Ohne metaphysischen Rest. Paul-Heinz Dittrichs „Die Verwandlung” nach Kafka im Konzerthaus Berlin. Titus Engel dirigierte das Ensemble Neue Kammermusik und das Vocalconsort Berlin zu einer Inszenierung Mirella Weingartens.

Der Werner-Otto-Saal >>>> des Konzerthauses ist ganz sicher d a s Opernlabor Berlins in Sachen Neuer Musik und der Besuch seiner Veranstaltungen eher, sagen wir, ausgesucht. So aber nicht vorgestern abend; ich sah die zweite Vorstellung. Jedenfalls konnten die Gäste höherkarätig kaum sein, und sie kamen zahlreich. Das mag damit zusammenhängen, daß der erst kürzlich pensionierte Chef des Hauses, Frank Schneider, der schon zu DDR-Zeiten und über Jahrzehnte eine deutliche Machtposition im klassischen wie „modernen” Musikbetrieb innehatte, für Paul-Heinz Dittrichs kurze Oper das Libretto montierte: nämlich aus Franz Kafkas berühmter Verwandlung und dem nicht weniger berühmten Brief an den Vater. Der stellt sogar den weitaus größten Teil des Textes und ist nicht musikalisiert, sondern wird von einem Sprecher vorgetragen. Das gibt ihm eine herausgehobene Position, und das ist das Problem – einmal abgesehen davon, daß diesem Musiktheater jedes Element von Handlung fehlt, weshalb es sich fragen läßt, inwieweit man es überhaupt mit einer Oper zu tun hat. Dittrich selbst hat sein Stück eine „szenische Kammermusik” genannt und eine Pantomine für es vorgesehen; daran hat sich die Regisseurin gehalten.
Indes aber Kafkas Kunst, und gerade in der Verwandlung, darin besteht, jegliche biografische Erklärung in der klaren, harten Diktion der stilistischen Reinheit von sich zu weisen und dem phantastischen Geschehen den Schauder des allzuNormalen zu geben, wodurch ein für Kafka typischer, zugleich suggestiver wie hermetischer Kunstraum entsteht, wird die Erzählung, führt man sie mit dem Brief an den Vater eng, zum Protokoll eines Soziopathen, der das Trauma des gefürchteten Vaters allein durch seine Flucht in die Dichtung zu verarbeiten weiß. Das mag so tatsächlich gewesen sein – das „Dritte” in der Kunst aber, ihr Nichtidentifizierbares, kurz: die beklemmende Metaphysik der kafkaschen Dichtung geht verloren: etwa wenn Kafkas Vorwurf, „daß du schon ohne jede Rücksicht auf mein Gefühl (…) mit Beschimpfung, Verleumdung, Entwürdigung dreinfuhrst” derart nahe an „Die Verwandlung” herangeschoben wird, daß sich die Ungeheuerlichkeit ihrer Vorgänge auf das banalste in dem Schmerz der autobiografischen Erinnerung auflöst: „Ohne ihn zu kennen verglichst du ihn (…) mit Ungeziefer”. Es mit der Dichtung so zu halten, entspricht dem ästhetischen Ansatz des sozialistischen Realismus, der das Eigentliche von Kunst, ihre wie jedes anderen metaphysische Strahlkraft auf dem Altar des Profanen und eines wie nachvollziehbar menschlich auch immer gefaßten Interesses geopfert hat. Aber Kafka ist nicht Wölffli, die Größer seiner Dichtung übersteigt die Verletzung ihrer Gründe: das eben i s t, was Kunst ist.
Verstärkt wird das Problem aber auch durch Mirella Weingartens Inszenierung, die weniger eine solche als eher Choreografie ist: Über den Vokalsolisten gibt es eine fenstergroße, auf ersten Blick „Leinwand”; man erwartet Projektionen. Tatsächlich wird mit dem Schatten zweier Tänzer gespielt, die lange unerkennbar bleiben, sich aber symbolisch, ja symbolistisch aufladen, indem die Konturen eines kleinen menschlichen Körpers, zum Beispiel, von denen eines größeren, wohl des „Vaters”, immer wieder verschluckt werden, worin aber auch beide Körper, nah aneinander, durch