Bärenhäuter. 12.11. 2009. Paul Reichenbach lebt gefährlich.

Die dünne Haut ist die letzte Sicherungsfolie zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Gesellschaft. Es braucht ein dickes Fell sie vor Diffusion zu schützen. Nicht jeder hat es. Enke hatte es nicht. Ich habe es nicht. Und viele andere haben es auch nicht. Als Kind wollte ich gern Lokführer werden. Sehnsucht nach Macht über die Maschine, Lust an beweglichen Landschaften, schon das eine kindliche Täuschung, bis heute hält sie an, und die Freude an der Geschwindigkeit, am Fahrtwind, haben den jungenhaften Traum über Gleise zu rattern immer wieder neu genährt. Das Wort Verantwortung kommt dem Jungen dabei nicht in den Sinn. Dem Älteren ist sie dann einfach so, im Wachsen sozusagen, zugewachsen. Nur wer sich zuwachsen lässt, wem das gute Unglück eines dicken Fells schicksalhaft verhängt ist, wird die Illusion von Glück für Realität halten. Dickes Fell bewahrt vor Verletzung und Häutung, vor Risiken von Abrechnung, Zuwendung, Ablehnung und Neubeginn, vor Nebenwirkungen allzu dünner Haut. Pelze machen nicht gescheiter. Ist doch nur die/der “Nackte” in der Lage Erkenntnis sinnlich zu erleben, gleich ob das vor dem konvexen Spiegel der Erinnerung, – „konvex ist der Buckel von der Hex“ – oder vorm konkaven Bild, das Zukunft zugaukelt, geschieht. Kein noch so dicht gewebter Schutzmantel kann, auch wenn er wärmt und vermeintliche Sicherheit verspricht, die gefährliche Lust an und zu dünner Haut ersetzen. In der Berührung mit der Kunst, im Touch me Haut an Haut spanne ich mich. Lass Diffusion zu, um zu entspannen. Erfüllung, Er/Sie/ Es-Fühlung, Einfühlung sind nur als berührende kurze Momente zu erfahren. Wer sie festhalten will, wird des Teufels Gesell’, wird zum Bärenhäuter, bringt sie, bringt sich um.

7 thoughts on “Bärenhäuter. 12.11. 2009. Paul Reichenbach lebt gefährlich.

    1. Danke.

      Pauls melancholische Nachdenklichkeit ist das Eine.
      Das Andere, Schiller, gilt aber auch: »Und die Sonne Homers, siehe, sie lächelt auch uns.« Friedrich Schiller

    2. @Reichenbach. Nur war – und ist – gerade d i e s e Sonne – grausam. Man kann seine Verse eine gestaltete Barbarei nennen, ohne die Kunst nahezu immer Kitsch wäre. Genau deshalb liegt sie mit der “Aufklärung” in ständigem Streit. Goethes Erlösung Fausts ist eine von der Klassik herbeigewollte Täuschung.

      [Poetologie.]
    3. “und die sonne lacht… … homerisches gelächter.” (frei nach schiller)

      zuwachs ist gut, lieber herr reichenbach, solange Sie sich nicht auf die bärenhaut legen. ich meinesteils befelle mich zumindest auch wieder.

      gerade komme ich von einem stündigen gespräch mit einem seit langem bewunderten, (das gibt es noch!:) echten gelehrten zurück, der es auf leise art versteht, welten zusammenzuführen. gewissermaßen ein antidot – nein: komplement zu den LEICHT ADIPOSEN MURNAUEREIEN ges-hä!-tern im café k. – wo nur Ihr freund montgelas gefehlt hat.

      es grüßt Sie

      A.

    4. @ANH

      Ah, Sie erinnern an die „Querelles“ und haben nicht ganz unrecht mit Ihrem Einwand. Die Sonne Homers scheint für die „modernes“ recht dunkel. Es ist Herder gewesen, der Begriffe wie „die Alten“ und „die Modernen“ hinterfragt und den Parteigängern der Aufklärung mangelnde historische Differenzierung vorwirft. Ihr Kommentar tut ähnliches, nur seitenverkehrt. Gut, zugestanden, Homer, der die antike Geschichte Griechenlands überwölbt. ist älter als z.B. Perikles, und doch steht er mit ihm in Zusammenhang. Herder jedenfalls mehr um Ausgleich bemüht als Sie, löst den Streit für sich in einem endgültigen Fazit auf, indem er meint, dass „ uns die Alten, die an Sitten und Staatsverfassung so entschieden voraus waren, an Künsten unerreichbar sind, wir sie aber an Bildung und Vernunft übertreffen.“ Herders ausgleichende Position teilt, wenn ich den Faust richtig interpretiere, auch Goethe, der „historisch differenziert“ „die Alten“ im II. Teil fröhliche Urständ feiern lässt und sehr genau weiß, dass sein Heinrich sich täuscht, ja sich vielleicht auch wissentlich von den Lemuren hinters Licht führen lässt. Den Verlust an Welt beschreibender und Welt gestaltender antiker Poesie, den Herder zu minimieren versucht, stellt er den Gewinn an Literatur entgegen. Dabei hat Herder die Hoffnung nie aufgegeben, dass es gelingen möge, die beiden scheinbaren Antagonismen des Geschichtsprozesses ( alt u. modern) einander anzunähern und „die Botschaft der Frühe zu einer neuen Gesinnungsbildung in die zivilisatorisch und tausendfach durch Vermittlungen bestimmte Gegenwart hineinzutragen“ (Werner Krauss). Herder formuliert , das ist meine Meinung, was uns als Aufgabe ein Leben lang aufgegeben ist.

    5. @Aikmaier

      Lieber Herr Aikmaier,
      gern wäre montgelas im Café K. mit dabei gewesen. Erst gestern fluchte er über die viele Arbeit, die er selbstverschuldet sich eingehandelt habe. Er lässt Sie grüßen und wünscht Ihnen ein gutes Wochenende. Übrigens, weil ich es den TB-Beitrag voranstellen wollte, suchte ich gestern erfolglos Jacob Baldes Gedicht “Melancholia” in Deutsch.

      Ihr Paul Reichenbach

      P.S. Dass Ihre „LEICHT ADIPOSEN MURNAUEREIEN“ ein „Hä“ aus dem On ins Gestern schmuggelten, ist montgelas rätselhaft geblieben, mir dagegen war es sofort eingängig.

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