Auf- und Niedergänge. Ein Gespräch (1)

Von Napoleon gibt es einen Witz: Mitten in einer Schlacht kommt ein
vorgeschobener Franctireur zu ihm und meldet, dass man den gegnerischen Feldherren im Visier habe und jederzeit abschießen könne. „Schreckliche Vorstellung!“, entgegnet Napoleon entsetzt. „Wie soll ich denn dann die Bataille gewinnen? Heerführer haben weiß Gott wichtigeres zu tun, als aufeinander zu schießen!“

Alban Nikolai Herbst wurde eine der Führungsfiguren der literarischen Postmoderne“ genannt. Zwar hat noch niemand André Thiele „eine der Führungsfiguren der literarischen Vormoderne“ genannt, aber es gibt gewisse Momente, da hätte er nichts dagegen, wenn es geschähe.
Beide Herren vertreten also ziemlich entgegengesetzte Positionen im
Spektrum der geistig-literarischen Möglichkeiten. In einem kurzen,
heftigen Austausch fochten sie 2007 gegeneinander, begannen aber auch,
einander zu lesen. Auf Vermittlung des Redakteurs Ulrich Faure trafen
sie sich auf der Frankfurter Buchmesse 2009 persönlich und entdeckten
kurz darauf, dass sie eine Liebe teilen: Die zu Wolf von Niebelschütz.

Beide beschlossen, sich an Napoleons Vorschlag zu halten und statt aufeinander zu schießen lieber ein Gespräch zu führen; zum Verhältnis von Klassik und Romantik, zu Konservativität und Moderne, zu Wolf von Niebelschütz und Peter Hacks; zu allem, bloß nicht zu Autos.

Das Gespräch wird parallel hier und >>>> auf der Peter Hacks Seite veröffentlicht.

AT
Während eines netten Beisammenseins wurde ich neulich gefragt, was der Unterschied zwischen Moderne und Postmoderne sei. Ich dachte nach, kam aber auf keinen vernünftigen Gedanken. Nur, irgendetwas musste ich ja sagen, also erwiderte ich: „Die Moderne zerfällt in drei Phasen. Die frühe Niedergangsphase, diese nennen wir die Romantik; die mittlere Niedergangsphase, diese nennen wir die Moderne; und die späte Niedergangsphase, diese nennen wir die Postmoderne. Die Romantik heißt so, weil sie besonders langweilige Romane hervorbringt. Die Moderne heißt so, weil sie schwer in Mode ist. Die Postmoderne heißt so, weil sie nicht mehr mit der Post, sondern mit dem Internet verbreitet wird; Kenner nennen die neueste Form der Moderne deswegen auch die Elektropostmoderne. Wären ihre Betreiber nicht entlang der Zeitachse gestorben, gäbe es keine soliden Kriterien, anhand derer man die verschiedenen Phasen der Moderne auseinanderhalten könnte. Die Geisteshaltung zum Beispiel von E. T. A. Hoffmann und Franz Kafka ist dieselbe, einmal mit, einmal ohne Feen; einmal mit, einmal ohne Schnaps. Die Konstanten aller Formen der Moderne sind in der Ästhetik die Ablehnung des Allgemeinen, in der Politik die Angst vor dem Staat und in der Theorie die Flucht vor dem System. Die wahrscheinlich zutreffende Definition lautet: „Moderne ist das, was modern gesinnte Menschen tun. Modern gesinnt ist ein Mensch, der, wenn ihm übel zumute ist, der Welt die Schuld gibt.“ Sie sehen, es war ein fröhlicher Abend. – Hätten Sie eine bessere Antwort auf die Frage gewusst?

2 thoughts on “Auf- und Niedergänge. Ein Gespräch (1)

  1. Herr Prometheus v. Goethe an Herrn André Thiele.

    [Goffredo Petrassi, Salmo IX „Confitebor tibi, Domine“.]

