GURRE (8): Die vierte Probe. Konzerthausorchester Berlin, Lothar Zagrosek. Arnold Schönberg, Gurrelieder. Dienstag, der 8. Juni 2010.

9.32 Uhr:
Und los, wieder, geht es!
„Schschsch….!”
„Also…“ Zag, sichtlich gut gelaunt, steht da: „…einen schönen guten Morgen. Wir beginnen mit dem zweiten Teil. Bitte!“
Bricht ab.
„Jemand war zu früh. Noch einmal….“
Und.
Jetzt w a r die Zeit für jeden einzelnen, seinen Part zu proben, für die Instrumentalgruppen unter sich. Draußen, vorm Bühneneingang, parken zwei Busse: offenbar ist auch der Chor nun da. Dieses ist die erste Tutti-Probe. Ach, und mit welcher Kraft!
„Danke schön, danke schön… können wir bitte zwei nach Ziffer 1noch deutlicher steigern..?“ – „Und nach den langen Noten müssen wir a u f blühen! Zwei,drei,vierter Takt…“ – „Ach, und bitte, das haben wir in der Probe vor zwei Wochen schon notiert: die Crescendi dort ganz streichen. Streicher bitte, alles kurz.“ – „Ah! S e h r schön! Sehr schön warm ist das, aber bitte einfach noch etwas zurückhaltender… doch mit dieser wunderchönen Wärme. Und Celli und Bässe, können Sie bitte darauf achten, daß wir vor Ziffer 5 die Unterschiede ganz präzise haben? – So, bitte tutti.“
Bricht ab, läßt nur die Posaunen spielen, „nein, so kann das nicht bleiben, nochmal….“ Dann wieder Tutti, „tutti Ziffer 4…“ – „Und jetzt… pianissimo…“ Aber dann: W e i t e… und WUMM! Kraftstoß. Der Themenbogen…… „Wo ist eigentlich diese Rührtrommel? Ach, Sie sitzen dort? Ja, jetzt war es okay, nur vorher… gut, wissen Sie. – Und bitte, pianissimo“: er meint das leichte Plaudern, das in den Musikern noch ist….“ Ansatz. „Bitte, alle die Fortepiani, die hier sind, nur andeuten, nur als Akzent, sonst hat kein Sänger einer Chance. – Ab Ziffer 6, gerade durchspielen.“

Hebt die Hand, Handfläche. „Moment, es kommen hier nicht alle mit. Accelerando, das sind sechs Takte. Bitte, zwei nach 7.“ Crescendierter Lauf zum Themenbogen… Und das, ich nannte es nach Tschaikowski so, „Schicksals“motiv.
„Bitte schön, wir machen das jetzt alles noch mal, Beginn zweiten Takt. – Stop, das war ein biißchen zu früh, bitte noch mal.“„Bißchen weniger Crescendo… beide Male…. – Gut. Und jetzt bitte: Dritter Teil.“
Noch immer ist etwas Unruhe in den Musikern. „Schscht!“ Die tiefen Streicher, Bläser, vorsichtig drüber, helles schellendes Schlagwerk… ei, und da ging der Tuba der Ton weg. Diskussion, Zagrosek fragt nach, es gibt ein paar Antworten, neue Ansatz… „Entschuldigung, das geht nicht. Was ich da höre, das ist… nein, wir reden in der Pause.“ In der Tat blieb ging beim zweiten Ansatz der Ton in die Knie. Zag bricht wieder ab. „Es kann hundert Gründe geben, weshalb… aber, wir führen am Sonnabend auf, dann gelten keine Gründe. Bitte lassen Sie uns das in der Pause besprechen und angehen. – Jetzt aber zwei vor 2, damit wir das alle zusammenkriegen.“ Bricht wieder ab. „Ab 6 jetzt, einfach da.“ Bricht ab. „Tschuldigung, die Synkope ist zu lang da. Noch mal. Zwei, vier-fünf-sechs…“ – „Immer den Sechserimpuls durchspielen. – Ah, sehr schön! – Sò, machen wir bitte nach der Ziffer 5 drei… – nein, noch einmal, das war nicht so schön. Bitte mal alles o h n e die Streicher jetzt.“

Tief ist der Sinn und
Weitum bekannt:
Ist der Vergangenheit
Große Bedeutung doch
Daß in die Zukunft sie
Tragen den Namen kann
Des, der dem Dunkel sie
Wieder entrissen,
Tag ihr gebracht.

