Liliana Ahmetis Warum ich kein Model geworden bin. Part 13

Ich lege eine deiner CDs auf: „Eyes wide shut“ und lese das Lorca-Gedicht. Ich habe irgendwo gelesen, dass sie seine Leiche wieder ausgegraben haben, um sie anständig zu bestatten. Man muss die Toten immer wieder ausgraben, nur die Toten haben so etwas wie Zukunft. Ich sperre die Tür von innen zweimal zu. Ich finde das Feuerzeug nicht mehr. Ich suche und finde es auf dem Fensterbrett neben einem Aschenbecher, in dem noch eine Kippe liegt, die du ausgedrückt hast, vor wie langer Zeit? Ich schalte den Fernseher an: Nachrichten vom Krieg in Afghanistan. Ich schalte den Ton aus. Ich habe Angst davor, einzuschlafen. Ich suche wahllos in deinem Computer herum und finde Fotos: Landschaften, Berge, vielleicht albanische, Fotos von Wolken in mondhellen Nachthimmeln, ein japanischer Kirschbaum in voller Blüte – und dann Bilder von dir als Model, am Strand, in Bikinis, von Seidentüchern umweht, von dir im Studio mit Sonnenbrille, Hüten, deine Brüste wie Granatäpfel, deine Beine wie die einer flüchtenden Impalagazelle, dann das Meer, das Meer, immer wieder das Meer. Und dann das Bild eines Mannes, der ein wenig aussieht wie der junge Leonard Cohen: Albion, nehme ich an. Ich mixe mir einen neuen Drink. Der Walzer von Schostakowitsch. Draussen wird es langsam hell. Es gibt Melodien, die immer da sind und von keiner anderen jemals überdeckt werden. Orphisch. Ich rauche und träume und trinke. Und die Welt versinkt wie etwas nie dagewesenes. Ein großartiges Schauspiel, der letzte flamboyante Sonnenuntergang. Camouflage. Zitrone und Aluminium. Quecksilber und Blei. Das buddhistische Floß. Das alles macht mich glücklich. Denn ich war am Leben mit dir. Du wolltest den Tod. Also sterbe ich.

Ich habe geschlafen, ich habe ein paar Stunden geschlafen. Ich esse ein Stück trockenes Brot, koche mir, verzeih, einen Kaffee. Und mit dem ersten Schluck kommt die Erinnerung an einen Traum: Ich sitze an einer reich gedeckten Bankett-Tafel. Es sind fast nur gutaussehende, gutgekleidete Männer am Tisch. Auf der Mitte der Tafel liegst du, Liliana, hingegossen wie die Hure Babylon. Du bist das Hauptgericht – und jeder der Männer nimmt sich seinen Teil. Ich bekomme dein Herz und esse es, noch während es schlägt.

Der Nachmittag, der Abend ist endlos. Ich liege auf deinem Bett. Ich finde eine unangebrochene Flasche Bombay Saphire im Schrank, neben einem Kästchen, in dem ein toter Käfer liegt und ein USB-stick. Als ob du gewusst hättest, dass ich in deiner Wohnung bleibe. Es ist als ob du von Zeit zu Zeit hier wärst. Ich sehe dich in der Küche, im Flur, ich sehe dich am Fenster stehen, neben mir im Bett liegen, am Schreibtisch. Dann sitze ich selber wieder am Schreibtisch und tippe in die klackende Tastatur. Die Planeten kreisen irr am Himmel. Auf dem Dach des Altersheims gegenüber pfeift eine Amsel den Walkürenritt. Ich stehe auf und ziehe mich aus. Ich sehe mich im Spiegel. Ein nackter hagerer Körper. Auf meiner Schulter dein Kopf, meine Hand auf deine Hüfte.
Ich setze mich an den Schreibtisch und schließe den Stick an: Fotos von dir und Albion, mit Selbstauslöser gemacht. Fotos von Landschaften, Straßen und Städten. Ich erkenne Istanbul und New York und immer wieder Albanien.

Ich mixe den Gin mit Kirschsaft aus deinem Kühlschrank dazu. Du treibst jetzt in der Biegung des Flusses vor dem Schlosspark. Vielleicht entdeckt dich gerade eben ein japanisches Touristenpärchen, fotografiert dich – und ruft die Polizei. Und die Maschinerie läuft an. Du bist noch immer schön. Und ich werde dich immer erkennen – in welcher der Formen du auch immer erscheinen wirst. Warum nicht in einer fallenden Feder eines Hähers, einer treibenden Wolke, einem Asteroiden? Deine Hände lagen auf meinen Schultern wie die Fühler eines Engels. Deine Stimme weht mich an. Sie war ein warmer Hauch auf meiner Haut, dein Blick ein einziges Versprechen, deine Lust so stark, dass sie mir fast die Knochen brach. Es war als ob eine Zweite in dir war, eine Süchtige, die sich nahm was sie brauchte. Du hast jede Erinnerung an eine Andere in mir ausgelöscht.

