Leerstück. Hans Neuenfels inszenierte Aribert Reimanns Lear unter Carl St. Clair an der Komischen Oper Berlin.

Aribert Reimann war selbst da. Als er, nach der Premiere, auf die Bühne trat, brandete ein sowieso schon tosender Beifall gischtartig auf. Der mittlerweile alte Herr mochte vor Rührung und Glück eigentlich jeden umarmen, der in seiner Nähe stand. Das versöhnte, versöhnte mich sehr, so daß ich diesen Verriß eigentlich gar nicht mehr schreiben möchte, der weder der Musik, na sowieso, noch ihrer Aufführung gilt. Im Gegenteil, der zierliche, hochnervöse Carl St. Clair – auch er von Glückswellen, weil ihm sein Stück Musik gelang, dauerlachend überschwemmt – ist ein Segen für dieses Haus und sein Orchester, Segen auch, sicher, für die Sänger, die stimmlich nicht nur präsent waren, sondern vom Orchester durch die in ihrer Dynamik höchst anspruchsvolle Partitur wirklich getragen wurden; selbst die eruptiven Ausbrüche hielt St. Clair derart sicher im Griff, daß sogar die Textverständlichkeit gewährleistet blieb – immer noch eine Seltenheit im Musiktheater. Es kommt hier auf bewußteste Feingriffe an, oftmals Nuancen des dynamischen Austarierens. So vieles bestimmt den Eindruck mit, das man kaum in der Hand hat. St. Clair hatte. Da ist sowohl das verzweifelte wie haßgeladene Feuer, da sind die leisen Verzweiflungspartien, die Stürme, der Regen, da ist das lange holzbetonte Trauer-Orchesterspiel vor Edgars Cantilene als Tom… – Musikalisch also war die gestrige Premiere eine Sternstunde an der Komischen Oper Berlin. Auch die Besetzung war, wie fern von populären „Namen” auch immer, hinreißend, ob nun der höchst markante Bariton Tómas Tómassons, ob Irmgard Vilsmaiers Goneril, ob gar der Glosterbaß des Moll-Schülers Jens Larsen. Rein makellos waren die Sänger, makellos gerade >>>> für diesen Lear. Man könnte nur schwärmen, wäre nicht –
– ja, wäre nicht Hans Neuenfels. Wäre er denn fähig gewesen, auch umzusetzen, was er in dem im Programmheft abgedruckten Gespräch so vielversprechend angekündigt hat. Stattdessen inszeniert er das ohnedies, seiner Eingangsvoraussetzung wegen, schon bei Shakespeare heikle Stück wie ein halb brechtsches, halb groteskes Theater, das eben n i c h t auf Einfühlung, sondern darauf angelegt ist, eine Moral oder sonstig politische Botschaft zu vermitteln. Um sowas kann es aber im Lear gar nicht gehen, weder um eine Zirkuslust an ausgerissenen Augen, noch um die furchtbaren Folgen der aus verkalkter Eitelkeit begangenen Dummheit. Wir kapieren doch unmittelbar das Unheil, das maschinenartig-notwenigerweise auf sie folgen muß. Uns dies noch illustrieren zu wollen, ist dumm ja rein selbst und nichts als ein alterspubertärer Einfall, die Kontrahenten auch mal durch Gitterläufe für Zirkustiger auftreten zu lassen. Nein, es geht hier um etwas jenseits solcher Modelle – weshalb sich bereits die Abstrahiertheit des Bühnenbildes Hansjörg Hartungs verbietet. Es geht um ein persönliches Leiden, für das es egal ist, ob man’s sich, und aus welchen Gründen, selbst eingebrockt hat. Motive spielen im Lear keine Rolle, eben weil sie sowieso aufs banalste durchschaubar sind. Sondern erst, indem die Person in einem Prozeß äußerster Einfühlung a l s Person im Moment ihres Leidens erfaßt wird, kann dieses Persönliche in ein allgemeines übertragen werden; nicht aber, wenn sich