einstudierte Verrenkungen die Formen des „Ungeziefers” ahnen lassen, das sich dann wieder auflöst. Bei der Kadenz für Violine solo, das das Stück zwischenspielartig gliedert, gibt es dann Farbspiele zu sehen, von denen eigentlich nicht zu sagen ist, was sie denn illustrieren sollen – aber auch, daß schließlich die Körper der Tänzer, reliefgleich, aus der Projektionsfläche heraustreten, mal ein Fuß, eine Hand, eine Schulter, trägt nicht eigentlich zur dramatischen Transformation der Narration bei. Im Gegenteil. Denn unversehens erkennt man deutlich eine Frau, den kurzen Abdruck einer weiblichen Brust, schon wird auch der Mann als Mann kenntlich, und das Schatten/Relief-Spiel drängt einem ein Geschlechterspiel auf, das in der Verwandlung nun wirklich nichts zu suchen hat. Es muß schon sehr weit herholen, wer bei diesen Bildern an Gregor Samsas Schwester denkt.
Aber nicht nur dies.
Sondern indem Dittrichs Komposition-selber, die nur sehr wenige und nur dem tatsächlichen Kenner erkennbare Stellen aus der Verwandlung in Musik gesetzt hat – … indem diese Musik also mit tierähnlichen Lauten, mit Stöhnen, un- und fremdgeformten, nur noch entfernt menschlichen Tönen operiert, wird ebenfalls genau das getan, was Kafka aufs strengste vermied. Alles bei ihm, stilistisch, sprachlich insgesamt, geht auf Klarheit; Dittrichs Komposition dekonstruiert das, und wir hören, was sich jemand vorstellt, wie ein schwer Kranker spreche, ein pathologischer Autist. Was Kafka unserer Imagination anheimstellt, wird bei Dittrich Realismus. So daß selbst die nachserielle Faktur der Komposition, an sich von abstrahierender Qualität, expressiv das Leid organisiert: als eines, dessen Gründe wir immer schon kennen. Die für die allgemeinen Seelenzustände der vorigen Jahrhundertwende typische Atmosphäre – mit all ihren Unsicherheiten, Exzentritäten, Manierismen, Orientierungslosigkeiten und den gerade auch von Kafka immer wieder gefaßten Relativitäten eines flüssig gewordenen Zeitbegriffs usw. – wird auf ein personal-pathologisches Problemfeld regrediert und alles, was in Dittrichs Musiktheater eine eigentlich rein kompositionslogische Bewegung wäre, verkommt zur mehr oder minder raunenden politischen Illustration: Das hast du deinem Jungen angetan; deshalb mußte er so werden. Imgrunde wird Kafkas Dichtung durch Dittrich entschärft und praktikabel handbar gemacht. Insofern wundert es nicht, daß dieses Stück 1984 von den DDR-Machthabern zugelassen wurde, auch wenn man es seiner modernen Tonsprache wegen sicherlich nicht mochte und, wie im Programmheft nachzulesen, weder Rezensionen erschienen, geschweige daß die anfangs projektierte Fernsehaufzeichnung zustandekam; für die junge ostdeutsche Komponistengeneration habe Dittrich dennoch weichenstellende Funktion gehabt. Unabhängig davon hatte die Aufführund aber auch etwas eigenartig Historisches, das mich geradezu unabweisbar an fast dreißig Jahre zurückliegende Festivals erinnerte, etwa der Pro Musica Nova in Bremen. Daß Dittrichs Funktion kompositionstechnisch dabei durchaus begründet ist, ließ der Vortrag der Musiker unter der ausgezeichneten Führung Titus Engels hören; schon die sich aus der seriell hergeleiteten Komposition hebende menschliche Intonation des Saxophons, besonders aber das Zwischenspiel der Geige gaben der Aufführung eine elegische Dichte, die allein ihr symbolrealistischer Expressionismus und ein dräuend-erhoben Fingerzeighaftes immer wieder zerstörten, das mit Kafkas Ästhetik rein gar nichts zu tun hat.

