Zur Bildung: Firmung durch Filme. Arbeitsjournal. Sonnabend, der 25. Oktober 2010. Überlegungen zur Erzählung von der Sainte Chapelle. Sowie eine unangenehme Ambivalenz. Und im Abend La Fiamma.

5.04 Uhr:
Schon deutlich, wenn man gegen 24 Uhr zu Bett geht; das „man” meint „mich”. Um zehn vor halb fünf wachte ich ganz ohne die Weckerei des Ifönchens auf, blieb aber bis halb fünf noch liegen, dann setzte ich mich, dann stellte ich mich hin, dann ging ich zum Laptop. Er fuhr hoch, während ich mir (schnell ebenfalls – nämlich in Hose, Hemd und Pullover – gefahren) in der Küche den Latte macchiato bereitete. Zum >>>> DTs die Morgenzigarette.
Mein Junge schläft, manchmal hör ich ihn auf dem Vulkanlager seufzen. Wir sahen uns bis in den späten Abend hinein Ridley Scotts „Gladiator” an. Als die ersten Romszenen kamen, rief er: „Da waren wir, Papa! Da, genau da, habe ich gestanden!” Und brachte immer wieder Nachrichten ein, die ihm von seinem Schul-Latein zugetragen waren. Bildung: Erzählung aus der Theorie // Ansicht // eigene Erfahrung. Dann darüber sprechen: alles drei zusammenbringen, und manches mehr, gewiß. Und Folgerungen ziehen (auf wessen Seite stünde ich? was ist moralisch?). Die Anschauung jedenfalls, da behält Kant unbedingt recht, ist ein Fundament. Zur Anschauung als Erfahrung gehört, wie man fühlt.

An den Text >>>> der Chapelle. Ich war in ihr gewesen erst, nachdem >>>> Melusine mir das angeraten hatte; die Beschreibung, wie sie jetzt noch dasteht, fundiert auf Bildern. Als die Löwin und ich v o r h e r dortgewesen waren, stand nämlich eine einen halben Kilometer lange Schlange an, so gaben wir’s auf für den Tag. Die Erzählung wollte aber weiter. Nun ist meine Beschreibung eine Mischung aus Ansicht und Imagination, nicht für die Fenster, wohl aber für den Bau selber also falsch. Hier muß ich revidieren: das wurde mir schon klar, nachdem wir doch noch in der Chapelle gewesen waren. Ich weiß nur noch nicht, wie. Entweder, was naheliegt, ich erfinde eine ganz andere Kirche, die dann der in der Erzählung erzählten Mischung entspricht; das bedeutete aber, daß auch der Titel der Novelle verändert werden müßte. Oder aber ich erzähle die Erzählung auf die tatsächliche Sainte Chapelle um; nur stünde deren nicht-mehr-sakraler, bzw. halbsakraler, halb zur alleinigen Attraktion von Touristen säkulierter Raum dem Pfingstwunder entgegen.
Interessanterweise hat, nachdem das Pfingstwunder erzählt war, niemand protestiert: das könne in der Sainte Chapelle gar nicht geschehen sein; das Kirchenschiff sei ganz anders, als ich es beschrieb. Da ist die Macht dieser Erzählung sehr groß. Poetisch bleibt aber die Frage, ob das so statthaft ist. Ein weiteres Problem – eines der Konstruktion der Dramatik – besteht darin, daß Melusine mich in die Sainte Chapelle schickte, nachdem ich schon eine Kirche mit solchen Fenstern, also ähnlichen, erfunden hatte. Das ergibt nun eine Art Verdopplung, was b e i d e n Erfahrungen und damit aus der Erzählung etwas wegnimmt. Auch hierfür brauche ich eine Lösung.

Heute ist Waschtag; ich habe kaum noch Klamotten, ja sogar meines Jungen und meine Reisewäsche aus Italien steckt noch ungewaschen im Rucksack. Wir radeln also nachher in den Waschsalon. Morgen sind die >>>> Meistersinger, bereits ab 17 Uhr; übermorgen fahre ich nach Frankfurtmain zum 25. Jubiläum des Literaturforums, in dessen Vorstand ich sitze; ich muß also dabei sein. Wenn ich am Mittwoch zurückkomme, habe ich noch knapp eine Woche für die Schreibtischarbeit, dann fängt bereis die Buchmesse an; dann findet bereits das erste Seminar wieder in Heidelberg an; donnerstags reise ich nach Berlin zurück, gestalte abends die Lesung in der >>>> Tucholsky-Buchhandlung, und am Morgen darauf geht es bereits nach Sizilien. Ach hätt ich doch eine Haushälterin!

8.50 Uhr:
Bis TS 17 gekommen; ich hab Ihnen >>>> eine Chapellenprobe eingestellt, werde im Lauf der Überarbeitung wohl auch weitere Partien einstellen. Das bedeutet allerdings einige Verlinkungsarbeit, damit Sie vergleichen können. – Da rief लक an, wann denn der Junge komme; sie sei für den Mittag mit Freunden und Kindern im Aqarium verabredet. Ich solle doch einfach bei ihr waschen. Was ja nun eine Idee ist. Zum Trocknen dann könnte ich je in den nahen Waschsalon radeln; ich habe eh genug zu lesen. Andererseits gibt das wieder eine problematische Nähe. Wieder andererseits ist das für die Zwillingskindlein gut. Jedenfalls, gewaschen muß werden. Immerhin läuft der Text heute gut.