Es wird dunkel und ich werde wach. Ich nehme ein paar von den Tabletten und spüle sie mit dem Gin hinunter. Dein Telefon klingelt. Ich sehe den Hörer. Eine Schnecke ohne Haus. Als es aufhört zu klingeln reisse ich den Stecker aus dem Gerät.
Mein Leben hatte begonnen wie die Overture zu Rheingold. Alles um mich herum signalisierte mir: du bist der Aristokrat, der Poet, der Herr. Aber mit der Zeit fing ich an zu spüren, dass ich weder Sieger noch Besitzer war. Eine ungreifbare unheimliche Macht hatte sich in meinem Herzen eingenistet und zwang mich langsam, stetig und unumkehrbar in die Knie. Ich verlor mich in grandiosen Entwürfen und idiotischen Projekten. Irgendjemand, ich weiss nicht mehr wer, hat einmal geschrieben: Ich habe mich selten aus den Augen verloren. Ich habe mich angebetet, ich habe mich verabscheut – dann sind wir zusammen gealtert.
Ich war der Japaner mit der runden goldenen Brille, der an der Nordküste Sansibars auf den Stufen einer verrotteten Villa am Strand saß und in die Brandung starrte, die ihn fast wegriss; ich war das Gold seiner Brille und die Brandung. Ich war das kleine Mädchen, dem ein Fremder eine Rose schenkte; ich war die Rose und der Fremde. Ich lag in Gallipoli, Verdun und Stalingrad. Ich habe den schillernden Wahnsinn des 20. Jahrhunderts gesehen. Ich habe ihn gespürt bis in die letzte Fiber meines Körpers, ich habe ihn verstanden – und er war mir nur lästig wie ein Mosquito. Die Geschichte ist sinnlos und hat kein Ende. Aber sie war etwas, das einen Sinn und ein Ende hätte haben können, wenn es einen Gott gegeben hätte. Alles was mich interessierte waren gewisse Gefühle. Und Alles hatte mich, ohne das ich es hätte auch nur ahnen können, auf dich vorbereitet. Es hatte Einsamkeiten in den Jahren und Nächten gegeben, die ich erst jetzt verspüre, Sehnsucht – und ich wusste nicht wonach.
Ich habe mich niemandem anvertraut. Zu unheimlich war mir jedes durchaus mögliche Vertrauen. Meine Albträume reichten mir als Warnung. Es kommt mir vor als ob alle Albträume die ich je in meinem Leben hatte jetzt auf mich einstürzen. Aber sie schrecken mich nicht mehr. Zart wie Kalbfleisch ist die Blüte des Todes. Zwei Dinge beunruhigen mich allerdings: mein Hirn und mein Penis. Beide sitzen parasitär auf dem was ich bin und was ich war und sie werden bis zur letzten Sekunde ihr schauriges Spiel mit mir spielen. Und dann werden sie wandern, sich ins Anorganische zurückziehen und warten auf den nächsten Trip. Wenn das die Logik Gottes ist, dann werde ich vielleicht im Jenseits an ihn glauben. Der Prediger sagt: Drei sind mir wundersam, und vier verstehe ich nicht: des Adlers Weg am Himmel, der Schlange Weg auf dem Felsen, des Schiffes Weg mitten im Meer und des Mannes Weg beim Weibe. Tweedledum and Tweedledee. Mein Bruder kochte eines Tages Tee. Wir hatten einen schweren Hangover. Der Tee war stark, stark wie Whiskey und wir sprangen in die rotzgrüne See. Ich vermisse meine Mutter. Sie starb bevor ich geboren wurde. Ich war eine ihrer Metastasen. An einem Abend vor nicht allzulanger Zeit war ein Ausdruck auf deinem Gesicht der so sanft war wie das Auge der Ewigkeit. Wir haben die Ewigkeit auf unserer Seite, das schäumende Wasser des Wehrs, die Eleganz des landenden Schwans. Es gibt kein Bild in dem man uns finden wird. Wir werden für immer erscheinen und für immer verschwunden sein in der allersanftesten Berührung des Blütenstempels des Todes. Dein Blut auf meinen Lippen. Alle Mauern brechen, alle Dämme, alle Artenschranken lösen sich auf. Ich werde zu einem Reptil, das im Schlamm eines Flusses auf ein Hornvieh lauert, das der Durst ans Wasserloch zwingt. Und ich ziehe es unter Wasser und verschlinge es. Nichts und niemand wird uns retten. Wir verschlingen was uns verschlingt.