vor diesen leidenden Menschen die Konstruktion eines belehrenden Regie-Konzeptes schiebt. Statt dessen braucht man Bilder, man braucht Landschaft, gerade im Lear, man braucht, kurz, Größe der Szene. Dabei zu vermeiden sind Typisierungen. Die aber beherrschten gestern abend die Szene von Anfang bis Ende, besonders auffällig bei den beiden „bösen” Schwestern, die bei Neuenfells wie böse Schwestern bei Disney aussehen und grell überzeichnen, was aus der Musik sowieso spricht. Nichts als Über-Verdopplung zur Karikatur. Die gute Schwester genauso, na logisch ist sie bei Neuenfels hübsch. Man kann seine Zeichnung der Frauenfiguren, so betrachtet, frauenfeindlich nennen, so ungebrochen wird das Geschlechtervorurteil bedient. Aber selbstverständlich beklatscht. Oder ist es so, daß man Neuenfels zuklatscht, weil er Neuenfels heißt? Wäre die halbe Berliner Prominenz dagewesen, hätte er Stabbel geheißen und wär geschichtslos angetreten?
Die Typisierung geht aber auch an den stimmlich so vorbildlichen Lear selbst. Es ist nachzuvollziehen, daß man einen solch kraftvollen Sänger wie Tómasson haben will, gar keine Frage, mit allem Recht ist das „Casting” geblendet. Doch steht der Mann auf der Bühne nicht wie einer am selbst nur beginnenden Alter, sondern wie geradezu auf der Höhe absoluter Macht, gegenwärtig, resolut: ein Potentat um die 50, der noch für die nächsten dreißig Jahre nicht dran dächte abzudanken. Da ist – außer ganz zu Anfang beim „ach, dieses Verlangen nach Schlaf…” – nicht die Spur von Brüchigkeit. Fischer-Dieskau, in seiner berühmten Interpretation der Partie, gelang die Brüchigkeit übers Deklamatorische seiner Stimme; Dietrich Henschel, heute, hat das kultiviert; nicht aber Tómasson, dessen Interpretation von Gebrechlichkeit hätte deshalb mimisch seinmüssen, schauspielerisch; mal wenigstens bücken hätt er sich können. Dessen nahm sich selbst die Maske nicht an. So daß der learsche Wahnsinn zur billigen Groteske wurde – einfach nur bizarr, wenn der starke Mann greiskindhaft lallt oder lacht. Das Groteske, Absurde und Bizarre sind doch längst zu Klischees des zeitgenössischen Theaters erstarrt und haben die sowieso nur vermeintlich aufklärerische Funktion längst verloren; es läßt sich dem, abgesehen von gehobenem Publikumsgrinsen, rein nichts mehr abgewinnen. Vor allem ist es bodenlos langweilig und zieht in die Länge, was in die Tiefe ausgehorcht, ja überhaupt erstmal erfaßt werden müßte. >>>> Keith Warners letztjährige Inszenierung in Frankfurtmain hat das getan. Hier hingegen sind die Figuren eben nur Figuren, sind sie Strohpuppen eines uneigentlichen Ganzkörperpuppentheaters, das keine andere Entfremdung mehr zeigt als die Entfremdung von dem tragödischen Stoff, d.h. von der eigenen Arbeit. Man halte nur den alten Kortner gegen Neuenfels’ abstrakte modische Mätzchen, und die Differenz wird klar. Worum es gehen müßte. Und wofür gestern abend, hätte sie nicht ein Regisseur in den Maschen seiner Selbstgefälligkeiten verstrickt, alle sonst – die Musiker, die Sänger, der Dirigent – auch nachdrücklich hätten eingestanden. Das hat ihnen der bornierte Mann aber auch sowas von vermasselt. Ach, Leser, ach! Dieses Verlangen nach Schlaf!

Weitere >>>> Aufführungen:
27.11., 19.30 Uhr
5.12., 19.30 Uhr
18.12., 19.30 Uhr
>>>> Karten.

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