    Lieber André Thiele, nicht nur ich teile mit Ihnen die Freude an Wolf v. Niebelschützens Büchern, auch Walter Boehlich, wir könnten seufzen „ausgerechnet“, hat sie geliebt und ihren Rang ganz unabhängig davon zum Ausdruck gebracht, daß er die bürgerliche Literatur in einer seinerzeit berühmten Einlassung so totsagte, wie wir unterdessen wissen, daß sie’s ist – als ein übers Entertainment hinausgehendes Medium von Kunst nämlich. Nun sagte Boehlich freilich die bürgerliche Literaturkritik tot, die doch gerade in der Zeit noch Hochstände feierte, bevor sie, wie so vieles andere, wie das meiste, in den Pop ging. So sehr ich nun meinerseits auch den Hang zu Bonmots mit Ihnen teile – im Zweifel für die Idee – und so schön Ihr Bonmot zur Moderne auch zweifelsfrei ist – ich kann die Idee genießen -, so greift es doch inhaltlich kurz. Allein „modisch“ und „modern“ zusammenzunehmen, krankt vor allem daran, daß, was modern war, ist, sei, nun gerade seit Ende der Aufklärung, aber imgrunde schon davor, eben n i e Mode gewesen ist; vielmehr ist ästhetische Mode nach wie vor dasjenige, was ich ein tönendes Biedermeier nenne; Ausbrüche daraus, freilich, gab es; sie waren vor allem jugendlich, jugendbewegt, waren auf politische Veränderung gerichtet, waren Revolte und Aufbruch und kündeten in jedem Fall davon, daß etwas zuende gegangen sei oder zuende gehen werde. Die Moderne ist, anders als die Klassik (unscharfer Begriff, ich verwende ihn regulativ: s o ist er brauchbar), auf Emanzipation focussiert; was in der Moderne, zu der ich m i t Ihnen die Romantik zähle, niedergeht, ist das falsche Weltbild einer prästabil(isiert)en Harmonie. In die Stelle einer von „Gott“ oder Systemen eingerichteten Weltverfassung, die dem Hungernden so bleibenden Status, ja Wert und Notwendigkeit gab wie dem im Luxus stolzierenden Fürsten, schiebt sich der Prozeß. Ihr kluger Bonaparte, nachdem ohnedies einmal alles umgeworfen war, stellte sich ihm voran und schrieb die Karte der seinerzeit bedeutenden westlichen Welt kurzerhand und radikal um, bis man ihn per Festsetzung stoppte. Der Prozeß selber, bekanntlich, lief weiter; es wäre ein falsches Wunder gewesen, hätten die Künste davon nicht Zeugnis gezollt. Vielmehr liefen sie den Prozessen voran, schon während der Klassik, ausgerechnet bei Goethe, nicht freilich im Volk, das für Mode doch zuständig ist, sondern in den Auseinandersetzungen der Künste untereinander. Das Volk machte Werthers Weinerlichkeiten mit, aber auch da nur jene, die Zeit für so etwas hatten. Was Sie Moderne nennen, kann schon deshalb nicht Mode sein und ist es deshalb auch nie gewesen. Vergessen Sie nicht, daß zur Moderne spätestens seit der heute „klassisch“ genannten Moderne (in der Musikgeschichte wird sogar von einer Zweiten Wiener Klassik gesprochen, und zurecht) aufs engste der Begriff Avantgarde gehört, der wiederum militärsprachliches Idiom ist. Was die junge Bundesrepublik Deutschland zu einer Abteilung ihrer jungen Bundeswehr gemacht hat, Pioniere, wurde für die DDR sogar Begriff der Jugendorganisation. Pioniere sind Vorstoßtruppen.
    Soweit nur eben zur Geschichte. Weiters wäre – ebenfalls regulativ – das Widerspruchspaar Antike ./. Moderne in die Betrachtung hineinzuassoziieren; das wäre für Niebelschütz wichtig. Wir sollten uns auch klar darüber werden, daß der in die Macht gekommene Warenhandel selbstverständlich schon früh versucht hat, seinerseits zu einer von Gott gewollten Ordnung, also ebenfalls klassisch zu werden; dafür steht der Biedermeier, der aber ja eng mit der Romantik koaliert ist, einer Romantik des Kitsches, gegen deren von Ihnen beklagten langweiligen Bücher eine dunkle Romantik aufstand, alles andere als langweilig, quer durch die Genres, von Verlaine über Baudelaire; einige davon sind dann sogar Teil des Volksbewußtseins geworden: denken Sie an Abraham Stokers Dracula, der sehr genau den Finger auf die untergründig wirkenden Strukturen legt. Daß etwas anderes den menschlichen Weltlauf bestimmt als ein prästabiliertes System, wußte bereits Richard Wagner, mit dem 1865 der Begriff des Unbewußten zu sich findet, bevor ihn Sigmund Freud zu Ende der Ersten Bürgerlichen Klassik als Triebmotor nahezu jeder menschlichen Entwicklung auszuloten unternimmt. Ich möchte Ihnen insofern gerne entgegenhalten, daß die Moderne ganz sicher einen Niedergang beschreibt, aber nicht den ihren, sondern den der Klassik, die sich als nicht nur unangemessen, sondern als rundherum falsch decouvriert hat. Falsch bedeutet hier nicht nur, daß etwas nicht oder nicht mehr gültige Voraussetzungen habe, sondern daß es Unrecht, ja Verbrechen sei – ein Verbrechen am Menschen ganz so, wie die von Ihrem so geliebten Peter Hacks geliebte DDR es rundum gewesen ist. D a s geht nieder. Die Moderne hingegen b r i c h t a u f. Die Postmoderne – dort, wo sie nicht restaurativ ist – hat das als Erbe aufgenommen und täte gut daran, es sich selbst vor Augen zu halten, um nicht ihrerseits von einer neuen „klassischen“ Bewegung der Verdinglichung entstachelt zu werden. Aber dazu vielleicht später.

    Der Vater der Moderne ist Prometheus. Wenn Sie sich einmal vorstellen möchten, es habe Niebelschützens Reichsgraf Weissenstein mich zum Sohn gehabt, dann erahnen Sie ungefähr, was ich zu tun hätte, wollte ich August Goethes „Schicksal“ nicht teilen: nicht nämlich „der Welt“ (dem Vater) die Schuld geben, sondern die Welt – ändern. Den Vater töten.

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