Die Welt war voller Gespenster. Und eines davon war meine Frau. Diese Ehe war ein Raumfrachter, der Kohle zwischen den Galaxien transportiert. Selbst die Verzweiflung, in die sie mich stürzte von Zeit zu Zeit liebte ich, wie sie. Sie hörte solche Sachen nicht gern. Aber auch das gehörte zu uns. Vielleicht war ich einer von denen, die man besser nicht gekannt hätte. Wir hatten einfach nicht die Zeit, uns zu lieben auf dieser Welt. Die Lüge kann einen erschreckend großen Raum zwischen zwei Menschen einnehmen. Und schließlich gibt es nur noch sie, die Lüge. Und nichts sonst als die Lüge.
Die Mädchen folgen längst ihren eigenen Tropoi. Sie sind mir fremd geworden, wie einem nur Menschen fremd werden können, die einem einmal nicht fremd waren. Und so war es mir mit allen gegangen. Bis ich dich traf, dich, die mir von Anfang an wie ein Idol aus einer längst untergegangenen Epoche meiner selbst vorkam. Du warst die, die mir immer – ohne dass ich es habe wissen können – gefehlt hatte. Die Melodie, die mein Leben grundierte, die, für die ich gelebt, auf die ich mich in jahrzehntelangen Meditationen vorbereitet hatte – und mit der ich jetzt sterbe.

Aber das ist alles nicht mehr wichtig jetzt. Wir haben uns tatsächlich getötet. Und die Tatsache, dass ich jetzt noch hier sitze und das aufschreibe ist nichts weiter als der Ausdruck der mir eigenen Höflichkeit, ein Aufschub, der nötig war um das alles vollständig zu begreifen, eine Gewohnheit, die ich nicht ablegen kann. Sentimentalität ist etwas anderes.

Hättest du nicht geschrieben was ich eben gelesen habe, Liliana, ich wäre schon tot. Ich war an den Kloaken von Daressalam. Ein LKW kam heran, eine Blaskapelle stieg ab, alle Musiker in wespenfarbigen Kostümen, sie spielten einen schauerlichen Marsch und die Hochzeitsgesellschaft marschierte und tanzte zur Musik entlang der Kloake, die in den indischen Ozean mündete. Ich war am heiligen Ganges und sah über dem glitzernden Wasser die schwarzen Silhouetten von Kindern, die neben einer treibenden aufgedunsenen Leiche tauchten wie Delphine. Ich sah wie ein Mann gesteinigt wurde in den Straßen von Kalkutta. Und sie, die ihn steinigten, sahen mich nicht. Ich sah die Geister über den Wassern. Ich glaube an nichts, denn alles ist nur pomp and circumstances. Ich weiss nicht mehr und nicht weniger als das was ich von Anfang wusste: there is no real pleasure in this world. Zwischen Vergessenheit und Vergessenheit ist alles was wir tun. Worauf auch immer der Geist sich kapriziert, es zerrinnt vor den Augen, verliert sich wie Rauch im Nebel. Die Lust ist das einzige Versprechen, das umso wahrer wird, je weniger es eingehalten wird. Das Leben erscheint mir jetzt, so kurz vor meinem Tod, in den unwirklichsten Farben. Ich habe in diesem Leben nichts gefunden, das größer ist als der Tod. Der Tod ist das wirkliche Leben. Nicht Gott ist tot – der Tod ist Gott.

Ich stehe vor deinem Spiegel, in deinen Kleidern. Mein Penis und mein Gedächtnis, versuchen verzweifelt zu überleben. Sie versuchen mich davon zu überzeugen, dass es besser und gut und richtig wäre, weiter zu leben. Aber ich weiss es besser, neuerdings.

Wir fuhren mit dem Taxi in eine Bar am Lützowplatz. Im Wagen legtest du deinen Kopf auf meine Schulter und wir redeten nichts, die ganze Zeit. Die Stadt war so schön im Regen, ein endloser aus dem Nichts rollender Loop in den Farben der Ewigkeit. Wir bestellten Martinis.