Jetzt das Frühstück: wir futtern noch einmal Eierpfannkuchen; zwei sind von gestern mittag noch übrig.

16.05 Uhr:
[Am Terrarium.]
Die ersten beiden Waschmaschinenladungen „erledigt”: naß aus der Maschine, alles an den Rucksack geschnallt, durch strömenden Regen zum Waschsalon und alles getrocknet. Dabei, weil ich auf der Buchmesse ein Gespräch mit ihr zu führen gebeten bin, >>>> Stefanie Zweigs „Heimkehr in die Rothschildallee”; dabei heißt: bis die Wäsche trocken war und zusammengelegt, dann in den Rucksack befördert werden mußte und in die Arbeitswohnung geradelt wurde, von wo ich nun wieder hier bin, um den letzten Waschgang abzuwarten. Das Buch erzählt eine Deportationsgeschichte; es gehört stilistisch zum Unterhaltungsroman, was mir ein seltsames Gefühl macht; die Metaphern und vor allem Typisierungen sind fast durchweg abgegriffen… aber wie auch anders? Eine alte Dame schreibt ihr Erinnerungen aus sich heraus. Es ist grundsätzlich schwierig, an so etwas den Kunstanspruch zu stellen, zum einen sowieso, zum anderen, weil das mit dem Entsetzlichen Unterhaltende, das dann immer zugleich rührt, Leser bewegt… den sog. einfachen Leser, wie auch immer. Außerdem habe ich mit der Geschichte meiner Familie wenig Recht, hier zu urteilen. Dennoch. Da hat mich >>>> Stang voll in die Ambivalenz gepfeffert.

21.19 Uhr:
[Arbeitswohnung. Respighi, Lucrezia.]
Cigarillo, Birnenklarer & Kakao.
Die Wäsche ist fertig, sogar die Regale, auf die sie verteilt wird, habe ich geordnet. Das ilb hab ich freilich ausfallen lassen, auch wenn mich >>>> das da sehr gereizt hat. Doch besser, ich schaffe hier Klarheit. So werde ich einen Musikabend zelebrieren und dabei die längst fälligen, die überüberüberfälligen VG-Wort-Meldungen schreiben. Mit der Überarbeitung der Kleinen Litblog-Theorie bin ich zu allem parallel bis zu TS 15(oben) gekommen. Immerhin.
Nach Lucrezia dann La fiamma, nämlich: j e t z t. Und zwar von Vinyl: es ist >>>> die beste Aufnahme des Stücks, die ich kenne. Was nicht nur am Sopranstahl der Tokody liegt. Wer die Aufnahme noch als Schallplatten-Album entdeckt, sollte ganz unbedingt zugreifen: die alten Pressungen von Hungaroton sind nach wie vor beeindruckend und stellen manche modernen CDs auch berühmter Firmen in einen Regen, der so heftig strömt wie zur Zeit in Berlin.

23.02 Uhr:
[Respighi, La Fiamma (3. Akt Anfang).]
Es ist wirklich eine grandiose Oper. Lange hatte ich sie nicht mehr gehört. Solch ein Abend hat einiges für sich, mal abgesehen davon, daß ich soeben sämtliche VG-Wort-Meldungen fertigbekommen habe. Jetzt muß ich sie nur noch eincouvertieren und morgen in den Briefkasten werfen. Ich werde gleich mal schauen, da ich nun schon bei sowas bin, ob ich den Aufnahmeantrag für die GEMA im Netz finde. Wenn jetzt Isherwood mit >>>> Robert HP Platz http://www.rhhp.de ’ens Oper nach meinem Libretto tourt, wird einiges zusammenkommen, ganz abgesehen von den CDs, die es unterdessen mit Musiken nach meinen Texten schon gibt. Ich hab das alles irgendwie versaubeutelt… Oh! Ist diese Musik, Leserin, s c h ö n!

5 thoughts on “Zur Bildung: Firmung durch Filme. Arbeitsjournal. Sonnabend, der 25. Oktober 2010. Überlegungen zur Erzählung von der Sainte Chapelle. Sowie eine unangenehme Ambivalenz. Und im Abend La Fiamma.

  1. Profanisierung und Sakralbau „Interessanterweise hat, nachdem das Pfingstwunder erzählt war, niemand protestiert: das könne in der Sainte Chapelle gar nicht geschehen sein; das Kirchenschiff sei ganz anders, als ich es beschrieb.“ Natürlich habe ich das bemerkt. Aber wieso protestieren? Es ist Ihre Erzählung. Meine Sainte Chapelle habe ich für mich – wie all die anderen, die sie sahen, auch.

