Liliana Ahmetis Warum ich kein Model geworden bin. Part 12

Lasko kam herein. Er sah schrecklich aus, und besser als je. Es war als ob etwas durch ihn hindurch gegangen war und ihn aufgerichtet hatte, aber gegen seinen Willen. Er trug einen dunkelgrünen Ledermantel, darunter ein weisses Hemd, kein Jackett, seine Augen strahlten in dunklem Glanz..
„Ich muss schlafen“, sagte er. „Ich habe wie Macbeth den Schlaf getötet. Und jetzt tötet mich die Schlaflosigkeit. Wiege mich in den Schlaf, singe mich in den Schlaf, lass mich schlafen neben dir.“
Ich zog ihn aus, er taumelte, und jetzt erst merkte ich, dass er betrunken war. Er lag da wie der gekreuzigte Christus. Ich deckte ihn zu. Er rollte sich zusammen wie eine Raupe.
„Morgen werden wir uns töten“, sagte er. Ich nahm seinen Kopf in meine Arme und küsste seine Stirn.
„Morgen werden wir uns töten“, sagte er und nahm meinen Mund.
Ich weiss nicht mehr wie ich diese Nacht überstanden habe. Es war die glücklichste meines Lebens. Ich lag neben ihm. Er atmete kaum. Dann wieder winselte er im Schlaf wie ein Welpe. Irgendwann wacht ich auf und sah ihn nackt, den Ledermantel über den Schultern, am offenen Fenster stehen, eine Zigarette rauchend. Und der Rauch seiner Zigarette driftete aus dem Fenster in die Nacht wie etwas das ihn endgültig und unwiederbringlich verließ. Dann lag er wieder neben mir, seine Hand auf meinem Bauch, seine Augen weit offen. Er schlief nicht aber er war auch nicht wach. Er war in einem Zwischenzustand.

Am späten Vormittag rief mein Manager an.
„Hör mal, Liliana, du hast uns eiskalt versetzt – und du hast es nicht mal für nötig gehalten, bescheid zu sagen. Was ist los mit dir?“
„Nichts“, sagte ich.
„Nichts!“ schrie er, „dein Telefon war permanent besetzt. Ich hab noch einen Fahrer losgeschickt, aber er blieb im Stau stecken. Sowas kannst du dir nicht leisten, noch nicht, Baby, weisst du das eigentlich?!“
„Ja.“
„Wir kommen ohne dich aus.“
„Klar.“
Er sagte nichts. Es rauschte. Die Verbindung schien abzubrechen.
„Du bist draussen, klar?“ schrie er. Und es klang wie aus einer anderen Welt.
„Klar“, sagte ich.
„Finis!“
„Yes, Sir“, sagte ich, „Fin de partie.“ Ich legte auf.
Lasko sah mich an.
„…deshalb bin ich kein Model geworden“, sagte ich.
Wir schauten beide auf meinen Koffer und mussten beide lachen.
„Ich muss mich nicht entschuldigen“ sagte Lasko, „das ist nicht mehr wichtig jetzt.“
„Nein, sag etwas anderes, bitte“, sagte ich.
„Eine der letzten Illusionen die man verliert ist die, dass man selbst nicht lächerlich ist.“
Ich sagte: „Hör auf dich zu schänden.“
„Ich schände mich nicht – im Gegenteil: es gibt extreme Formen der Selbstvergessenheit, in denen erinnert man sich an nichts und hat keinerlei Vorstellung von sich und von anderen. Man treibt mit der Fließgeschwindigkeit der Zeit.“
Ich sagte: „Und was passiert mit deinen Aufzeichnungen, all den Texten und Fragmenten, den Romananfängen und Gedichten?“
„Ich habe alles meinem ältesten Sohn geschickt. Er soll damit machen was er will. Das ist nicht mehr wichtig jetzt.“
„Und du meinst, er kommt damit klar?“
„Das ist mir wirklich egal. Sag du etwas anderes jetzt, bitte.“
Ich stellte mich vor ihn. Er fror. Ich umarmte ihn unter seinem Mantel. Sein Körper krümmte sich zusammen, dann entspannte er sich und legte seine langen Arme um mich.
„Kennst du das Abschiedsterzetts am Ende des dritten Akts aus dem Rosenkavalier von Richard Strauss?“ fragte er.
„Ich habe es hier – willst du´s hören?“
„Du überrascht mich immer wieder – wir könnten noch eine Menge Spaß haben in diesem Leben….“
„Weiss es deine Frau?“
„Treue ist der längere oder kürzere und manchmal fast wehmütige Nachhall der Liebe.“
„Also weiss sie es nicht?“
„Nein. Aber es wird sie nicht wirklich schockieren…. Sie ist in dieser Welt gefangen wie eine Fliege in einem Spinnennetz.“
Ich sagte: „Ich hab noch eine Menge Geld von diesem ehemaligen Modeljob. Wir können die große Tour machen.“
„Was meinst du damit?“
„Ich lege mich auf das Bett. Ich will dich noch einmal in mir spüren.“
„Und dann?“
„Und dann gehen wir raus und bringen es zu Ende.“
Ich legte das Terzett in Des-Dur auf. Er ging in die Küche und kam mit zwei Gläsern Gin zurück. Wir lagen auf dem Bett und hörten die Musik, zu der sich Richard Strauss hatte beerdigen lassen. Lasko legte sich auf mich und sein Ledermantel war über uns wie der Panzer einer Schildkröte. Und ich spürte seinen alternden Körper, seine trockene Haut, seine knackenden Gelenke – und sein aristokratisches Taktgefühl. Aber sein Atem war süß wie der Tod, und sein Kuss erstickte jeden Zweifel in mir. Wir waren eins. Es war der Anfang des Endes.

