Sie standen bis halb zum Ostbahnhof, draußen in der Nacht zum Einlaß; links von dem die andere Tür. Schon wartete der Profi. Uns empfing die surreale Maschinenhalle, heute ein Club… „der Club“, bemerkte der Profi, „seit das mal irgendwo stand“ – noch war er skeptisch, „die kommen nur, weil es in ist, und warten drauf, daß sie nach dem Konzert abtanzen können.“ Er war nicht ohne Abfälligkeit und um so platter nachher. „Nein“, erwiderte ich, „die kommen tatsächlich zu dem Konzert.“
Das clubcharacteristisch später anfing, viel später, als angegeben: wer da um neun schon da ist, darf eine Stunde draußen warten. Was viel viel hermacht, wenn da so die geschlängelte Menschentraube wächst und wächst, bis sie von >>>> Canisius‘ verblüffenden und oft mitreißenden Klangcollagen umspült wird, in die sie dann tauchen: sog. Klassik, jedenfalls E-Musik, die der Mann elektronisch auseinandernimmt, zueinanderstellt, ineinander überlagert, unten drunter teils fremd-, teils neurhythmisiert; alleine das lohnt schon. So daß ich mir einen reinen Canisius-Abend wünschte, eine Canisius-Nacht, in der wir abheben könnten im Verlaß auf musikalische Intelligenz: Ja, auch danach läßt sich‘s tanzen!
Es wurde voller und voller, siebenhundert schließlich, vielleicht achthundert Leute, eng aneinandergedrängt, durcheinander, langsam, drängend, – zur Bar so durchzukommen, daß man auch etwas erhält, ist von lethargischer Geduld bordürt. Aber das ist ganz egal. Videoprojektionen folgen der Bewegung der Musik, „a bisserl kitschig“, wie der Freund befand, „sogar ganz gräßlich kitschig.“ Da dann der Moderator – ein bißchen inside, ein bißchen Dieter Thomas Heck, wie in den Siebzigern, so retro, doch modern, denn es geht nicht um Schlager, nur der Conférence-Ton ist so flott mit seiner frechen Lippe. Glänzend steht, eine Verheißung, der große Steinway auf dem Podest unter den Projektionen. Handgemacht die Kameraführung schließlich, eine offene Technologie übers Mischpult, das Aimards Gesicht und Hände, und die Klaviatur, hinauf nach oben projeziert, so kann ein jeder sehen. Manche haben sich nah dem Podest auf dem Boden einen Sitzplatz ergattert und harrten da schon einiges aus.
Auftritt Aimard: halb bescheiden, halb gerührt, ein in sich Gekehrter, der sich extravertiert und – eine Vorlesung anfängt. Er öffnet die Ohren. „‘ören Sie ‘i e r! Wie Liszt gewirkt hat…“ Er spielt, kombiniert, Liszt und Bartók, nimmt zwei Stücke in eines zusammen, alles nur kurz, nur angespielt, schon erklärt er wieder, führt eine Paraphrasierung Liszts vor, zeigt ihre Wirkung bei Stoppel, später Liszt in Messiaen: Echo der Predigt des Heiligen Franz vor den Vögeln. „Wie Sie wissen, war Messiaen ganz verrückt mit Vögeln“, sagt Aimard so naiv, daß wir alle lachen müssen. Da merkt er‘s und lacht leise mit. Schon auf den Tasten die Finger. Wie er sie seltsam dreht, eine Kuppe dabei noch aufliegen lassend. Das ist eine Figur, denke ich, die Finger spielen Tanzen. Und sowieso: Messiaen in einem Technoclub! Daß das funktioniert… Und wie es funktioniert!
(Auch wenn in der Pause, an der Theke, eine Hübsche sagt: „Muß er so viel erzählen? Wann spielt er endlich nur?“ Dazu BRSMA: „Die Leute sind‘s halt nicht gewöhnt, Musik auch über den Geist zu erfassen, als intellektuelles Vergnügen. Sie wollen unmittelbare Empfindung.“
Aber stimmt das denn? Und unterscheidet sich das vom Publikum, tatsächlich, eines normalen Konzertsaals? Nein, ganz sicher nicht. Man ist offener eher, hört dem erstmal Fremden zu, und es stört nicht, gar nicht, wenn irgendwo mal eine Flasche umkippt und durch die Füße kollert; auch nicht, daß an der Theke Leute, die im Saal keinen Platz finden konnten, de facto nicht, sich weiter unterhalten: im Gegenteil, das zieht die Musik aus ihrem bürgerlichen und für Liszt – wie so viele andere, die man zu „Klassik“ eingefroren hat – unberechtigt Musealen ins Leben unsrer Wirklichkeit zurück. Das ist einfach wunderbar.)