    Und daher: Meiner Überzeugung nach gehört der Abscheu des Erzählers vor der Profanisierung durch die Masse zwingend vor das „Pfingstwunder“. Geht es nicht darum (aber freilich ist das nur meine Interpretation): dass jede „Erleuchtung“, also die Erfahrung der „Erhabenheit“ (auch) aus dem Profanen hervorgeht, aus Schmutz, Angst und Schmerz und um das Erkennen: Jede/r könnte ihrer teilhaftig werden, dennoch oder: nur deswegen, sogar „er“, der Gefallene? Man könne, schrieb ich, dort (in der Sainte Chapelle) etwas lernen. Es ist für jeden anders. Für den Erzähler veränderte sich der Kirchenraum. Wenn Sie die Geschichte der Sainte Chapelle nachschlagen, werden Sie finden, dass sie viele Veränderungen erfahren hat: Profanisierung und Re-Sakralisierung als Sightseeing-Objekt.

    Wie gesagt, es ist Ihre Erzählung – und das ist nur eine mögliche Lesart. Nämlich meine.

    (Nur eines noch: dass Sie die Fenster zuerst nach Bildern beschrieben, merkte ich auch. Das – vielleicht – ließe sich an einigen Stellen bearbeiten.)

    1. @Melusine: Pfingstwunder und Architektur. Das werde ich ganz sicher tun. Zumal ich viele eigene Bilder angefertigt habe, vor allem von Details, etwa der Wände, der Ecken, der Struktur der Türen. Mein eigentliches Problem ist, daß die Chapelle nicht mehr den Gottesdiensten dient, es dafür auch gar keine Einrichtung gibt, etwa Sakristei usw. Wiederum kommt mir entgegen, wie man die Kirche betritt: nämlich über den engen steinernen Wendelgang. Der bietet es geradezu an, daß man „von irgendwo“ aufsteigt, paßt also hervorragend in die Szene der Gasse, nachdem der Erzähler das „Paradis de Pantin“ verlassen hat. Wobei, was Sie ganz richtig über die Erfahrung des Erhabenen aus dem Schmutz heraus schreiben, hier ebenfalls geradezu in Qintessenz stimmt.
      Ich könnte mein Problem jetzt mit der Leichtigkeit der Erfindung beiseitelegen, indem ich sagte: ja, es ist m e i n e Chapelle. Das widerspräche aber eben dem Pfingstwunder, ebenso wie meiner fast naturalistischen Grundhaltung zu den „Spielorten“ meiner Erzählungen. Ich will immer, daß der Ort material d a ist. Deshalb fotografierte ich dann auch alle Wände und Türen, als die Löwin und ich in der Chapelle waren: ich suchte nach möglichen Orten für den Ein- und Ausschlupf. Bekanntlich schneide ich verschiedene Orte gerne nah aneinander; aber das muß, wenn man welchen von diesen Orten auch immer besucht, jedem fühlbar sein, d.h. sinnliche Evidenz besitzen.Ich bin gerade bei der ersten Kapelle meiner Erzählung angelangt und versuche nun, >>>> schon dort die erste Spur zu legen. Und Sie haben recht, daß die Bildbeschreibung stört -: sie muß fallen und wird, das weiß ich schon, allein durch die Beschreibung des Lichtes ersetzt werden. Nur das Licht soll noch da sein. Diese „Richtung“ ist in der Erzählung aber schon angelegt.

      (Ein Nebenwort noch zum Fotografieren in Kirchen. Selbstverständlich, wenn ich sowas schon tu – es ist mir immer peinlich -, verzichte ich streng auf das Blitzlicht. An sich müßte man Blitzer aus dem Raum werfen; ein bißchen Ahnung von dem, was man tut, muß vorausgesetzt werden, also von dem, was man mit Blitzlicht allem antut, das Farbe hat.)

    2. Überblendung? Ich verstehe das sehr gut: Zwar darf man als Autor die Erfahrungskonstanten Raum und Zeit dehnen, strecken, wandeln, aber es muss daraus ein Erfahrungsraum für den Leser entstehen, d.h. es müssen auch hier Gesetze und keine Willkür herrschen.

      Der Blick, mit dem ein „gewöhnliches“ westliches Auge Architektur wahrnimmt, darf man nicht vergessen, ist der am perspektivischen Bild geschulte: Der Raum als Bild. Die Sainte Chapelle – aber das ist jetzt nur eine noch völlig unfertige Idee – ist gerade kein solcher (vom Bild her gedachter) Raum (und also auch keine „Bühne“). Sondern einer, der vom LICHT her entworfen ist. Wenn das so wäre, dann könnte sich daraus eine „Lösung“ Ihres Problems entwickeln. Allerdings habe ich Schwierigkeiten mir eine „Möblierung“ im Inneren dieses Raumes vorzustellen (genauso wie in einer Moschee).

      Ich hatte eine Zeichnung, die den Innenraum der Sainte Chapelle während der Französischen Revolution darstellte. Leider finde ich sie jetzt nicht. Säcke werden da gestapelt. Die Fenster sind teilweise zugenagelt.

      Diese Geschichte der Sainte Chapelle scheint in Ihrer Erzählung als „Überblendung“ auf. Vielleicht ist auch das ein Weg.

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