Nun wurde der Bann gebrochen. Seit dem Umzug der Staatsoper Unter den Linden in das nach seiner Schließung zu Musicaleien geschändete Schillertheater hatte ich eine so starke instinktive Hemmung, den neuen Produktionen des an sich von mir geliebten Hauses beizuwohnen, daß ich das auch tatsächlich nicht mehr tat; eine gewisse Rolle mag auch die unmittelbare Nähe der Deutschen Oper gespielt haben, seit mich der dortige Pressechef Schnieder-Henninger für Pressekarten gesperrt hat, weil er Der Dschungel die Kompetenz absprach. Das alles sind Unklarkeiten, ich weiß, und als solche haben sie sich gestern abend auch schlagend bestätigt.
Ich folgte der Einladung einer Mitwirkenden und war nicht nur mit einem besten Platz belohnt, sondern was ich ignorant nicht geglaubt hatte, verblüffte mich nun: welch ein Klang, welche Durchsichtigkeit des Orchesters und welch eine gerade dem Wozzeck, soweit man das bei seinem Thema sagen darf, wohltuende Nähe der Szene! >>>> Andrea Breth interveniert paradox: indem sie den im Vergleich zur „normalen” Staatsopernbühne recht kleinen Schaukasten anfangs noch einmal zu einer Art Käfig, bzw. einem Lattenverschlag verkleinert, worin viele der Geschehen wie unter der Lupe fokussiert werden. Wenn sich die Szene später dann öffnet – den Verschlag nunmehr in der Mitte von außen gesehen, gleichsam inmitten der Pfade eines provisorischen Heerlagers -, wirkt die Bühne unmittelbar groß, ja weit, was insbesondere dem Finale am See, das mit der Tötung Maries endet, eine ungemeine Verlorenheit gibt. Hier ist es gleich, ob es an einem endlosen Meer, das eine endlose innere Wüste ist, oder an einem See stattfindet, der sich eben dadurch in das trostlose Meer der verirrten Seele erweitert, einer Verirrung aber, die von zugleich Mitleidlosigkeit herbeigeführt wurde wie durch die strikten Schranken der naiv verinnerlichten Moral. Wenn man Andrea Breths derart inszenierten Mord-See, der doch gar nicht wirklich zu sehen ist, vor die Augen gebreitet sieht, wird der grauenhafte Zynismus des Hauptmanns ganz besonders erst klar, der in einer sentimentalsten Anwandlung gegenüber dem vor Hilflosigkeit tumben Wozzeck vom Schauder spricht, den ihm die Ewigkeit bereite, um ihm sogleich die Nichtehelichkeit seines, Wozzecks, Kindes vorzuhalten – das zum Schluß in derselben Hoffnungslosigkeit zurückbleibt, von der seine Eltern geschlagen waren.„Hopp. Hopp” singt es auf dem Steckenpferd, als nähme es bereits das Fingerschnipsen derer vorweg, die es wie seine Eltern damit sehr bald herum-kommandieren werden. Dem vorweg, musikalisch, geht ein Orchesterstück von fast plötzlich-mächtig aufscheinender tragischer Kraft – ein bergsches negatives Credo, das einem das Herz schnürt, weil es kathartisch und nicht mehr tonal abstrakter Kommentar ist, der sich an die Ratio richtet. Barenboim weiß das und gab geradezu spätromantische Energien hinein. Die mit dem in Konkurrentenkreisen so genannten Barenboim-Zuschlag probenden Musiker spielten das absolut perfekt – Barenboim nimmt sie stärker in Pflicht, als Orchester-Tarifverträge normalerweise gestatten, dafür aber gehören beide, die Staatskapelle und ihr Leiter, einander in Treue, was für Stardirigenten mittlerweile eine Seltenheit ist. Barenboim setzt hier die Tradition der Barbirollis (Hallé-Orchester) fort, der Bernsteins (NY Philharmonic) und Karajans (Berliner Philharmoniker), und er bekennt das öffentlich: Meines Wissens ist er der erste Operndirigent gewesen, der nach jeder Aufführung sein ganzes Orchester auf die Bühne in den Applaus heraufholt. Daß dies nicht nur wohlfeile Geste ist, hat der Mann unterdessen bewiesen. Meine Achtung vor ihm ist ungebrochen, sei’s in musikalischem, sei es in politischem Betracht. Nur wäre es fein, wenn er ein Ohr für Othmar Schoecks Penthesilea bekäme und für die Massimila Doni; dem steht, war zu hören, leider Pierre Boulez im Weg.