Daniela Drabek, Laura Siegmund (Bewegung)
Matthias Friedrich (Sprecher)
Vocalconsort Berlin
Kammerensemble Neue Musik Berlin
Titus Engel
Inszenierung: Mirella Weingarten

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7 thoughts on “Ohne metaphysischen Rest. Paul-Heinz Dittrichs „Die Verwandlung” nach Kafka im Konzerthaus Berlin. Titus Engel dirigierte das Ensemble Neue Kammermusik und das Vocalconsort Berlin zu einer Inszenierung Mirella Weingartens.

  1. Aus dem Programm:

    „Dittrich geht es in seinem 1982 komponierten Musiktheaterwerk weniger um die Erzählung von Gregor Samsa als um ein Psychogramm des Dichters selbst.“

    Diesen Satz finde ich völlig daneben, einerseits vor dem Hintergrund der Tatsache, und wie immer fehlt der Hinweis darauf, daß Kafka sein Leben lang musikalisch eher ungebildet war, mit der reinen Sprache von Musik nichts anfangen konnte, weil er sie nicht verstand, was aber daran lag, daß Modulationen und Tonlagen von Musik ihm körperliche Schmerzen verursachen konnten, weil er ein sehr empfindliches Gehör hatte. Ich frag mich heute, ob Kafka‘ Schädel die Musik, die er hörte, so umwandelte, daß er sie eben nicht verstand. Vielleicht hörte er deshalb gar wie ein Autist. Andererseits gibt es gerade in der „Die Verwandlung“ eine erste Szene der Verbindung von Musik und Tier… Gretchen spielt auf ihrer Violine drei Stücke den Untermietern vor. Er, Samsa kommt angekrochen: „War er ein Tier, da Musik ihn so ergriff? Ihm war, als zeige sich ihm der Weg zu der ersehnten unbekannten Nahrung.“

    Es gibt von Gerhard Rieck eine Kafka-Studie: „Kafka konkret – das Trauma ein Leben.“ Auf Seite 263 steht eine Auflistung zu „Lärmereignissen“. Als ich das las, dachte ich: „Was für eine Verzweiflung.“ Beim Lesen dachte ich allerdings, als ich nur die Definitionen der Lärmereignisse an sich untereinander weg las: „Was für ein Gedicht.“ Witziger Weise zog ich Parallelen zu Arno Schmidt‘ Landvermesser Eggers und zu Kafka‘ Landvermesser K. Beide konnten sich nur bedingt dem System nähern, bekamen keine Antworten auf ihre Fragen. Letztendlich schützt die Tatsache, daß die Erde eine Scheibe ist, und… ich hatte das zweite Cello-Konzert von Alfred Schnittke im Ohr.

    1. @Cellini zu Dittrich/Kafka. Auf das Verhältnis Kafkas zur Musik, auch auf die Rolle von Samsas Schwester in der Verwandlungserzählung gehen Jens Schubbes, des Dramaturgen, ausgezeichnete Texte durchaus ein, die im Programmheft stehen. Das Hauptproblem, auch wenn man in der Sache selbst klar ist, bleibt jedoch in der „szenischen Kammermusik“ Dittrichs, daß das Eigentliche der kafkaschen Ästhetik weggebeugt wird. Kafka ist zu dem allen überdies immer nachvollziehbar, er bedient sich einer geradezu kleistschen Sprache, die in der Form jederzeit deutlich bleibt: die Semantik des Textes ist n i c h t eine des Interpretierten, sondern stets Geschichte, Erzählung. Dittrichs Komposition aber ist bereits Interpretation, ja die Deutung schiebt sich v o r den vertonten Gegenstand. Da damit aber der narrative Verlauf gänzlich zrückgedrängt wird, kommt es zu dem deutlich unkafkaschen Raunen, das ich moniert habe.

    2. Danke für den Hinweis. Ich kenne ja den Inhalt des gesamten Progammheftes nicht. Durch die Vertonung des Textes eines Schriftstellers erfährt dieser immer Veränderung, auch Reduktion, wenn der Komponist sich durch seinen Blick auf den Text seiner Absicht von Interpretation folgend für einzelne Textfragmente entscheidet. Ich kann mir gut vorstellen, daß durch die entstehende Musik-Text Beziehung so eine Art Gedankenmaterial entsteht, welches sich im Entstehen der Komposition bis zu ihrer Fertigstellung so lange immer wieder verändert, bis das an die Oberfläche geholt ist, was an die Oberfläche (das für den Komponisten fühlbare?… ) geholt werden soll. Einen Text zu vertonen ist immer Interpretation, aber nicht nur die der Deutung des Textes, sondern auch bei der Darstellung/Aufführung die Interpretation der Vertonung, die Veränderung des Charakters der Sprache ist also zweischichtig… fast hätte ich zwieschichtig geschrieben.