„Tutti jetzt, fünfter Takt nach sechs. Wenn Sie sich bitte noch a l l e eintragen würden, daß wir hier die Crescendi wegnehmen wollten? Bitte!“ – „Viel Raum! Ja!“ Abbruch. „Genau, da ist ein kleiner Einschnitt. Wir machen da weiter. Ah, viel zu viel Trommel. In diesem Raum dröhnt das viel zu sehr. Das gilt imgrunge für das ganze Stück. Bitte, sich da etwas zurückzuhalten.“ Und! Ganz aufgefächertes Leben, es quirlt, schillt, dröhnt dann. Zag: „Ich verstehe, daß das wirklich schwer ist, weil man hier nicht gleich mitbekommt, was da wirklich passiert. Aber das muß völlig exakt sein. Eins vor 5 mit Auftakt bitte.“ Ich muß an Ritterspiele denken, an Turniere, also das, was, wir so ge“lernt“ haben, wie Ritterspiele gewesen seien. „Was noch nicht ganz klappt, ist die 3 da in den Bässen. Darf ich die Bässe bitte mal ganz allein haben?“ Die Probe geht über die Celli zum Dirigentenpult hinweg. Der gestrichene Rhythms, „ab da dann bitte gleich durchstarten. – Also schön wäre, wenn man hören könnte, daß das ein Kanon ist. Wie spielen Sie das denn? Immer am Pult geteilt? Ah ja…. – Ähm, machen wir es mal langsam, die Stelle, zwei vor 7, damit wir merken… Nein, akzeptieren Sie ein bißchen das untere e. – Ah ja, sehen Sie? – Jetzt alle Bässe. Jetzt haben wir’s!“ Dreht sich zu allen. „Und jetzt Tutti… die ganze Stelle…!“ – – – „Ah! F e i n! Das kommt jetzt wirklich schon, die Bässe jetzt. Ach ja, und das Xylophon: generell können Sie da ein bißchen mehr g e b e n. Und Hörner, nach Ziffer 8, siebter Takt nach Fortissimo, da etwas zurückgehen. Und Bratschen, die Fünf da: das ist Fortissimo für Sie, das mß unbedingt herauskommen. Alles andere um sie herum ist da noch leise, aber Sie müssen sich prägnant herausheben. So, bitte schön, a l l e…“ – „Ja“, lacht, „das Kontrafagott hat uns überholt… Kann ich bitte mal nur die Streicher haben, Ziffer 9? Eins-z w e i …“

„G r o ß e Striche, große Striche! Ah, nochmal, wir sind noch nicht gut zusammen. Und hier, daß wir das alles ganz komöopathisch abbauen… Jetzt alles ohne Streicher. Stop, dieses“ singt vor „ist ein kleines bißchen früh. Noch mal. Und wenn die Kontrafagotte etwas später diminuieren als die anderen, dann verstehen wir die Linie bitte. Und jetzt den Sturz nochmal, ich gebe vor: eins-zwei…“ F a l l, Sturzfall, das Diminuendo, „aber das zweite Kontrafagott noch aushalten bis zur 3. – So, jetzt müssen wir den Übergang hinkriegen, das machen wir jetzt alle zusammen… Vier vor 10.“