Lasko wollte noch einmal nach Hause. Er hätte noch etwas in Ordnung zu bringen, und er wollte sich umziehen. Wir verabredeten uns für den Abend hier bei mir.
Ich nahm eine Dusche machte mir Kaffee, setzte mich an den Computer und schrieb dies hier. Es war mein Vermächtnis und ich wollte nicht dass es verloren ging. Irgendwann würde irgendwer in die Wohnung kommen und es lesen. Es war die Geschichte meines Lebens. Und es war die Geschichte unserer Liebe, die so enden musste wie sie endete, nähmlich nicht.
Das waren die letzten Zeilen: ein schmerzhaft-glücklicher Moment. Solange ich an diesem Text geschrieben hatte, lag Zeit vor uns, bis wir irgendwann den Timer drückten. Von da an lief die Zeit rückwärts. Die Schlange biss sich in den Schwanz.

Ich speicherte die Datei auf http://mydrive.ch und druckte das ganze Manuskript aus. Während der Drucker arbeitete fütterte ich meine Katze. Sie hatte die Nacht in der Küche hinterm Schrank verbracht, wie immer wenn Lasko hier war. Sie hatte Angst vor ihm. Das hatte sie mir voraus. Ich würde das Fenster offen lassen, Katzen sind nicht dumm. Irgendwann würde sie der Hunger auf die Idee bringen, auf den Baum vorm Fenster zu springen. Sie würde es überleben. Ich las noch einmal das Gedicht von Lorca und wartete. Ich hatte mein ganzes Leben lang auf dieses Warten gewartet.

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Als ich in Lilianas Wohnung zurückkam konnte ich mich kaum noch auf den Beinen halten. Das Fenster stand offen, auf dem Bett war noch der Abdruck unserer Körper. Ich hatte sie getötet – und dann schreckte ich vor mir selber zurück.
Auf ihrem Schreibtisch neben dem Laptop lag das Manuskript mit dem Titel: Warum ich kein Model geworden bin. Ich nahm es in die Hand. Es waren an die hundert Seiten. Und es hörte mit dem Satz auf: Ich hatte mein ganzes Leben lang auf dieses Warten gewartet. Ich ging in die Küche und holte die Flasche Gordons Gin. Eine schwarze Katze stob mit gesträubtem Fell aus der Küche und verschwand im Schlafzimmer. Ich habe sie nicht wieder gesehen. Sie musste durch das offene Fenster verschwunden sein.
Ich setzte mich an den Tisch und las. Und je länger ich las, desto weniger begriff ich dich, und desto mehr liebte ich dich, dich, die das geschrieben hatte. Es gibt immer einen Grund, weshalb das Leben eines Einzelnen verschont wird im kalten Auge der Spezies.
Es gibt einen Tag, an dem die Zeit still steht. Sie ist nicht mehr das Medium in dem man sich bewegt. Sie ist eine sich häutende Schlange. Der Schmerz löst sich von seinem Gegenstand. Und der Schmerz, das sind die Worte. Und die Zeit wird selbst zum Schmerz. Sie steht still. Sie ist durch nichts mehr auszufüllen. Jede Bewegung ist sinnlos. Diese Nacht würde auch meine letzte sein.
Ich schaltete dein Notebook ein und stieß sofort auf die Datei. Und da war der letzte Satz: Ich hatte mein ganzes Leben lang auf dieses Warten gewartet. Ich drückte die return-Taste und ich fing an zu schreiben:

Damals als ich mit dir verabredet war, an diesem bleiernen Spätnachmittag im November, setzte ich mich auf eine Bank und wartete. Und da kamst du. Und ich wusste sofort, dass du es warst. Dein roter Mantel. Und du gingst an mir vorbei. Aber du hattest mich gesehen. Ich stand auf. Du bliebst stehen und drehtest dich nach mir um, gelangweilt, ja, fast angeödet. Ich ging zu dir. Du schautest mir in die Augen, und in deinen Augen war nur Dunkelheit, wie ein gebrochenes Versprechen. Du gingst neben mir her. Du zündetest dir eine Zigarette an. Ich hatte keine Zeit, meine Handschuhe auszuziehen. Ich wollte dich nicht berühren. Ich wollte weg von dir, so schnell wie möglich. Aber wir gingen schon nebeneinander her. Dein Schritt war so leicht und elegant. Du gingst wie ein Model, fremd und teilnahmslos.

„Keine Angst: niemand nimmt niemandem irgendetwas weg“, sagte sie.
Ich sagte: „Von mir kannst du alles haben, alles was ich jemals hatte, habe und haben werde.“
„Wir sind alle verrückt – und im Augenblick bin ich die Verrückteste von allen“, sagte sie.
Ich sagte: „Ich will nichts weiter als dass du neben mir hergehst.“
„Du hast einen Stein aufgehoben – und welchen der Steine du hebst – du entblößt die des Schutzes der Steine bedürfen.“
Ich sagte: „Ich bin kein Dichter.“
„Doch – das bist du.“ sagte sie.
Ich bin mir nicht sicher, ob wir das zueinander sagten. Kann sein, kann auch nicht sein. Aber es war etwas von dieser Art.
„Du bist angeschlagen und in großen Schwierigkeiten“, sagte sie, „aber in dir blüht eine Blume von einer Farbe wie sie die Welt noch nicht gesehen hat.“
Ich sagte nichts. An der Ampel sah ich ihr Gesicht, ihre hohen Backenknochen, ihren bittersüßen Mund und ihre glatte Stirn, ihre schwarzen Augenbrauen, ihre umschatteten Augen, getönt von der Alles auslöschenden Ewigkeit aus der sie kam und in die sie wieder eingehen würde: diese geheimnisvolle Ausgewogenheit in ihren Zügen verblüffte mich. Es war die Manifestation einer Schönheit, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Unter den abertausenden von Gesichtern die an mir vorbei gedriftete waren in all den Jahren war nie ein einziges gewesen, das wie dieses am Grund seiner Perfektion etwas so Skizzenhaftes, Unfertiges hatte. Es war der Entwurf einer großen Schönheit die nicht verloren gehen durfte. Die Vorstellung dass auch diese Schönheit zerstört werden brachte mich zum Weinen, in einer anderen Zeit. Dein Haar, deine Haut, deine Retina, die meinen Schatten hielt, den Schatten eines Schattens, deine Stimmbänder, diese Lyra auf der der verschlüsselte Code meines Namens von Zeit zu Zeit gespielt wurde, selbst deine zarten Knochen werden zerfallen zu Staub am letzten Ort der seichten Ewigkeit. Und dieser entmenschte Planet und die Galaxie der Sterne und Welten rollen von Leere zu Leere, endlos, im immer wiederkehrenden Schmerz der Signifikanz. Ich muss mich zusammennehmen. Ich kann nicht mehr klar denken. Konnte ich es je? At the high temple of fashion. Ich hatte sie zerstört, und mich mit ihr.

Ich wusste nicht, dass du all das aufschreiben würdest. Und jetzt, da ich es gelesen habe, überkommt mich eine tiefe verspätete Sehnsucht nach dir. Ich zittere und trinke deinen Gin, an deinem Schreibtisch, in deinem Zimmer. Im offenen Fenster die erste Nacht ohne uns. In einer Welt in der es dich nicht mehr gibt. Aber ich selbst bin in der Zwischenwelt – und werde bald auch in der sein, in der du schon bist. Die leere Welt. Wir werden uns nicht wiedersehen. So wird der Tod sein: man wacht auf als ein anderes neues Wesen und erinnert sich nicht mehr an das Leben. Das Innere des Menschen ist Dunkelheit und Tiefsee, vorzeitlich und sehnsuchtslos, ergeben dem Tod.

