12.05 Uhr:
[Arbeitswohnung. Couperin: Leçons de ténèbres.]
Meine Verschlaferei nimmt Raum ein. Diesmal erst um kurz vor zehn hoch. Der Profi und seine Gefährtin und ich, wir saßen zusammen und aßen, nachdem ich ihn im Anschluß an die Lesung angerufen hatte. Schöner Ort für Lesungen, und von den achten lasen zwei Autoren s e h r gute Texte: Norbert Lange und, vor allem, Martin Lechner mit seiner „Befragung eines gefallenen Fußgängers”, schließlich noch Tom Schulz mit einem Gedicht, das auf fast schockierende Weise in den letzten Vers aus einem jardin des plantes hineinläuft. Schulz selbst, voll des ironischen Understatements, nannte das einen Kalauer. Leider kann ich mich für die richtigen Namen nicht verbürgen, ich hab sie heute morgen aus den Verlagsannoncen erschlossen; keiner der Autoren stellte sich gestern abend getrennt namentlich vor.
Die vorgelesenen Texte finden sich in der zehnten Ausgabe der >>>> Belletristik , die ich mir eigentlich auch kaufen wollte; es waren mir aber – mir! – die Illustrationen zu schlecht, jedenfalls gehören sie keiner bildnerischen Ästhetik zu, die mir liegt. Wenn deshalb der Verleger anfangs und zum Ende des Abends seinen Anspruch auf alleinige ästhetische Einheit von Kunst und Literatur, halb satirisch freilich, halb aber ernst, gegen quasi alle anderen Zeitschriften hielt, die derzeit existieren, so ist mir sein Größenwahn zwar sympathisch, und ich tät gerne dabei mit, aber das Ergebnis kommt mir vergleichsweise bescheiden vor; eine einzige Ausgabe von >>>> Norbert Wehrs Schreibheft sowie sehr viele Ausgabe der >>>> horen haben, scheint’s mir, mehr Substanz als >>>> alle zehn Ausgaben der „Belletristik” zusammen. Dies sei hier Herrn Frank wohl freundlich, aber entschieden entgegnet. Zudem ist es offenbar heikel, Texte und Illustrationen allzu eng miteinander zu verbinden; wem die Bilder nicht gefallen, nimmt dann womöglich, wie ich, vom Kauf Abstand. Ich habe mit der >>>> AEOLIA durchaus >>>> ähnliche Erfahrungen gemacht.Danach also Dircksenstraße, S-Bahn-Bögen, zu erblühten Rosen geschnitzte Rettichfrüchte, nach dumpfem Morschel schmeckendes Beigewürz, Galgant sodann, dazu die verschiedensten Vorspeisen, eingelegte Chilischoten von schärfster Natur, in Whisky mariniertes Hähnchenfleisch, der schöne Anblick C’s neben dem Profi, den ich selten so glücklich erlebt wie in diesen Wochen. Da wir nicht allein waren, fragte er nicht >>>> nach dem Gräfin, auch nach der Samarkandin nicht, geschweige nach der Dottoressa, in deren Strip-Show ich eigentlich noch wollte. Was ich abermals verschob. Irgend etwas, noch immer, warnt mich. Aber die Löwin war gegenwärtig, sehr; wir nennen sie auch unter uns so; sogar C. hat damit begonnen. Ihr „wirklicher” Name fällt nie. Vielleicht ließ mich auch diese Präsenz von der Dottoressa Abstand nehmen, eine Präsenz der Serengeti, die ich auch leiblich erlebt habe, 1985 und wieder ein Jahr später, im Krugerpark erst, dann in Kenia. Man wird das nicht wieder los. Noch Jahre später, obwohl man nie wieder da war, steigt das bisweilen in einem auf, und man riecht den Nachtduft überm Oliphant’s River, hört die Sehnsuchtsrufe der Tiere, ein Gurren, ein Weinen, ein Grollen, morgens die ersten Vögel, erwachend, sie plappern, man riecht den grasig brenzligen Duft der Savanne, den die Ahnung einer aufsteigenden Hitze heranweht, die bereits zu flirren scheint. –
Und hört plötzlich, wie ich jetzt, >>>> Sandrine Piau… meine Güte, das ist nun >>>> eine Musik des Tages, ihr wieder einmal zu verfallen.