„Und jetzt das Lied des Bauern, und zwar eins vor 5, vor der Baßtrompete.“ Aufgefrischten Wind über Ähren, das höre ich, ein Gewirbel überall, dazu das Schicksalsthema wie von ferne, Xylophon insistent von hinten, Pfeife, alles von enormer, schöpfender Unruhe und – Diminuendo. „Und jetzt schön, warm, sehr warm“, den Oberkörper den Celli zu, wieder herumgedreht, empfindliche, brüchige Idylle, über die Gurres Liebesthema geht, „ah, und hohl! Ganz hohl! Sehr schön… und jetzt immer schneller….“

„Sehr schön. Jetzt gehen wir noch mal zurück. Aber da ist noch eine Stelle, die sehr süffig, aber immer noch zu laut, bitte nur mezzoforte in drei vor 14. – Zwei vor 12 jetzt, ja… so… und heben, etwas lauter“, das Liebesthema nämlich, und das Blech droht herein, dafür erzählen leise, insistierend die Holzbläser… schon jagt das Orchester wieder los, das Xylophon peitscht es, man muß bei diesen Forte-Stellen, vor allem in diesem speziellen Saal, extrem auf Durchhörbarkeit achten, zumal dort, wo die Gurrelieder diesen festlichen Grundklang bekommen, der machmal geradezu durchtanzt zu sein scheint. „So wir machen einmal das Tutti zwei vor 17. Bitte, zwei vor 17 – ah, drei vor 18, Streicher, bitte, Sie sind da einfach ein bißchen spät.“ Beugt sich herab, die erste Geigerin erklärt, „ja, wir müssen uns natürlich erstmal wieder ein bißchen warmmachen. Sò, bitte noch mal, zwei vor 17.“ Und, Hände hinauf, dann. Hebt die linke Hand wieder. „Bitte, die langen Noten da in 18, die sind in den Hörnern zu laut. Und damit allen das klar ist, wir haben da ein neues Tempo. Also nochmal, drei vor 18.“ Wieder die Hand. „Dritten nach 20 bitte alles Mezzoforte. Nochmal.“ – „Okay, wir machen Pause und dort dann weiter.“

PAUSE.

11.14 Uhr:
Knapp zwanzig Minuten Pause waren, allmählich füllt sich das Podium wieder. Zag hebt den Taktstock.
„So, wir sind im dritten Teil, Ziffer 24. Eins vor 24, dort ist schon à tempo. Dann bitte ab dem vierten nach 24 alles so wie vorher, nur Mezzoforte, nie lauter als Mezzoforte bis 28. Wir steigen ein eins vor 24.“ – „Und bitte nicht zu laut. Bitte. Tutti eins vor 24. Bißchen rascher.“Dann fällt das Tempo zurück, vertröpfelt, und weiter Einsatz im Cello: „Für alle Bläser, die bei 28 hinzukommen: es gibt einen Auftakt der Celli. Bitte, alle, 29 mit Aufttakt. – Ja, und da: ganz kläglich… Und wo ist die“ Hand hinters linke Ohr „Celesta? -“ Celli, abermals, „Zeit lassen!