Ich sehe dein Gesicht im Spiegel über meinem. trompe l’oeil. Dein Handtuch auf dem Rand der Badewanne ist noch feucht. Die Zeit schleicht wie eine Raupe. Und dann ist sie mit einem Mal ein Schmetterling. Kann sein, dass ich sentimental bin, aber ich werde mich zusammenreissen. Man tötet nicht alle Tage die die man liebt. Du hast aufgehört zu schreiben am Abend deines Todes. Alles was ich jetzt noch für dich tun kann, tue ich für mich: das zu Ende schreiben, um mich dann selber zu töten. Denn das war unser Plan und unsere einzige Zukunft. Vielleicht ist auch das nur letzte Eitelkeit – immerhin, es wird die letzte sein.

Ich fuhr noch einmal nach Hause an diesem Abend, besorgte auf dem Weg einen großen Strauß Chrysanthemen. In meinem Zimmer verbrannte ich ein paar Fotos und meinen Reisepass. Ich weiss nicht warum. Dann nahm ich das Päckchen Rasierklingen aus dem Schrank im Bad und die Tabletten aus meinem Schreibtisch.
Meine Frau kam von der Arbeit nach Hause. Wir aßen zusammen. Steinpilzrisotto. Mir war fast als spürte sie dass etwas passieren würde. Aber sie redete von ganz anderen Dingen. Es war wie an tausenden vergangener Abende. Ich stellte die Blumen in ein Vase und wünschte ihr eine gute Nacht. An der Tür drehte ich mich noch einmal um. Sie schaute mich an. Ich ging zu ihr und nahm sie in die Arme. Ich war ihr in diesem Augenblick dankbar. Es hatte eine Zeit gegeben in der auch wir uns geliebt hatten.
„Was hast du vor?“ fragte sie.
„Das Übliche“, sagte ich. „Ich werde versuchen, die Weltherrschaft an mich zu reissen.“
„Na dann – bis morgen“, sagte sie und hatte sich schon umgedreht, die Zeitung in der Hand.

Ich kam zu dir in die Wohnung. Du hattest dich geschminkt und sahst phantastisch aus. Musik lief, ich glaube es war der Adagio-Satz aus Beethovens neunter Sinfonie.
„Und – hast du dich von deiner Frau verabschiedet?“
„Ja“, sagte ich, „wie immer.“
„Willst du einen Drink?“
„Ja – wie immer.“
Neben ihrem Laptop lag ein Stapel bedrucktes Papier. Das Fenster stand offen.
„Hast du die Klingen?“ fragte sie.
„Ja.“
„Und du bist dir sicher?“
„Ich war mir nie sicherer.“
„Hast du noch einmal mit ihr geschlafen?“
„Nein.“
„Willst du noch einmal mit mir schlafen?“
Und dieses letzte Mal war von einer verzerrten übersteuerten Intensität. Wir lagen noch lange nebeneinander und hörten das Rauschen des Abends.
„Gehn wir?“ sagte sie.