Es gibt eine Nacht, in der man etwas fertig bringt – und begreift, dass es andere Dinge gibt, die man nicht fertig bringen wird. Mexikanische Opale. Immaculate conception.
Dieses Lokal, in dem ich so oft mit einem Freund, der mir abhanden gekommen war, getrunken hatte, in dem ich mit Freundinnen – und einmal sogar mit meiner Frau gewesen war, schien sich nicht verändern zu wollen: auch du kanntest es. Wir hätten uns hier begegnen können. Wir hätten uns nicht erkannt. Es gab eine Zeit, in der wir uns nicht hätten begegnen können. Es war eines dieser Lokale, in dem sie schon mal das Adagio aus Gustav Mahlers fünfter Sinfonie auflegten. Nicht an diesem Abend. Wir schauten uns die Gesichter an, diese überflüssige obszöne Vielfalt, diese Verschwendung. Die Kellner drifteten vorbei wie Schatten. Das was wir tun würden in dieser Nacht warf seinen goldenen Staub über alle Dinge, Staub aus dem Innersten der Paradiese. Du nahmst meine Hand und küsstest sie. Das Lächeln auf deinen Lippen war kalt und unergründlich. Ich kann mich nicht erinnern worüber wir sprachen. Vielleicht schwiegen wir die ganze Zeit. Die Worte sind dazu da, die Gewissheit der Gefühle zu verbergen. Und dann senkte sich die Schwinge des Schweigens auch auf die anderen. Und da war ein Moment kathedralenhafter Stille. Und jeder wusste, dass wir die Abreisenden waren.

Wir fuhren durch den Regen zum Grill Royal. Ein T-bone-Steak, ein Entrecôte, eine Flasche Chateau Citran. Und ich konnte sehen, wie du dich zurücklehnen konntest, nach einem Bissen, und in deinem Blick waren alle Geheimnisse dieser Welt.
Danach gingen wir die Spree entlang Richtung Westen. In einem Biergarten hinter dem Kanzleramt tranken wir eine Flasche Sancerre. Der Abend war von einer obszönen Lauheit. Die Szenerie war gespenstisch, alles von einer kaum zu überbietenden Langsamkeit. Die wenigen Gäste trieben wie Karpfen durch ein Aquarium. Ein Gewitter zog in einiger Entfernung vorbei. Blitze zuckten im dunstigen Himmel, der Donner war kaum zu hören.
„Woran denkst du?“ fragte ich.
„An meine Mutter. In sie und aus ihr war ich in diese Welt gekommen, und das hatte ihr Leben zerstört. Ich stellte mir vor wie sie war bevor mein Vater sie geschwängert hatte. Und dann ist sie mir fremd wie ein Wesen von einem anderen Stern.“
„Und du glaubst, dass sie nicht mehr lebt?“
„Sie hätte mir ein Zeichen gegeben….“
Die Kellner wollten schließen. Wir zahlten und gingen weiter, am Fluss entlang.
„Ich habe meine wesentlichsten Empfindungen nicht ausdrücken können“, sagte ich. „Aber sie werden mir bis zum letzten Moment auf der Zunge liegen.“
„Und wenn schon“, sagte sie.
„…das Unaussprechliche“, sagte ich.
Und sie sagte: „Wir sind fremd – und unsere Fremdheit ist uns das Vertrauteste was wir hatten auf dieser Welt.“
„Aber du bist mir nicht fremd“, sagte ich.“ Es kommt mir vor als ob wir uns wiedergesehen haben, nach Jahrtausenden in denen wir uns längst vergessen hatten. Aus verschiedenen Zeitaltern kamen wir in dieser unwirklichen Zeit zusammen, wie Leute die sich auf Flughäfen begegnen, auf denen Maschinen aus diversen Epochen landen und starten in andere Zeitalter.“
„Niemand erinnert sich an das was niemals war – und das ist das Meiste“, sagte sie.
„Weisst du was das Schönste an dir ist?“
Sie sagte: „Nein“
„Das feine Kräuseln an deiner Nasenwurzel, wenn du etwas sagst, das dir selber gefällt.“
Sie sagte: „Und weisst du was mir an dir am besten gefällt? Dass du immer genau zu wissen scheinst, was du sagen willst.“
„Stell dir vor wir würden uns entschließen, zusammen zu leben“, sagte ich, „weg zu gehen, nach Marokko, nach Vietnam, Australien, wohin auch immer, ein neues Leben….“
Sie sagte: „Aber noch köstlicher ist es, von dir getötet zu werden. Nur dafür habe ich gelebt.“
Sie zündete eine Zigarette an und gab sie mir. Dann hob sie den Kopf und atmete die Nachtluft ein. Ich hätte an ihren Hals springen können wie ein Vampir und sie austrinken wollen wie eine Auster.
„Spürst du“, fragte sie, „wie die Welt, jetzt wo wir sie verlassen, um uns winselt und bettelt wie ein gekränktes altes Weib um ihre Jugend?“
Ich sagte: „Ja“