“ ganz milde durchziehend, „bißchen vorwärts“, allmähliches Drängen – bricht ab. „Sorry, wir haben hier ein subito piano, bei diesem zwei nach 34, da ist ein Takt forte, das darf einen Tuck mehr sein, aber Celli: bitte nie zu sehr, weil da immer dazu gesungen wird, das darf sich nicht vordrängen. Bitte, drei nach 33. – Also: vier nach 34, überall: subito piano. Sieben Takte nach 33, etwas drängen da.“
Eine kurze Diskussion geht durch die Musiker. Partiturenvergleich. „Machen wir’s doch so: da wo Striche sind, wird geschlagen. Nein, bei den Celli nicht. Dann bitte 38,“ singt vor, „das ist eigentlich wie Kabarett…. alle Punkte gestrichen, ja…. Bitte, 38, das ist alles etwas angeschärft.“ Eigenartig, wie genau ich hierüber bereits die Stimme höre. „Gut, drei vor 45, das ist der Beginn dort“ Blick zu Friedemann: „Also 6/8… – eins – zwei… u n d – vorwärts – … “ Da die Pizzicati… „Hier aufpassen!“ Eine Geste des Eintritts, danach gleich auf die Bässe die Bögen geschlagen, „Vier, vier! – und jetzt wieder die 2…“ Abbruch. „Gut. Meine Damen und Herren, darf ich Sie bitten, daß wir das einmal alle gemeinsam lesen. Ab Ziffer 47. Einfach, weil es ab da unglaublich viele Tempowechsel gibt, damit wir uns da wirklich einmal genau abgleichen. Sehen Sie hier, bis 52, das wird immer langsamer, spürbar langsamer…“ Einwurf aus dem Orchester. Zag: „Also ab 51 in Zwei. Dann gibt es bei 52 accelerando, das mündet in ein etwas rasche, das bleibt also, aber dann wird es….“ Takt für Takt geht er an der Stelle das Stück durch. „Das liegt alles an dem Text dazu, der sehr kabarettartig ist. Wichtig für Sie zu wissen, sehr wichtig. Dann gibt es da noch einen nächsten Wechsel in 52. Haben Sie es? Gut, wir steigen noch einmal ein in… ja, eins vor 41. Und!“Unterbricht, lacht, als das Orchester auseinanderdriftet: „Das ist offensichtlich eine Falle, diese Stelle, nicht wahr? Also nochmal: 52.“ Bricht wieder an. „Nochmal, zwei vor 52. Nicht hetzen. Und!“ Unterbricht ein nächstes Mal: „Da nicht steckenbleiben! Eins vor 55, bitte schön.“ – „Nein, bitte Mezzoforte, das ist alles zu laut, was ich hier“ läßt den linken Arm links kreisen „höre. Noch einmal.“ – „So, ja. Und hier wäre jetzt die Baßklarinette dran. Steht das bei Ihnen nicht? Nein? Gut, müssen wir gleich kontrollieren. Wir machen jetzt Mittagspause und da dann weiter.“