Die Erscheinung der Marie Nadja Michaels ist anfänglich durchaus der idealen >>>> Salomé Morenike Fadayomis an der Komischen Oper vergleichbar; Breth (und das Stück wohl auch selbst) lassen ihr aber nicht so viel Raum, sich zu entfalten; möglicherweise; sie hat ja auch, anders als Salomé, gar keine Macht – doch selbst in der durchweg und um so mehr mädchenhaften Sehnsucht Maries, als es nur Tand ist, was sie für mögliche Erlösungen hält, wäre gerade in der kammerspielhaften Konzentration dieser Inszenierung weniger Plakatives möglich gewesen; >>>> Waltraud Meier bewies es und beweist es immer noch wieder. Indes Fadayomi den Salomés der >>>> Behrens’ und >>>> Malfitanos eine ganz eigene, nämlich glaubwürdige Persönlichkeit hinzugibt, geht diese persönliche Note bei Michael ein wenig unter; zudem macht ihre bisweilen etwa gutturale Intonation die Marie stimmlich älter, als Michaels Erscheinung eigentlich möchte. Zu Wozzeck als Gefährtin paßt das wohl, nicht aber zur Naivetät der existentiell derart „geworfenen” jungen Frau: Michaels Intonation suggeriert eine Erfahrung, die Büchner/Bergs Marie eben nicht hat, trotz des nichtehelichen Kindes. Da liegt ein Problem. Wohl deshalb ging der kurze, an sich unendlich beklemmende Dialogteil des in einer Regieanweisung in Akt III, 4 wiederholten Mondaufgangs durchaus unter und konnte sich auch musikalisch nicht mit der nötigen Symbol-Drohung entfalten:
Wie der Mond rot aufgeht!
Wozzeck
Wie ein blutig Eisen!
Wenn dann, zudem, Maries große Szene Akt III, 1 sanglich irgendwie nach Porgy & Bess klingt, wird die Schwierigkeit besonders deutlich: nämlich sogar in Nadja Michaels tatsächlicher Stimm-Macht, die da nun besonders gegen der Marie Schwanken zwischen Reinheit und Begehren läuft, bzw. der Sehnsucht nach dem besseren Leben. Wovon eben Wozzeck selbst eingangs der Oper spricht: „Ja, wenn ich ein Herr wär (…), ich wollte schon tugendhaft sein!”
Nun ist seine gestoßene Tumbheit, gerade weil sie auch hellsichtig ist, auf eine persönlich geführte Marie sehr angewiesen, die ihm ja mit getriebener Ambivalenz an die Seite gestellt ist und nicht mit Selbstbewußtsein; seine Not wird deshalb um so schwerer vermittelbar, je plakativer sich die Not Maries gestaltet. Selbstverständlich, sie ist keine komplizierte, geschweige durchgebildete Person, aber man muß ihr irgend etwas geben, das sie unterscheidet, und wenn es ein bestimmtes Lächeln wäre oder ein bestimmter trauriger Blick, der dann idealerweise sanglich zur Gestaltung findet, etwa in einer bestimmten Phrasierung. Fehlt das, wird auch des Wozzecks furchtbares Geschick auf das Vorführ-Exempel nach Art eines brechtschen Lehrstücks reduziert: Abstrakta leiden nicht, sondern nur Einzelne, niemals „Klassen”, noch „Arten”, noch „Völker”. Wohl deshalb erreichte mich Trekels eigentlich großartig, weil immer zurück-, nämlich nieder(!)gehalten gesungener Wozzeck ebenfalls nicht wirklich. Die, die ihn leiden lassen, sind bewußt als Karikaturen angelegt, der Hauptmann, der Arzt, der Major; menschliche Aura haben bei Büchner und Berg allein die Erniedrigten, neben Marie und Wozzeck vor allem noch Margret, sowie das fast durchweg stumme Kind. Diese Aura kann sich aber nur a n e i n a n d e r entfalten, eben weil die Personen derart hilflos sind. So gesehen hatte Trekel, der im Interesse seiner Rolle jede Rampenlust zurücknahm, nicht wirklich eine Chance, aus Wozzeck mehr als einen Typos zu machen, der zum Spiegel der schlimmen Verhältnisse dient: das Darstellungsproblem der Marie springt auf ihn über. Hier wäre sowohl von Breth als auch von den Sängern mehr zu erwarten gewesen. Da, immerhin, sprangen Barenboim und seine Staatskapelle in die Bresche; s i e, und das enorme Bühnenbild Martin Zehetgrubers, machen die eigentliche Inszenierung aus: einer guten, unterm Strich. Doch keiner, derer man sich noch in zehn Jahren erinnert.
Muß das freilich sein? Berg hatte ja recht, als er 1929 vortrug:Genügt nicht die Gelegenheit, zu gutem Theater schöne Musik zu machen, oder – besser gesagt – so schöne Musik zu machen, daß – trotzdem – gutes Theater daraus wird?
W o z z e c k
Oper von Alban Berg
Inszenierung von Andrea Breth. Bühnenbild von Martin Zehetgruber.
Kostüme Silke Willrett und Marc Weeger. Licht Olaf Freese.
Chöre Eberhard Friedrich. Dramaturgie Jens Schroth.
Wozzeck Roman Trekel. Tambourmajor John Daszak. Andres Florian Hoffmann.
Hauptmann Graham Clark- Doktor Pavlo Hunka. Marie Nadja Michael.
Margret Katharina Kammerloher. Erster Handwerksbursche Jürgen Linn.
Zweiter Handwerksbursche James Homann. Narr Heinz Zednik.
Kinderchor der Staatsoper Unter den Linden. Staatsopernchor-
Staatskapelle Berlin. Daniel Barenboim.
Nur noch eine Vorstellung in dieser Spielzeit:
24 Apr 2011 | 18.00 Uhr
>>>> Karten.
Danke. Vielleicht, ja vielleicht in einer weiteren Spielzeit?
@ConAlma zu Breths Wozzeck. Ich hörte, daß die Inszenierung in der kommenden Spielzeit wieder aufgenommen werden wird. Ja.