    3. @Cellini. Sie haben recht: es i s t immer Interpretation. Heikel wird das aber dann, wenn sie die Ästhetik der Vorlage geradezu umdreht und das Stück dann noch mit dem Namen Kafkas als Vertonung operiert. Ich habe das Programmheft als pdf jetzt oben ans Ende des Kritik nachträglich eingefügt.

    4. Hab’s mir durchgelesen. Es stimmt, Dittrich‘ Ansatz steht nicht konträr, sondern kontradiktorisch zu Kafka. Über diese Ambivalenz an sich hab ich mir schon viele Gedanken gemacht. Musik hat für mich, trotz ihrer durchaus mathematisch berechenbaren Grundlagen, etwas intuitives, weil sie Gefühle erzeugen kann, eine Nähe zu den Lauten der Natur… ist also eine eigene Sprache, weshalb es passieren kann, daß sie bei einer Vertonung den autonomen Charakter von verbaler Sprache exemplifizierend, weil sie eben als Musik verstanden werden will, den Charakter einer Poetik hinter der Musik, „stummschaltet.“

    5. Kommentar auf Verdacht Musik stellt definitiv eine eigene Sprache/Symbolik dar, sowohl aktiv als auch passiv/begleitend. Selbstverständlich lässt sich theoretische Musik auch „mathemathisch“ darstellen, Noten und Takte sind ja im Grunde genommen nichts anderes als Teilsummen oder Brüche, die sich leicht addieren lassen. Folglich kann selbst ein Laie zwei Muscheln am Strand aneinander rasseln und dies von einem benachbarten Expertenteam auf akkustische Rhythmusstörungen untersuchen lassen! – Diese trockene akademische Betrachtungsweise kann aber noch lange nichts über den Charackter oder die Inspiration eines musikalischen Stückes Auskunft geben. Ich habe während meines persönlichen Studiums der Musik nicht selten über jene gestaunt, die weder Noten lesen konnten, noch sich in irgendein taktisches Schema pressen ließen.
      Wir kennen dies auch von sogenannten Urvölkern, die eine völlig eigene musikalische Kultur entwickelt haben, welche sich der unseren gegenüber total konträr verhält. Der Ursprung des Blues liegt z.b. in Afrika, denn von dort wurden damals die ersten Sklavenarbeiter unfreiwillig oder mit falschen Versprechungen nach Nordamerika verschifft, als der neue Kontinent noch ein Sammelsurium von einem Vielvölkerstaat war, und wo die ersten Schwarzafrikaner auf den Baumwollfeldern des Südens wie Menschen zweiter Klasse gehalten, geknechtet und gezüchtigt wurden. – Zum Vergleich, Leibeigene im alten Rittertum und Mittelalter in Europa wurden immerhin registriert und erhielten einen Geburtsnamen – Neger-Sklaven in Nordamerika dagegen wurden weder von amtlicher Stelle aus Namentlich registriert, gezählt, noch hielt man es für nötig, ihnen staatsbürgerliche Ausweise auszustellen, stattdessen erhielten sie je nach Laune des Plantagenbesitzers einen mehr oder minder erniedrigenden Spitznamen, denn jeder mutmaßlich entlaufende Neger musste ohnehin mit der Todesstrafe rechnen, so oder so!!! – Und an sogenannten weißen Hilfs-Sheriffs fehlte es garantiert nie! Bis zum Ende des amerikanischen Bürgerkrieges galten Schwarze in den südlichen Staaten quasi als Freiwild, doch um die staatlich per Gesetz zuerkannten Freiheitsrechte mussten sie danach immer noch einhundert Jahre erbittert kämpfen! Und dennoch, er wurde wahr und ist weiter in den Köpfen vorhanden, der Traum von Martin Luther King, bevor er einem hinterhältigen Attentat zum Opfer fiel. Dabei war er nur ein Geistlicher Priester, und nicht einmal Politiker!

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