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13 Uhr:
Die Mittagspause ist vorüber, die Musiker, von hie manche, andere von dort, kommen zurück. Das A schwingt aus den Instrumenten, Zagrosek zischt ein leises „Sch!“ Und es geht, langsam, weiter.
„So, Ziffer 61, d a vor vier Takte. Ich lag auf einer Steinbank vor dem Konzerthaus und schlummerte ein, schrak auf, zehn vor Eins, ging zurück. Schokolade noch, nein, nix rauchen jetzt mehr. Und tief setzt das Orchester ein. Dann die Fanfare Gurres, ein Gleißen der Abrauten, sich einschwingen, es gibt auch eine helle Jagd der Luft. Eiei…. Verspieler, aber weil Zag keinen Takt mehr schlug. Zerbrechen des Klanges: „Das ist eine dritte Posaune nach 61, das habe ich jetzt gar nichzt mitbekommen. Bitte vier vor 61…“ zur Seite: „Bitte Ruhe…“ ins Orchester: „Das ist zu hoch. Das liegt am Dämpfer,“ bricht ab, „noch mal, vier vor 61.“ – „Achtung: Bratsche führt!“ – „Dort, an dieser Stelle, diese Geisterstelle, da soll, steht da, alles, was geht, bewegt werden. Bitte nochmal, selbe Stelle, zweiter Takt nach 64.“ – „Gut, ja sehr gut, vielen Dank. Jetzt müssen wir die Stelle rhythmisch deutlich durchsprechen… Drei, vier – eins – Ah prima, manchen wir’s jetzt bitte ohne die vierte Posaune, aber sonst alle…. – sehen Sie? wo wir alle noch nicht gut zusammensind, ist bei diesem“ singt. „Können wir nochmal? – Ja, sehen Sie, so. Jetzt hat aber diese ganze Stelle von ein accelerando…: bitte drei Takte vorher…. – Nànà, da sind Sie jetzt ein kleines bißchen zu schnell, da müssen wir etwas abbremsen… – Nein, schon der Takt vor 64 ist zu schnell, zu früh. Nochmal. Drei vor 64.“ Aha, es klappt… aber was d a s? Mit einer irren Synkopierung durchgezogen, da ist man sprachlos, sowieso, aber auch, wer das Stück kennt…

