Walpurgisnachtstraum. Pjotr Iljitch Tschaikowskis Pique Dame und Auszüge aus Henry Purcells Fairy Queen auf der Bühne der Komischen Oper Berlin: Thilo Reinhardts russisch-deutsches Verirrungsverhängnis vor und des Ensembles La Capricciosa Auflösung in der Geisternacht zum 1. Mai 2011.

[Pique-Dame-Fotos: >>>> David Baltzer.]

Welch eine Idee! Und viel zu selten, zu selten… – >>>> ERST großes tragisches Musiktheater von internationalem Format, das wir aus dem elenderweise sechsachtelleeren Saal zu sehen und wie! zu hören bekamen… dieser junge Musikchef des Hauses, Patrick Lange, ist ein solcher Gewinn… man kann das gar nicht angemessen ausdrücken, was für einer! Wie genau er schlägt, wie intensiv er das Orchester befeuert und wie-doch-genau er dabei auf die Sänger achtet und sie vor jedem Klangloch schützt, ja sie auf den Orchesterwogen trägt, so daß nicht nur die instrumentalen Ausbrüche laut werden, neben den ganz genau so detailliert mitgelauschten Piani und Pianissimi, etwa vor Akt III, sondern wenn die Welle brandet, hebt das auf der Klanggischt die Sänger wie Surfbrettsurfer an – man kriegt das Ohr vor Staunen nicht mehr zu und singt in der Pause Hermanns Bögen immer noch mit und die herzklammernde, weil authentische Arie des Fürsten Jeletzki, bei dem man sich, in der männlichen Erscheinung Mirko Janiskas, allerdings fragt, was Lisa denn an dem Jammerleider Hermann findet, der sie mit billigst gefühlsabgefeimter Erpressung auch rumkriegt: Nimmst du mich nicht, bring ich mich um. Nun ja, wer darauf steht. Die Quittung wird der Frau denn auch ziemlich schnell überreicht, als sich dieser formatlose Jammerwerther, dem eignen Begehren nicht gewachsen, ins zunehmend mythisch besetzte Glücksspiel verirrt und sein Entsetzen da auch schließlich findet. Atemberaubend, wie stringent das inszeniert ist: es gibt rein keine Längen, trotz einer gewissen Neigung zur Zote, die in dieser zwei Jahre alten Inszenierung allerdings milder daherkommt als in Thilo Reinhardts neuer, der >>>> fulminanten Salomé aus diesem April – aber vielleicht bin ich bei sowas überempfindlich.
Jedenfalls zeigte sich wieder einmal, daß es berechtigt ist, auch über 22. Vorstellungen zu schreiben, weil eben auch diese noch die Energien von Premieren entfalten können, wenn denn die Regie stimmt, die Sänger sich noch nicht abgenudelt haben und das Orchester einen Leiter geschenkt bekommen hat, der jede die Musik zum „Dienst” erniedrigende Routine unterläuft – nicht offenbar, weil sich jemand besonders diktatorisch geriert, sondern weil er – lächeln kann und Begeisterung überträgt. Insofern, daß sich das Konzerthausorchester im gleich benachbarten Haus, wenn’s denn schon mit >>>> Zagrosek nicht klappte, nicht ebenfalls für einen noch unbekannten, aber jungen und unabgenutzten, weil nicht in die Betriebs- und Berühmtheitskungeleien eingebundenen neuen Leiter entschieden hat, ist bei dem Vorbild, das nunmehr in Berlin Patrick Lange gibt, eigentlich nicht zu begreifen. Ganz „ohne Name” steht er da und macht allein mit Musik die Musik. So kann sich seine Pique Dame, in die er doch nur einsprang, höchst selbstbewußt gegen Barenboims von 2004 behaupten – ich hab es eben verglichen. Kommen dann noch Regisseure wie Thilo Reinhardt hinzu, die offenbar „die Oper” a t m e n, wird das Haus seinen Ruf für modernes und wagemutiges Musiktheater noch ausbauen können, den es sich in den letzten Jahren erstritten hat: Oper eben nicht als selbstgefälliges Zelebrieren bürgerlicher Riten, sondern als leidenschaftliche Auseinandersetzung mit der europäischen Kunstform schlechthin: einem Erbe, das aufs Podest nicht gehört, sondern auf die Werkbank.