Halbe Stunde Pause, wir gehen in den Raucherraum. Der Profi nörgelt, daß es hier stinkt, raucht aber selbst. BRSMA und ich inhalieren aus Cigarillos und sehen uns die Frauen an; der Profi auch, aber weniger offensichtlich. Augenweiden. Auch das ist schöner als in jedem Konzertsaal, geschweige in den Foyers. Locker, doch dringlich, drängen Canisius‘ Klangwolken durchs Berghain. Man hat Ausblicke, Hinunterblicke, Hochblicke: seltsame Gründerzeitarchitektur an farbig spiegelndem Schwermetall, ganz unten steht ein – kleiner – Flügel als Artefakt aus Hänger und Flügel, violett. Netzmetallene Treppen, auch hinauf, Emporen, Übergänge, dunkle, düsterste Ecken, Geländer. Die Farbspiele heben daran das Konkrete des industriellen Nutzbaues auf. Schon hörn wir wieder Heck.
Der zweite Teil des nächtlichen Abends. „Isch ‘abbe zu viel geredet, ‘at man mir gesagt. Entschuldigen Sie. Jetzt ‘ören Sie fast nur Musik.“ Mit den Années de pèlerinage hört er auf , Lallée d’Obermann, einem der berühmtesten Stücke daraus: „Da ist er ganz menschlisch, ganz melancholisch und langsam, langsam wird es ‘hell und eine grósse Vechklärung!“ Dunkel, kondukthaft beginnt das und schwingt sich das auf, und immer stiller wird es im Saal und nachher – der Jubel.
Ganz bescheiden gibt Pierre-Laurent Aimard ein Stück des großen >>>> György Konráds als Zugabe, das „Pantomine“ heißt und mit dem Klavier nur stumm spielt – bis auf einen einzigen, den letzten nämlich, Ton eines gedachten Stücks. Es dürfte bis heute höchst selten gespielt worden sein.
Unter Wogen des Applauses geht Aimard nach hinten ab, und Canisius legt wieder auf: ein anfangs nicht kenntlicher Bach, durchgejazzt wie von Loussier, aber plötzlich Brandenburger Konzert, Nr. 3, glaube ich zu erkennen, ist aber unversehens eine Partita, dann schon eines der für Klavier transponierten Cembalokonzerte, das Canisius lustvoll, abermals, dekonstruiert und neu zusammensetzt.
Wenn alle Konzerte so wären, wir würden süchtig werden.
*******
yellow lounge mit Pierre-Laurent Aimard.
THE LISZT PROJECT
live-act: Pierre-Laurent Aimard (klavier)
djs: Canisius & Clé (Märtini Brös, Poker Flat)
vj: safy sniper.
>>>> Berghain, Am Wriezener Bahnhof 10243,
Berlin-Friedrichshain.
Ganz bescheiden gibt Pierre-Laurent Aimard ein Stück des großen >>>> György Konráds als Zugabe, das „Pantomine“ heißt und mit dem Klavier nur stumm spielt – bis auf einen einzigen, den letzten nämlich, Ton eines gedachten Stücks. Es dürfte bis heute höchst selten gespielt worden sein.
Unter Wogen des Applauses geht Aimard nach hinten ab, und Canisius legt wieder auf: ein anfangs nicht kenntlicher Bach, durchgejazzt wie von Loussier, aber plötzlich Brandenburger Konzert, Nr. 3, glaube ich zu erkennen, ist aber unversehens eine Partita, dann schon eines der für Klavier transponierten Cembalokonzerte, das Canisius lustvoll, abermals, dekonstruiert und neu zusammensetzt.
Wenn alle Konzerte so wären, wir würden süchtig werden.
yellow lounge mit Pierre-Laurent Aimard.
THE LISZT PROJECT
live-act: Pierre-Laurent Aimard (klavier)
djs: Canisius & Clé (Märtini Brös, Poker Flat)
vj: safy sniper.
>>>> Berghain, Am Wriezener Bahnhof 10243,
Berlin-Friedrichshain.
ANH und die Yellow Lounge >>>> empfehlen.
CD 0028947794394
Deutsche Grammophon
Huh, eine Lovestory! Herbst verliebt sich in eine Clubnacht? Wer hätte das für möglich gehalten …