„Undsoweiter undsoweiter. Das ist dann alles Begleitung für den Chor. Aber jetzt vier nach 70.“
Und der Ruf der Bläser. „Zweites Horn ist das! Bitte nochmal, nach 70 der einszweidreivierte Takt…. Bißchen crescendo…“ Misterioso: kurzes Hornduo. „Schaun wir, daß wir das alles ohne Akzente spielen… Bitte so verhalten wie möglich. Bei Schönberg gibt es da eine Bemerkung, daß Sie sich dort einigen sollen, wer das spielt. Mein Vorschlag ist, daß Sie das alle spielen, aber sich einigen, wer wo atmet, damit wir da keinen Doppler kriegen. – Wir brauchen eine dritte Stimme. Jetzt. Stop, erst ist es ein F, drei voer 74… jaja, da kommt Freude auf. Das ist doch Cis, oder? Okay, bitte nochmal, selbe Stelle, drei vor 74, ohne Piccolo…. – Ja, super! Gut. Gut. Lösen Sie das untereinander? Danke Ihnen, dann muß ich mich nicht selber drum kümmern. Es fehlt jetzt auch ein Kontrafagott. So, 74: -“ – „Nochmal: pianissimo. Jetzt vier. Und wie in zwei.“

„Nach 77 bitte!“
„Gut, okay, und jetzt gehen wir allmählich ans Tempo ran. Allmählich. Mäßig. Von fünf vor 79. Auf die Flöten achten.“ – „Die Soli!“ Vorgebeugt, Richtung Bratschen: „Genauer da. – Jetzt in Vier… eins, wir bleiben in Vier, jetzt Zwei…“ und süffig, fast etwas zu süß, nähme nicht das Cello es sattmännlich in die Arme…. Und à la Impressionismus kurz, wären da nicht des Lord Chandos Pilze… „Halten…. ùnd…“ wie ein Walzerschritt, der einkopiert ist, Pizzicatolauf und hinauf… weit… C h o r a l…. Bricht ab: „Gut, okay, und dann der Schluß. Wir machen jetzt aber noch mal eine Stelle langsam, sechs vor 19… bitte schön: – Fein, ja, und jetzt so, wie es dasteht, im richtigen Tempo, sechs vor 19…“ – „Zart! Zart, ganz zart!“ – Ich selber habe von meinem Platz aus immer das Problem, daß ich eigentlich nur Zagrosek verstehe, und auch das nur, wenn er laut spricht; Einwürfe der Musiker kommen akustisch bei mir kaum an, da muß ich erschließen, welches die Einwände sind, was manchmal, aufgrund der Antworten, geht, oft aber nicht, wenn Zag zu leise spricht oder einen Satz nicht zuenderführt; dann erfolgere ich gleichsam instinktiv, worum es geht, und aus dem, was ich an Unterschieden musikalisch höre. Tanzbewegung, darüber das Solocello, und aufmüpfig ahnt sich die steigende Sonne. Ein unerhörter Sonnenaufgang ist das, immer w i e d e r unerhört. „Bißchen mehr Trompete da, die muß am Schluß alles übertönen, aber erst am Schluß.“ Zu Friedemann: „Was denn?“ (Wieder nicht zu hören, die Antwort, also akustisch). Plauderlachen mit Überspiel, momentan zerfällt der riesige Apparat, jeder für sich, oder zu zweit, zu dritt, dann das obligate „Scht!“ – „So, wir machen noch mal diese gesamte Schlußphase, und zwar ab dem Sommerwind, das ist 74. Sò, bitteschön. Meine Damen und Herren, ein bißchen shakespearscher Zauber: Elfen im Sonnenlicht.“ – „Viel zarter da! – S e h r schön. Ah! Jetzt ein bißchen schneller.“ Fast immer dirigiert er, bei Proben, in einer S-förmigen Spannung seines gesamten Körpers, selten sind die Knie durchgedrückt; während der Aufführungen ist das oft seltsam anders. „Vorwärts! Noch vorwärts! – Moment, ‚tschuldigung, ich muß da unbedingt die Hauptstimme hören, Bratsche, Violine, da, zwei nach 84.. – Nein, stop, bitte“ singt „ban-ban-ban-ban, ganz pianissimo bitte…. drei vor 85. Okay?“ – „Nein, das ist es noch nicht ganz.“ Singt abermals vor. „Bitte nochmal. Ganz zahm! Zart… Kurz… Gaaaanz weich… Und jetzt etwas heiter… Hier bitte wirklich pianissimo, und die Celesta spielt uns den Walzer dazu“, der in Holzschühchen über ein Buschwerk geht… „Sehr schön! Immer leiser und leiser… Das jetzt ganz h e i m l i c h… Und nun beruhigt sich der kleine Ausbruch wieder… Großer Auftakt! Da wird es wieder ein Walzer. Vorwärts! Gut- okay.“ Bricht ab. „Sehr schön, sehr schön. Und jetzt bitte sechs Takte vor 90 im Tempo anziehen. Und!“ Ah…! -: C h o r a l. „Ganz zart! Runden!“ Bricht ab, bleibt einfach stehen. „Fünf vor 94, einfach nur zart, ganz zart: -“ „Das ist es! Jetzt, ja! Und: Piano…“ Da fängt die Musik auch wieder zu erzählen an, resümmierend, vielleicht bereits im Abschiedsweh… aber dreht bei wie ein Schiff unter vollen Segeln, die sich in ihr, der Musik, blähen… Zerkrumplung, Zerbröcklung, Abbruch. „Bitte eins vor 98… weiche große Melodien bilden, große Choräle… ùnd: -“ – „Danke. Die Baßposaune, da brauch ich ein bißchen mehr… Sie sind der einzige, der da ein Crescendo hat… ja, das ist jetzt 102. – Selbe Stelle bitte, drei vor 102, und noch etwas breiter.“ – „Wir machen jetzt Pause, dann gehen wir in den ersten Teil.“