Tatsächlich ist auch hier, in der Pique Dame, jede Bewegung perfekt und die Charactere sind, was sie sein sollen: Menschen. Reinhardt bringt das offenbar zuwege egal, ob sein Konzept wie in der Salomé ästhetizistisch ist oder wie hier fast neusachlich – freilich mit magischen Untertönen, die aber Spiegel der Seele Hermanns sind: seiner grenzenlosen Schwäche einerseits wie der Ignoranz der Spaßgesellschaft um ihn herum, in der – für Hermann eine zunehmend düstere Erscheinung – die Gräfin lockend droht: imgrunde eine alte sentimentale Frau, deren gereiftes, obwohl viel jüngeres Ideal in Hofmannsthals und Straussens Marschallin zur Reinheit findet. Es war zweifelsfrei ein Höhepunkt des Abends, wenn Anja Silja in ihrer großen Erinnerungsarie zur Gräfin wirklich wird, aber bald schon von Hermanns Projektionen mitbesetzt: großartig, wie nahe Reinhardt die beiden einander bringt, auch körperlich nahe, und s e h r: beide so verloren, aber die Alte eben mit Recht. Das wird von dem Jungen okkupiert bis in die symbolische Konsequenz ihres Todes, den er damit psycho/logisch als seinen eigenen heraufbeschwört. Sozusagen hat er die Gräfin – sein projeziertes Gräfinnen-Innen – in sich aufgesogen. Konsequent wird er bei Reinhardt in einer Szene des Dritten Aktes zur Grafin-selbst; er trifft sie als sein Spiegelbild. So daß sogar die halluzinierte Offenbarung der drei Karten, die für Hermanns Begehren zum libidinösen Ersatzobjekt wurden, geradezu naturalistisch vorgeführt werden kann, und zwar ohne den ästhetischen Bruch eines zu akzeptierenden Theater-Behauptens. Ja, Lisa hat jetzt recht, wenn sie Hermann vorwirft, sie sei für ihn nichts gewesen als ein Übergangsobjekt – genau an dieser Stelle, das ist vielleicht Reinhardts höchste Meisterschaft, werden Puschkins Novelle und Tschaikowskis Libretto ganz plötzlich wieder deckungsgleich, des Dichters kalte Distanz und des Komponisten russisches Weltweh-Gefühl. Inszenierung wird zum Instrument der Erkenntnis, ohne daß uns die Lust am Leiden verboten würde, das kathartische Pathos.Wir dürfen’s dann aber, zur Befreiung, verspotten, doch ebenfalls nicht ohne Pathos, nämlich das der Ironie. Dies führte DANN >>>> der zweite Teil des Abends vor. Aber nur wenige, die die Pique Dame vorher sahen, erlebten es, vielleicht fünf oder sechs; alle übrigen Zuschauer, die auf der Bühne in den Kulissen der Pique Dame platznahmen, waren frisch hinzugekommen nachts um elf; es waren zudem gänzlich andere Charactere: fast durchweg jugendlich und unkonventionell, wie von anderer Konfession, – aber da sie doch die Pique Dame zuvor nicht gehört und gesehen, mußte ihnen entgehen, wozu dieses Nachtkonzert der spöttischste Kommentar eines Völkchens war, das gegen Mitternacht in die Realität strömt. An Tschaikowskis so spätromantischem wie verbohrtem Fühlen, das schließlich Erlösung im Wahnsinn sucht – seine Musik ist immer auch hochidolisiertes Zelebrieren von Verklemmtheit, persönlicher und gesellschaftlicher, wie die spätromantische Musik überhaupt -, an die Klang-Ekstase also hysterischer Hyperstasierungen schlägt Purcell wie an Tschinellen: denn wären es, sagen seine Naturgeister, Glocken, dann wären sie taubhohl – oder, um’s mit Puck zu sagen:

Lord, what fools these mortals be!

Welche Verirrtheit, sagen sie, wenn doch ein Kuß sie lösen könnte: ganz genau so saßen in AKT II von Reinhardts Pique Dame die Schafe des einkomponierten Schäferspiels da; schon dieses selbst hatten sie durchblökt. Als es vorbeiwar, nahmen sie Platz auf den Fauteuils und sahen der Tragödie so staunend zu, wie nur Schafe können. Bei Purcell bekamen sie Stimme, verwandelten sich in den Naturlaut zurück und in lauter Geister über den Wassern. Dem kam sehr zugute, daß das Ensemble La Capricciosa auf alten Instrumenten spielte. Barockgeige, Barockcello (noch ohne den Stachel zwischen den Knien gehalten)… ungefähre Tonklänge, flirrend und vom Oszillieren des Übergangs der Dämmerungen, dazu schon mal Vogelstimmen vom Band eingespielt – und überhaupt – S p i e l! Julia Giebels virtuoser, doch warmer Sopran, das vorgeführte Stimm-Outrieren Adam Cioffaris, das die Stimme zur lebenden Maskierung macht, die leicht pikante Lockerheit des Alts Caren van Oijens und Matthias Siddharta (!) Ottos klarer, fast englischer Tenor, da doch drin ein Engel steckt, und aller Akteure Lust, immer knapp vorm Theaterspiel zu stehen… wir dazu den Blick von der Bühne in den erleuchteten völlig leeren Saal — all das hatte etwas von Befreiung. Das nahm uns, den von Hermanns Wahnsinn mit Tragödie aufgeladenen Leuten, an der Hand vom Boden auf, verneigte sich und fragte, ob man tanzen wolle.

Yet so pleasing the Pain, so soft is the Dart,
That at once it both wounds me, and tickles my Heart.

Aber wirklich spüren konnten das nur die Fünfe oder Sechse, die von der Pique Dame hiergeblieben waren; die andren aber haben nur

geschaut in Nachtgesichten
Eures eignen Hirnes Dichten
. Doch das ist a u c h schon viel.
P I Q U E   D A M E
Oper in drei Akten von Pjotr I. Tschaikowski
Libretto von Modest I. Tschaikowski
Deutsche Textfassung von Bettina Bartz und Werner Hintze

Musikalische Leitung … Patrick Lange. Inszenierung … Thilo Reinhardt.
Bühnenbild … Katharina Gault. Dramaturgie … Ingo Gerlach
Chöre … André Kellinghaus. Licht … Franck Evin.
Hermann … Kor-Jan Dusseljee. Graf Tomski … Juri Batukov.
Fürst Jeletzki … Mirko Janiska. Tschekalinski … Joska Lehtinen.
Surin … Marko Spehar. Tschaplitzki … Christoph Schröter.
Narumow … Hans-Peter Scheidegger. Der Festordner … Raphael Bütow.
Die Gräfin … Anja Silja. Lisa … Orla Boylan.
Polina/Gouvernante … Karolina Gumos. Mascha … Mirka Wagner.
Plutus … Adam  Cioffari. Chloë … Anastasia Melnik.
Daphnis … Annelie Sophie Müller.
Leider keine weitere Vorstellung in dieser Spielzeit.



THE FAIRY QUEEN
Auszüge aus Henry Purcells Oper.
Musikalische Leitung … Mika Yonezawa. Szenische Einrichtung … Tomo Sugao
Bariton … <Adam  Cioffari. Mezzo … Caren van Oijen.
Sopran … Julia Giebel. Tenor … Matthias Siddhartha Otto.
Das Barock-Ensemble La Capricciosa:
Barockvioline … Mika Yonezawa, Peter Wünnenberg.
Barockviola … Florian Schulte. Barockcello … Christoph Lamprecht.
Erzlaute/Barockgitarre … Ophira Zakai.
>Barocktrompete … Michael Stodd, Matthias Kamps.
Pauke … Friedhelm May. Cembalo/Studienleitung … Lutz Kohl.
Leider keine weitere Vorstellung.

2 thoughts on “Walpurgisnachtstraum. Pjotr Iljitch Tschaikowskis Pique Dame und Auszüge aus Henry Purcells Fairy Queen auf der Bühne der Komischen Oper Berlin: Thilo Reinhardts russisch-deutsches Verirrungsverhängnis vor und des Ensembles La Capricciosa Auflösung in der Geisternacht zum 1. Mai 2011.

  1. Was mir eben noch einfiel. Ein Bild: Das Auflachen – gelöst, völlig frei – Mika Yonezawas, als Peter Wünnenberg dem Publikum erzählte, wie bizarr für die Europäer damals DerChineseAlsSolcher gewesen sei: von solcher Qualität des Staunenswerten, daß es quasi keinen Unterschied machte, ob man Elfen auf die Bühne ließ oder Geparden oder eben Chinesen.
    So wird auch für uns Heutige manches absonderlich sein, das wir in einhundertfünfund-zwanzig Jahren restlos normal finden werden: unauffällig gegeben. Genau dieses Wissen leuchtete in Yonezawas Lachen, dessen Freiheit befreiend ansteckend war: als Gegenteil der verklemmten Bürgerlichkeit des puschkin/tschaikowskischen Hermanns.

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