Castitas & Disziplin. 01. 10. 2009. Paul Reichenbach noch immer sprachlos.

Man ist mit sich allein.
Mit den anderen zusammen sind es die
meisten auch ohne sich. Aus beidem muss man heraus.

Ernst Bloch, Spuren

Erst der “hegelsche Mord”, die Verneinung des anderen Ich, ließ mich zu mir selber wieder Ja sagen. Nirgendwo, dachte ich gestern mit Lacan, wird Freiheit so authentisch bejaht wie hinter den Mauern eines Gefängnisses. Die Erfahrung der Ohnmacht des eigenen Bewusstseins übersteigt jede Situation, die vorher war und die danach kommt. Wo die Befehlsgewalt über sich selbst einem genommen ist, stellt sich Demut ein, die neuen Willen konstituiert. Die in der Demut geknebelte Rebellion sammelt sich erneut, die, diesmal in der Disziplin des Überlebens Kasteiung verlangt, um sich bewahren zu können. Daran erinnerte ich mich als ich vor Tagen mein verfallendes Zuchthaus in Cottbus umrundete. Im Tal der Tränen ist alle Autonomie Illusion. Die Reproduktion der Vergangenheit setzt einen emotionalen Prozess in Gang, dem nur die Hebamme Vernunft Einhalt gebieten kann. Sie, die eigene Vernunft, hilft jene Wahrheit zu gebären, die sich hysterischen Offenbarungen von Vergangenem, indem sie ein Ordnungskorsett schnürt, widersetzt. Eine Zeit des Verstehens triumphiert dann, wenn die verdrängte Erniedrigung, die Vernichtung des Ich, aus gutem Grund zensierte Kapitel meiner Geschichte, von mir wiedergefunden wird..Die negative Freiheit des Wahnsinns produziert nach langer absence de la parole eine positive Freiheit des Sprechens, die um ihre Grenzen weiß. Hoffe ich… Das gilt es zu stemmen.

Bildquelle>>> H I ER

5 thoughts on “Castitas & Disziplin. 01. 10. 2009. Paul Reichenbach noch immer sprachlos.

  1. Paradoxien der Freiheit Danke für diesen Artikel. Das ist sicher nicht so einfach, über Grenzerfahrungen zu berichten.
    Ich frage mich, ob im Umkehrschluss dessen, dass man in der Unfreiheit des Leibes eine Freiheit des Geistes erfahren m u s s, um zu überleben – übrigens hat ein guter Freund von mir erst im Gefängnis zu schreiben begonnen und wusste erst durch den Aufenthalt dort, dass er es überhaupt kann und will – also was wollte ich sagen, ob im Umkehrschluss nicht die absolute Freiheit der Persönlichkeit in einer Gesellschaft zugleich die große Depression fördert, wenn sie nicht zugleich Hilfestellung zum Umgang mit dieser Freiheit gibt .Der Mensch ist frei, so lange er andere straffrei hält. Er kann machen was er will, im schlimmsten Fall interessiert es keinen anderen Menschen. Es wird suggeriert, dass alles möglich ist, wenn er nur will und sich genug Mühe gibt. Weil er aber gar nicht weiß, ob er von allen Dingen, die zur Wahl steht, überhaupt fähig ist zu einer, und alle auszuprobieren, fehlt die Zeit, wird er von dieser Freiheit völlig gefangen genommen. Ein Druck bzw. beschränkte Möglichkeiten reduzieren ja immer auch die Mittel des Selbst. Ich will jetzt nicht den freien Tanz in Ketten zitieren, weil das zynisch wäre angesichts der Tatsache, dass Sie tatsächlich im Gefängnis und all Ihrer Freiheiten b er a u b t waren. Aber ist es nicht paradox, dass die Erfahrung der Unfreiheit, die Sie im Gefängnis gemacht haben, Sie zu einer Art Erhebung Ihres Willens und Ihres Ichs über die äußere Begrenzung gezwungen und damit zu einer Freiheit geführt hat, die jemand, der sich permanent in äußerer Freiheit befindet, gar nicht machen kann?
    Ist FREI VON zugleich auch FREI ZU? Oder ist die heutige Freiheit ZU ALLEM eine permanente Illusion, die nur noch durch wirtschaftliche Not in Frage gestellt wird und notwendiges inneres Wachstum verhindert?
    Ich hoffe, ich hab mich verständlich ausgedrückt und dass Sie meine Frage angesichts Ihres Erlebten nicht als zynisch empfinden.
    Herzlichst – Ihre Terpsichore

    1. Ja, es ist nicht einfach

      über Geschehnisse zu schreiben, die oft, um überleben und andere schützen zu können, gerade keine Heldenpose verlangen. Gestern sah ich in der ARD einen, zugegeben kitschigen Politthriller, der mir Tränen der Wut in die Augen trieb. Die Geiselnahme, – drohende Inhaftierung der Ehefrau, drohende Zwangsadoption unseres damals halbjährigen Kindes -, machte mich in einem Maß erpressbar und damit unfrei, wie ich es mir in meinen schlimmsten Träumen nicht hätte ausmalen können. Solch eine Lage wünsche ich keinem Widersacher. Dass dennoch Freiheit, gerade im Knast, wieder gewonnen werden konnte, ist vielen Faktoren dankbar geschuldet, die mehr außer als in mir selbst gelegen haben. Da ist ein Brief von der Liebsten, da sind Erinnerungen an Liebschaften, da ist die Literatur, die Poesie, oder ein durch gefaltetete Hände geblasenes Trompetenkonzert von Telemann eines Mitgefangenen, der vor seiner gelb- bestreiften Zeit, 1.Trompeter der Staatskapelle Dresden gewesen ist. Da ist der Amselsang am Morgen in der Isolationshaft:

      Farewell
      für unseren Sohn zum 25. Geburtstag

      Ich war nicht dabei als du laufen lerntest
      Der Himmel über mir ein Netz aus Stahl
      Und hörte nie der ersten Worte Klang.

      Ferner Amselsang
      Schrittmass mein Raum.

      Nun, da du gehst und sprichst
      Der Himmel über dir ein Meer
      So blau .

      Mach die Leinen los
      Setz die Segel
      Wind weht achtern.

      Reise, reise

    2. Danke, dass Sie es trotzdem tun.
      Ja, ich verstehe was Sie meinen. Wenn man so einen Film sieht zwischen Kitsch und Verharmlosung “…und schwupsdiwups waren neue Eltern da!” (hab nur Ausschnitte gesehen) kann man schon verzweifeln. Aber wir waren noch nie gut in der Aufarbeitung unserer Geschichte, und vielleicht – Vermutung – spielt auch hier wieder die große Freiheit eine Rolle. Auseinandersetzung mit diesem Thema kann, “von unten betrachtet” und eben nicht in Freiheit , auch anders aussehen, wie Liao Yiwu mit seinem Buch beweißt.

      http://www.hr-online.de/website/rubriken/kultur/index.jsp?rubrik=42866&key=standard_rezension_37956904

      Edit: Lese jetzt gerade das Gedicht. So einfach ist es und tief traurig macht es. Und hat doch Hoffnung in sich. Danke, dass Sie es hier eingestellt haben.

    3. Danke.

      Auf Ihre Kernfrage, ob und wie jemand durch Unfreiheit ” frei” werden kann, kann ich heute nicht antworten. Einfach aus Mangel an Zeit. Sehen Sie es mir nach. Bei passender Gelegenheit, was mich betrifft, komme ich darauf zurück.

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