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14.36 Uhr:
Beide Hände weit gehoben an den ausgestreckten Armen. „Bitte schön: erster Teil, 28, einen Takt davor.“ Ein Stimmenblätterrauschen weht übers Orchester. „Bitte schön: eins vor 28.“ Aùaù, hier schleppt’s aber noch… fängt sich aber. Und kraftvoll hinein in die Linie.

Mein Haupt wiegt sich
auf lebenden Wogen,
meine Hand vernimmt
eines Herzens Schlag,
lebenschwellend
strömt auf mich nieder
glühender Küsse Purpurregen,
und meine Lippe jubelt:
„Jetzt ist’s meine Zeit!“

Bricht ab. „Ich merke, es ist ja noch einiges da. Bitte, wir steigen noch mal ein zweiter nach 32.“ Bricht ab. „Nochmal. – Nein. Machen wir es noch einmal langsamer. Ùnd : — Achtung, Wechsel auf 4/4-Takt….“ Bricht. „Das ist kein Sechser. Nein, nein nein, das sind Vierte. Wir machen’s echt langsam. Ja, wie früher, nach 32, fünfter Takt. Drei – vier.. -:“ – „Ja, super. Das Tolle an dieser Stelle ist, daß es dieses Crescendo und Diminuendo gibt, das möcht ich jetzt hören. Ùnd… da… jà! Volles Crescendo jetzt…“ – „Hallooo bitte, Fortepiane, ganz kurz. Wir steigen ein eins vor 31. Tutti! Im Tempo.“ Bricht ab. „Schneller weg. Drei – vier……-:“ – „Noch lürzer, so daß es sehr spricht…“ Hebt die Hand flach zum Orchester, stopt es. „Noch mal, eins vor 32. Gut. Und jetzt beschleunigen wir das.“ Hebt die Hand. „Tschuldigung, an dieser Stelle, Pauken bitte leiser, das meiste ist hier zu laut, auch vorher bitte, die Triolen im dritten bis sechsten Horn… – 33, tutti: -“ – „So, jetzt steigen wir wieder bei eins vor 28 ein… da muß ein bißchen der Eindruck entstehen eines bockigen Rosses. Bitte schön! – Stop. – Bitte, die Melodie heißt ja, immer als Nachschlag“: singt. – „Ùnd!“ Bricht ab. „Bitte schon, zwei vor 29… langsam bitte, damit wir verstehen, was da passiert. Es gibt da immer auf der 1 ein Pizzicato, das muß gehört werden. Nein. Nochmal. Selbe Stelle: drei-vier -“ – Bricht ab. „Dankeschön. So, bitte alle zusammen eins vor 28.

Ein Publikum harrt dieser Schöpfung, in dem sich nicht nur alle Musiker, alle Snobs und alle Kunstsehnsüchtigen zusammengefunden haben, sondern auch jene gewissen angenehmen Menschen, die nicht die Sache, sondern nur die Sensation oder auch den Skandal suchen und denen insbesondere die Aufführung eines Schönbergschen Werkes immer im Zeichen einer Hetz zu stehen scheint, die sie sich beileibe nicht entgehen lassen dürfen und in der, nebenbei gesagt, nichts weniger als die gutmütige Wiener Spottlust und das Vergnügen am Spaßmachen über das Fremdartige zum Ausdruck kommt, sondern das tückische Sichwehren gegen Ungewohntes, dessen Ernst zur Auseinandersetzung zwingt; der Haß gegen solche, die unbekümmert und trotzig ihres Weges gehen, ohne durch Zugeständnisse zu schmeicheln, und die es nicht ertragen, sich für die Vielzuvielen aufzureißen und zu erschließen; und nicht zuletzt die Beschämung, die solches Beispiel weckt, und der Neid und die Wut gegen diese hoffärtigen Künstler, die es wagen, so frei und veracvhtungsvoll zu leben und der andern und ihrer Zustimmung nicht zu bedürfen. So war es bei Mahler, so war es bei Klimt, so ist es bei Schönberg.
(Richard Specht, „März“ Berlin, 20.9.1913)

„So, wir machen bitte vier nach 34, 4/4-Takt… Zart!“ – „Was ich unbedingt hören muß, ist das Bellen der Hörner. Weiter mit zwei nach 39. – Was hier viel mehr sein muß, sind Celli und Kontrabässe. Und die erste Geige, bitte erst dann, wenn dieser große Bogen kommt, fortissimo. – Zwischenspiel, zweiter nach 48, wenn wir da bitte einsteigen..:“