An unserem ersten Abend sagtest du etwas, das ich nie vergessen konnte: Niemand liebt freiwillig.
Ich werde diese Wohnung nicht lebend verlassen. Und ich habe mich noch nie in einem Raum so wahr gefühlt wie in diesem deinem letzten Zimmer mit den weißen Vorhängen, dem großen offenen Fenster, dem Lorca-Gedicht an der Wand, den Büchern auf dem Regal, Karl May, Proust und Frankenstein, den Platten und CDs, die andere Leute hören werden in einer anderen Zeit. Deine Kleider, deine Schuhe, deine Dessous, zwischen der ein Stück Lavendelseife liegt, deine Lippenstifte, dein Eau de Soir, das Foto an der Wand über dem Küchentisch, auf dem deine Mutter dich auf den Armen trägt, im Hintergrund ein schwarz gekleideter Mann mit einer runden blauen Brille. Dein Studentenausweis, dein Koffer, der immer noch neben der Tür steht, ein nicht mehr zu hebendes Gewicht. Dein Computer, auf dem ich jetzt schreibe, und jede seiner Tasten, die deine Finger berührten, auf dem du die ersten mails an mich schriebst – und dieses Manuskript, an dem ich jetzt schreibe. Vielleicht ist es nicht weiter als Gewohnheit. Ich war ein erfolgloser Schriftsteller, aber ich habe ein paar Sachen geschrieben, die dem nahe kommen, was ich zu sagen hatte. Erinnerst du dich an eine der ersten Nächte am Fluss, als du auch getrunken hast? Wir saßen auf den Treppen am Kai und tranken Gin. Rosen blühten in der Dunkelheit an der Mauer, die noch warm war vom Sommertag. Dann standen wir in der Baggerschaufel, die sie da abgestellt hatten für Leute wie uns. Dort haben wir uns zum ersten mal geküsst. Wenn man sich an etwas erinnert, erinnert man sich schon zum letzen mal daran, denn alles verändert die Erinnerung – und die Erinnerung verändert alles. Das war der Grund, weshalb du sterben wolltest: du wolltest nicht zerstört werden von deiner – und vielleicht auch meiner falschen Erinnerung. Jede Welt ist die Fälschung einer anderen, wirklicheren Welt. Du hattest den Stolz, zu gehen, für immer. Und wie Frankenstein das Schiff durch das Bullauge verlassen hat um auf der wegtreibenden Eisscholle in der Dunkelheit zu verschwinden, so bist du verschwunden. Und ich war das Schiff, das dir nach untergeht. Meine Seele, an deren Existenz ich nicht glaube, ist beruhigt. Denn ich habe das Kostbarste besessen, das ein Mensch besitzen kann. Vielleicht, wenn wir uns früher begegnet wären – aber dann wärst du zu jung gewesen, und ich immer noch zu alt. Es gibt keine Gleichzeitigkeit, weil es keine Zeit gibt. Vielleicht, wenn ich Albion gewesen wäre, vielleicht wären wir noch immer zusammen. Ich hatte immer das Gefühl, dass es eine Frau geben mussten, die nicht in meiner Zeit gelebt hatte, für dir ich gemacht war. Die Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende, die zwischen uns lagen, spielten keine Rolle. Du warst diese Frau. Ich war dieser Mann. Und es waren nur wenige Augenblicke zwischen uns.
Ich finde in deinem Schrank noch eine Flasche Gordon´s Gin, ein paar Eiswürfel im Eisfach und sogar noch etwas Tonic-water. Eine Welt, in der das was wir tun möglich ist, ist eine Welt in der ich nicht bleiben will. Stanley Kubrick lies sich die Szene entgehen, in der in der die Tote im Leichenschauhaus ihre untoten Augen plötzlich auf ihn richtet. Alle lassen sich das Beste entgehen. Entweder weil sie das Beste nicht erkennen, oder, falls sie es erkennen – nicht ertragen. Ich habe die Welt nie anders auffassen können als ein ästhetisches Phänomen. Sie war ein glitzerndes Ding das sich zu einer unhörbaren Musik um sich selbst drehte, sie war der Aufschlag eines Auges in der ewigen Finsternis, sie war ein schlafender Hai in einem Riff, sie war das Licht unter dem Flügel einer Seeschwalbe über dem indischen Ozean, sie war das Lächeln einer Sommernacht. Und keiner der Philosophen die wir kennen hat jemals auch nur die Spur der Schönheit gesehen, das Lächeln der Medusa. Wir sind hier gewesen, wir haben dieses Versprechen ernst genommen. Es wurde gebrochen. Wir sind nicht enttäuscht, im Gegenteil. Aber wir akzeptierten die Bedingungen nicht. Diese Kultur ist so stolz auf ihren Kult der Identität. Aber die ist nichts weiter als eine schöne Illusion.
Meine Brustwarzen schmerzen, als ob ich eine schwangere Frau wäre. Sie sehnen sich nach deinem Mund. Wir müssten uns gegenseitig gebären können, das wäre die einzige Lösung. Die Nächte am Fluss. Deine Stimme in der weichen Luft. Die Rosen an der warmen Mauer. Deine Finger auf meiner Haut. Der Regen. Das gläsern-zitternde Gebüsch, durch das wir gingen, der Staub unter der Brücke, der Regen auf dem schwarzen Wasser, dein Saugen an mir, deine Stille, deine Traurigkeit, die ich nicht aufheben konnte – und dann doch. Die Pharaonen und Caesaren hatten ihre Megalomanie, das Mittelalter seine Melancholie, das 18. Jahrhundert seine Schizophrenie – und uns bleibt nur noch die Paranoia.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Welt um mich herum eine längst versunkene ist. Jede Bewegung eines jeden Menschen hat sich vor endlos langer Zeit abgespielt. Was gegenwärtig zu passieren scheint ist längst vergangen. Ob etwas gestern, vor fünf Sekunden oder vor zehn Millionen Jahren war, das ist vollkommen gleichgültig. Albion, von dem du mir nie erzählt hast, hat dich geliebt – und betrogen zu einer Zeit als ich absolut nichts von deiner Existenz wusste und du nichts von meiner. So banal das klingen mag – es beschreibt einen ungeheuren Abgrund.
Die Tage deiner Kindheit in der Bergen Albaniens, sie reihten sich wie ein Dominostein an den anderen bis herauf zu diesem letzten Tag. Und einer dieser Tage ist der alles entscheidende letzte Tag.
Das Schicksal, die Götter, der Zufall – sie führen uns zueinander, oder halten uns wie Raubtiere auf immer getrennt in Käfigen äonenweit voneinander entfernt. Es gibt keine Freiheit ausser der, freiwillig zu sterben. Und ich versuche immer noch zu verstehen, warum du wolltest, dass ich dich töte. Albion hat sich umgebracht – unabhängig von dir. Er war deine große Liebe. Und es schmerzt mich, so davon erfahren zu haben. Wenn Alles vergeht ist nichts von Bedeutung. Das Hirn gaukelt Gegenwart und Dauer vor. Nichts hat Bestand ausser dem Verschwinden. Und wenn Alles verschwindet ist Alles eine einzige Farce. Das sind Dinge, die so leicht gesagt und so schwer zu empfinden sind. Selbst die Lust, die dich so mächtig durchrauschte – ich habe keine andere Frau erlebt, die die Lust so stark zu fühlen schien – selbst die Lust ließ dich an Ende kalt.
Vielleicht gehören wir, ohne es zu wissen, einer endlosen Reihe von Selbstmördern an. Und die Regel besteht darin, dass einer dem anderen schlafwandlerisch folgt, ohne dass es eine erkennbare Spur gibt. Aber du hast alles aufgeschrieben. Du hast eine Spur hinterlassen. Du hast nicht wissen können, dass ich dir nicht gleich, wie abgemacht, folgte.
Ich bin so froh, hierher gekommen zu sein, in dein Zimmer, und gelesen zu haben was du geschrieben hast. Ich sehe dich in einem anderen Licht, ich erlebe dich – und uns – noch einmal. Und es bricht mir das Herz. You slipped through my fingers. Der Nachtwind bauscht die Vorhänge. Der Gin übernimmt das Kommando. Ich werde solange schreiben bis ich nicht mehr weiter schreiben kann. Und dann werde ich die Tabletten schlucken. Aber bis dahin gehe ich alle Wege noch einmal.
Diese keimblattfeuchte amphibische Nacht. Ich ziehe deine Kleider an, ich lege deinen Lippenstift auf, ich nehme dein Parfüm. Ich liege auf deinem Bett und sehe die Schatten an der Zimmerdecke. Ich sinke wie ein Stein in den tiefsten der Brunnen. Dieses Zimmer, in dem du so lange, so kurz, warst. Ich stehe vor dem Spiegel, und wenn ich die Augen schließe sehe ich dich, mit meinen männlichen Zügen, eine der vielen Versionen von dir.