Habe die Rezension zu >>>> Benjamin Steins >>>> Die Leinwand fertig, die Löwin sah sie soeben durch und gab mir am Telefon Korrekturen durch; nach diesem Arbeitsjournal werde ich den Text für Sie einstellen. Ist das geschehen, werde ich damit anfangen, >>>> Die Fenster von Sainte Chapelle zu überarbeiten, also für die Buchfassung aufzubereiten; außerdem möchte ich unbedingt den Niebelschütz weiterlesen.
Guten Morgen, Leserinnen.
14.39 Uhr:
So, >>>> die Rezension steht drin; es war noch ein bißchen formales Gefriemel. Jetzt eß ich erst mal was und rufe Eigner an, ob’s bei heute abend bleibt.
23.09 Uhr:
Bin hiergeblieben, um den Abend mit meinem Jungen zu verbringen, der jetzt auf seinem Vulkanlager liegt: „So heiß, Papa, ich kann gar nicht schlafen…” Also zu ihm hin, einen Moment in die Knie gegangen, ihm auf den Hals geküßt, etwas gekuschelt. Am Montag früh fährt er mit seiner Mama und den Geschwistern und seiner Großmutter für anderthalb Wochen an die Ostsee, dann werd ich ihn nicht sehen können. So war es mir viel wichtiger, als mit den Freunden zu sein, ihn hier bei mir zu haben, als er fragte.
Es sind draußen noch immer fast 30 Grad C. Wunderbar. Die Schlanden scheinen gewonnen zu haben, sind also Dritte nun in der WM; wir konnten es beide durch die offenen Fenster hören: Knallen, Tröten, Jubeln. Sahen nach einem Milch-Shake einen Film, ich brachte ihn gerade zurück; die Leute gucken noch immer Interviews in den auf die Straßen gestellten Fernsehern. Das Hemd backt am Körper, dicke Rinnsale Schweißes laufen mir die Seiten hinab. Gutes Gefühl. Ein Idiot meinte, >>>> Steins Buch abwerten zu können, indem er Imre Kertesz nannte; seit dem sei alles andere unnötig. Leute schreiben so etwas, die nicht wissen, was Zukunft ist, und was es ist, Kinder zu haben, die deshalb Zukunft auch gar nicht wollen. Dumme Menschen, Menschen ohne Bewußtsein, verletzte Menschen ohne innere Freiheit, ganz anders als Kertesz, der sich seine Fans ja nicht aussuchen kann; sie bestehen nur aus Abschätzigkeit. Meist sterben sie an Krebs, was nicht völlig ohne Gerechtigkeit ist. Den entsprechenden Kommentar, weil er gegen Stein nur hämisch war, habe ich gelöscht. Ich achte Kertesz aber sehr. Doch heißt das nicht, daß nachfolgende Jüngere das Recht auf Dichtung verwirkt hätten. Zumal spielt Kertesz für die moderne Romanästhetik keine sonderliche Rolle. Das muß er auch nicht, denn für was er steht, ist weißGöttin beachtlich genug. Dennoch stellen sich unterdessen auch andere Fragen, die ihre Schatten oder, je nach Perspektive, ihr Licht auf die Ästhetiken werfen. Denen ist nachzugehen. Was Stein tut, und was ich tue, und was viele andere, auch n o c h jüngere, und auch Berühmtere als wie alle, tun, sind Schritte auf diesem Weg durchs Gestrüpp, der mit der poetischen Machete freizuhauen ist. Es ist kein Eis mehr, wie zu Kafkas Zeiten, der noch die Axt nehmen konnte; wir, in der Tat, brauchen die Machete.