„Also, 86. Da ist dieses Accelerando, ohne das geht das hier gar nicht, da kommen wir nicht weiter. Nochmal 86, nicht so laut. Damit wir den Übergang hinbekommen. – Stop stop stop! Machen wir doch mal hier, wo das losgeht, nach 86, eins-zwei-drei..-:“ Bricht ab. „Jetzt machen wir folgendes: dritter nach 86, Accelerando, wir haben unterschiedliche Dynamik, bitte: einige haben Piano, einige Forte…“ Und er dirigiert ein langes Stück, ohne zu unterbrechen, d u r c h… erst beim Tempowechsel läßt er die Arme hängen. „Erst die Kontrafagotte. Bitte 94. Vierundneunzig!“ – „Bitte nochmal, 5 nach 94…. nein, nur die Bratscher, einmal nur die Bratscher. – Bißchen schärfer. Wie viele spielen denn unten? Vier? Prima. – Tutti, fünf nach 94!“ Bricht ab. „Das geht zu schnell, wirklich. Bitte. Nochmal. Drei-vier…“ – „Und wir machen das ein bißchen kürzer. – So, jetzt mit dem Übergang, das machen wir von 94, vom Choral an. Sò! – Sehr legato.“ Tristans Hirtenflöte (es ist keine Flöte), da wird noch probiert, „wunderschön, aber mindestens doppelt so langsam, dann die Bläser: s e h r kurz einfallen… Kurze Pause. Alle.“ Geste, die dann wieder ins Thema führt. „Wir machen bitte alle nochmal zwei vor 97: da haben wir uns jetzt mißverstanden. Und, bitte, Trauer….“ Es ist mir Fingern zu fassen, wie das Stück sich ausmodelliert, mit jeder Probenhalbenstunde werden die Konturen plastischer. „Dann bitte: 98 ist bei den Holzbläsern fortissimo, bitte, alle zusammen 98, 98 bitte: -“ Und dann, unvermitelt, aber ist ja auczh wirklich bereits 15.30 Uhr: „Ja, dankeschön, einen schönen Abend noch“ – und eilt von der Bühne.

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12.06.10
13.06.10
Karten 28 / 36 / 44 / 50 / 60 €

8 thoughts on “GURRE (8): Die vierte Probe. Konzerthausorchester Berlin, Lothar Zagrosek. Arnold Schönberg, Gurrelieder. Dienstag, der 8. Juni 2010.

  1. Ist der Beruf des Probenstenographs eigentlich ein Ausbildungsberuf? Das Erfreuliche zuerst: Die Welt wird auch ohne Probenstenograph untergehen. Und das ist auch gut so, denn etwas Besseres kann der Welt derzeit gar nicht passieren. Nur Ihr atemloses Protokoll wird bleiben, lesbar als ein Dokument einer leichten Form von Autismus in einer windschnittigen Gesellschaft, die das Fortkommen als Selbsttäuschung pflegt.

    1. @Sybille Berg. Da wird uns ja kennen, liebe Frau Berg, meine ich kaum, Sie in Ihrem Statement der untergehenden Welt wiedererkennen zu können. Ach, was mag Ihnen geschehen sein zwischenzeitlich! Vor allem die Sache mit dem Autismus gibt mir, vor allem bei Ihnen, zu denken.

      Herzlich,
      Alban

    2. Daß Sie, lieber Alban, vorgeben … .. zu denken, gibt mir wiederum, wie Sie sich denken können, zu denken. Der Autismus? Mancher verbringt sein Leben damit, seine Dimension zu erfassen. Und wenn er es schließlich versteht und ein gewisses Muster (oder wie Sie zu sagen pflegen: eine Prägung) davon im Kopf hat, dann trollt er sich ins Bett (oder in die Wanne) und stirbt. Stirbt wie eine vergiftete Undine. Nichts ist so gefährlich, man kann den Autismus nicht rauchen, niemand gibt Ihnen einen Cent für einen halben, und zum Schluß bringt er einen um. Er ist eine üble Einrichtung, sehr gefährlich, eine tödliche Falle. Lassen Sie Ihren Stenoblock im Probenraum und gehen Sie … unter Leute, in Ihre Bar, selbst die Kirche wäre (unter uns) eine Alterntive: sssscht!

    3. leider die falsche Berg … denn orthografisch richtig schreibt sich die hier angeblich Kommentierende: Sibylle Berg! Und nicht Sybille Breg, und auch nicht Sybille Berg! – Doch auf dieses BLog wundert mich eigentlich nichts mehr!

    4. @schmitthäusner. Ich weiß – also nicht, daß Sie nichts mehr wundert, sondern daß sie sich anders schreibe. Doch antworte ich der Assonierten, weil sie per Assonanz gemeint war. Alles andere wäre Kindergarten.

    5. Als ob der Autismus, der den Menschen zu jeder Stunde seines Lebens anfallen kann, etwas mit Laubbäumen zu tun hätte.

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