Wir gingen am Fluss entlang. Die Nacht war hell, ohne dass einer der tausend Monde zu sehen war. Unter einer Brücke blieben wir. Ich pisste in das Kraut am Ufer. Du kamst zu mir und nahmst meinen Penis in den Mund. Und einen Moment lang hatte ich das Gefühl, dass die Lust uns umstimmen könnte. Auf einem Gebäude der technischen Universität leuchtet ein illuminierter Radarball wie der Mond. Arm in Arm gingen wir weiter am Fluss entlang. Ein Containment aus keimblattfeuchter Illusion schwebte herab und versiegelte uns gegen die Welt.
„Mich wundert, dass der Trick der Lust solange wirkt“, sagte ich.
Du sagtest: „Die Lust ist der Trick.“
„Über den Tod hinaus….“
Du sagtest: „Der Tod interessiert mich nicht – ich will sterben.“
„Der Tod interessiert mich nicht – ich will sterben.“
Du sagtest „ Es gibt eine Stelle, vor dem Kraftwerk. Wir liegen da auf dem warmen Stein des Kais am Fluss. Der Fluss fliest langsam an uns vorbei mit der Fließgeschwindigkeit meiner Aorta. Der Moment in dem du mich anschneiden wirst ist der Anfang der anderen Zeit. Ich habe uns da im Traum gesehen.“
„Der anderen Zeit.“
Sie blieb stehen und witterte die Nachtluft wie eine Wölfin. Ich spürte ihre wilde ungläubige, grausame Art. Und in mir brachen alle Systeme zusammen und ich verfiel ihr wie ein Gott seinen Gläubigen.
Drüben am anderen Ufer flackerte ein Feuer unter der Brücke, monströse Schatten an der Mauer. Dann war da eine Musik in mir. Ich fing an sie zu summen. Ich hatte sie erfasst, sie wie eine Fledermaus, mit der Hand aus der Luft gefangen, verschlang sie und sang sie. Wir umarmten uns, tanzten. Meine Stimme löste sich ab von mir wie die Haut einer Schlange. Der Takt, eine Schrift in der Luft, die mir auf die Lippen herabrieselte. Liliana zitterte.
„Dort ist die Brücke“, sagte ich und schraubte meine silberne Taschenflasche auf. Der Duft des Gins stark und unwiderstehlich. Der Gin wanderte ein paar Mal zwischen unseren Lippen hin und her. Dann saugte sie ihn aus mir.
Die Brücke spannte sich über den treibenden Fluss, ein einziger Muskel.
„Der Bogen einer Brücke schläft nie“, sagtest du.
Wir sahen das schwarze Wasser. Wir fühlten den warmen Hauch über dem Fluss. Aufblitzendes Lachen drüben in der Dunkelheit. Das Schlagen der Flügel eines Nachtvogels in der Luft. In einer Arena taumelte ein Stier. Oben im Gestänge der Brücke ein im Wind schaukelndes Schild, ein rotes Dreieck auf weißem Grund.
„Sie verlassen sich auf ihre Zeichen“, sagte ich.
Sie sagte: „Und ich verlass mich auf dich.“
Dein Gesicht an meinem. Dein Atem in mir.
Wir kamen an die Stelle und setzten uns auf die Kaimauer. Hinter uns das Kraftwerk. Über uns die treibenden weissen Wolken. In uns der süße Tod. Du legtest dich auf den Rücken, parallel zum Fluss.
„Jetzt“, es klang wie Immer.
Ich nahm die Rasierklinge aus der Innentasche meines Jacketts und schälte sie aus aus dem hauchdünnen Papier. Dein weißer Arm hing über dem Schwarz des Wassers. Ich hob ihn an meine Lippen, dein Handgelenk. Ich küsste die heilige Stelle der Selbstmörder, die blau ist wieder Himmel und zerbrechlich wie die Freiheit, setzte die Klinge an, und schnitt tief in deine Ader. Und tief war dein Atem, tiefer als die Welt.

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