hierher zurück. Latte macchiato.. Jetzt an >>>> Prunier (ff), danach Dusche. Will erst mal das Nachschwitzen und Blutbumpern genießen. Für eine fast dreijährige, von Tabakmißbrauch aufgeblasene Trainings„pause“ lief der Morgen schon mal fein.
(Ach ja, hab mir gestern einen Sonnenbrand auf dem Schädel geholt, obwohl die Sonne kaum mal durchguckte da am See. Dauernd crem‘ ich jetzt. – Sie fragen mich, wen das interessiert? Je nu‘, ich habe keinen Schimmer. Aber es soll Künstler gegeben haben, deren gelegentliche Einkaufszettel bei Sotheby’s gelandet sind. Die meinen kriegen Sie umsonst. Also seinSe >>>> dankbar.)
7.29 Uhr:
Zwischen>>>>prunier: Schostakowitsch, Cellokonzert:: Seltsam, wie die Musikgeschichte zusammenschnurrt::: wie unerheblich die ideologischen Auseinandersetzungen um Tonalität, Serielle Schule, Darmstadt, Neoneo-Klassizismus werden, ist erst einmal die Zeit darüber hinweggegangen. Ich muß mir das wegen meiner vorgeblich so klassizistischen Gedichte vor Augen halten, daß, egal was „der Betrieb“ auch meinen möge, in fünfzig/hundert Jahren all das gar keine Rolle mehr spielen, sondern alleine noch entscheidend sein wird, ob sie Leser gefunden haben, die sie mögen. Man darf sich absolut nicht auf Diskussionen einlassen, wenn man eine Idee hat und sie verfolgt. Do neulich zu >>>> den Engeln: einiges sei ganz beeindruckend, anderes nur gut, wieder anderes okay; „toller Gedichtband!“ rief sie per SMS aus. Da können mir die Thomas Wohlfahrts dieser Welt restlos gestohlen bleiben, ob sie mich zu ihren Poetiknächten nun einladen oder nicht; es ist einfach schnuppe und allenfalls um nicht verdientes Lesehonorar schade. Schnuppe ist in dem Zusammenhang auch, ob >>>> dielmann nun spurt oder überhaupt nun spurt oder überhaupt mal was tut für das Buch oder nicht. Und ob es nun immer noch keine Umschläge gibt oder nur welche in Einzelauflagen.
9.10 Uhr:
[Schostakovitsch, Erstes Klavierkonzert.]
Jetzt habe ich eben auch noch den Text für die neue PEN-Anthologie fertiggemacht; so ist >>>> das Ding, das zu >>>> dieser Diskussion geführt hatte, nun also doch noch untergekommen. Für 600 Euro, immerhin. Hab’s gerade an den … au au au: General(!!!!)sekretär des Verbandes hinausgeschickt. Paßt ja, so ein General, zu so einem Schostakovitsch.
(Gleich wird Αναδυομένη mit frischen Brötchen herkommen. G’frühstückerlt wird.)
18.19 Uhr:
VielesErledigungstag. Dann kam ich ans Cello (und werde gleich noch ein halbes Stündchen üben, bis es Abendbrotszeit ist: Du bist heute wieder hier), begann zu spielen – da lag der verlorene Wappenstein aus dem Familienring vor meinem rechten Fuß; angestoßen, ja, etwas ist abgesplittert, aber er wird sich richten lassen: Man kann fast sagen: er habe m i c h wiedergefunden…. – Seltsam.
Du mußt morgen erst um zehn in der Schule sein; da werden wir heute noch ein bißchen Backgammon spielen…
21.04 Uhr:
[Keith Jarrett spielt Händel.]
So, der Bub schläft. Mit und zu Händel. Vorgelesen ist, ge-backgammon ist, gegessen ist, in umgekehrter Reihenfolge. „Ich habe überhaupt mehr Privatleben“, >>>> schreibt Buschheuer soeben. Ich aber lese mehr, seit ich Die Dschungel derzeit wachsen lasse, wie sie und ihre Heger möchten, und seit ich’s mit der literarischen Arbeit einmal ruhig angehen oder auch nicht angehen lasse. Jetzt nämlich wird weitergelesen: William Faulkner, Das Dorf (ff). (Ich weiß, daß noch Briefe zu schreiben sind. Ja und?)
ausnahmsweise ich habe ausnahmsweise
mal eine grundsatzfrage:
inwieweit muss der leser
einer erzählung die handlung
verstehen können?
oder genügt die prise
eines verständnisses – und
es ist trotzdem gut erzählt?
@rostschleifer. D
eipende, sagt „der“ Italiener: kommt drauf an… also drehe ich Ihre Frage um: wenn gut erzählt i s t, dann genügt die Prise; andernfalls focussiert sich ein Text auf die (funktionale) Mitteilung. Sie dürfen nicht vergessen, daß manches – möglicherweise – nicht zu verstehen i s t — auch dem Dichter nicht, der davon schreibt, vielleicht darum davon schreibt. Die Verhältnisse sind noch sehr viel komplizierter: Es ist auch denkbar, daß er, der Dichter, die, die Dichterin, was sie beschreiben, nicht verstehen, wohl aber ihre Leser. Oder daß die glauben, es zu verstehen, daß sie tatsächlich etwas verstehen, aber vielleicht etwas Falsches, während wir Dichter nicht einmal das Falsche verstehen. Wer ist dann näher an der Wahrheit?So, und jetzt lese ich „meinen“ Faulkner.
di…!!! (mäkelnd unterwegs! : aber nur deswegen.)
@parallalie. Danke. Korrigiert.
[„de“ klingt aber schöner, oder?]