Und dann gingen mir die Zigaretten aus. Ich konzentrierte mich, um den Wohnungsschlüssel nicht zu vergessen, um mich nicht auszusperren – und ging runter, um an der Tankstelle Zigaretten zu holen. Am Nachtschalter standen zwei Primaten mit einem Hund, der sofort anfing zu bellen.
„Na – was soll´s denn sein, du Tunte?“, sagte der eine, „´ne Flasche Baileys und ´ne Packung Kondome, was?!“
Und erst jetzt merkte ich, dass ich deine Sachen anhatte. Na gut, dachte ich: da muss ich durch. Ich bezahlte die Zigaretten und wollte gehen, da schnappt der Hund nach mir. Ich reisse mich los, taumele und falle.
„Jetzt hilf der Dame doch mal wieder auf die Beine“, sagte der eine und riss den Hund zurück.
„Und was für welche – ziemlich haarig“, sagte der andere. „Solltest se mal rasieren, sieht ja Scheisse aus….“
Ich stand wieder auf. Der Typ tritt mich in den Arsch und ich liege wieder flach auf dem Boden. Die Lesbe hinter der Panzerglasscheibe telefoniert. Die Bullen waren das letzte was ich jetzt gebrauchen konnte. Ich kroch auf allen Vieren weiter, der Hund immer dicht an mir. Ich schaffte es ins Haus.

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