Das Böhmerjournal des Montags, dem 5. Dezember 2011. Mit einer Erinnerung an Mutter & Tochter und einer kleinen Bemerkung zu In Time, sowie zum Rausch der Organik, Tintoretto dabei. Dann noch, zur frühen Nacht, der Nikolaus.

Daß es mir einmal, vor fast ganz kurzem, gelungen wäre, einen weiteren meiner erotisch „klassischen“ Männerträume real zu erleben, zugleich mit einer Tochter und ihrer Mutter… nun ja, es „zu schlafen“ zu nennen, wäre hier besonders bizarr… zumal beide, wirklich beide, so wahrhaft devot waren, daß ich erneut an Muster dachte und daß, wer sie erkenne, sie leiten könne, indem er ihnen folge allein instinktiv –


Unaufhörlich zerkauen
Pilze die Streuschichten des Waldes, unaufhörlich
senden Druck, Pegel, Schlag ihre Daten, scheuert
Haut über Knochenkanten, fahren Lippen
über Schimmelfelder, lassen Schicksen
sich ritzen – Straß blitzt, Pailetten glitzern, Gewächse
räkeln sich auf Blusen, Keimlinge ranken an Hosen hoch -,
offenbaren zyklische Vulven, um
Felsspalten herum gezeichnet, wie
es in die Welt hineingeht und wieder hinaus (…)

>>>> Paulus Böhmer, Sechster Kaddish



Dazu eine Paralellstelle in meinen >>>> Elegien:Sekrete, die tiefseits der Labien rötlich erzucken. Der nässende Glanz. Zieh sie ein wenig heraus, streiche sie je zu den Schen­keln. Das ist das All. So geht’s hinein. So heraus geht es wieder.

Das ist wirklich erstaunlich. Wie ich dann dachte, gestern, als ich mit meinem Jungen noch eine Folge >>>> Primeval sah, ob es wohl Ballungen gebe in der Zeit – Momente, in denen an vielen Orten zugleich die gleichen oder gar selben Phänomene sich in die Wirklichkeit drängten: in ihre Realisierung, heißt das.
Vorher waren wir im Kino gewesen, er, seine Mama und ich: >>>> In Time. Eine aus mehrfachen Gründen perfekte Erzählidee, jedoch vom actionism völlig zerschossen; wo hätte Poesie sein können, wie sie in Bonny & Clyde war, woran ich manchmal dachte, hier eine von ihrer Hohlheit allein bedeutungsschwere Leere; dabei… die Idee… sie ist wirklich gut. Man kann sie konkret als, gibt es das?, Umsymbolisierung von Geld verstehen und den Film dann konkret und marxistisch begreifen, man kann sie aber auch ontologisch nehmen und käme so tief in die Menschen hinein; und sogar hier wird ein Muster erzählt, aber es hängt gegen Ende aus dem Erzählgewebe heraus wie ein loser, schlampig vergessener Faden, an dem man nun nur ziehen muß, schon ribbelt der Pullover ganz auf, der dieser billige Film ist. Da haben wir viel Geld noch nicht einmal verschenkt, sondern in die Tonne geworfen. Unterdessen ist‘s ja fast teurer, ins Kino als in die Oper zu gehen; für mich sowieso.

Seit fünf Uhr auf, um eins das Licht ausgemacht; mein Junge hat heute schulfrei eines Fortbildungstags seiner Lehrerschaft:innen wegen. Also schläft er hier, jetzt noch, klar, auf seinem Vulkanlager. Ich habe Böhmer gelesen bis eben und will gleich auch weiterlesen, bis, sagen wir, zehn Uhr; dann werd ich mit >>>> dem Vortrag beginnen. Da ich noch nicht so viel gelesen und wiedergelesen habe, wie ich wollte, werd ich‘s s o halten: täglich mit der Lektüre beginnen, dann schreiben, dann wieder Lektüre, zumindest bis beide KaddishBücher ‚durch‘sind, heute um 14 Uhr noch – ich schreib das jetzt nur für >>>> Die Welt – von meiner Fußpflegerin unterbrochen. Zum Thema des vorgeblich Pornografischen in Böhmers Versen wurde mir überm Lesen klar, daß ich seine Organik, die das nämlich eigentlich ist, deshalb derart gut verstehe, weil jeder, der intensiv mit BDSM in Kontakt kommt, das Körperliche, also betont Organische, deutlicher erlebt als jemand, der sich nicht in die Distanz des Beobachtens hineinbegibt. So auch lassen sich Pornos betrachten, insbesondere bei „Spielen“ von submissiv und dominant – sofern das ausgereizt wird. Was ich in den Elegien „ eines Memento mori Haut Goût“ nenne, „der im Geschlecht lüsterner Mädchen empfängnisbereitet dem Tod für den Tanz die Hand und den Schoß reicht“, steigt nirgendwo sonst derart ins wirkliche, d.h. konkrete Erleben: eine (süchtig machende, wenn man drauf ist) Mischung aus Gier & Ekel, die keinerlei Sublimation mehr ermöglicht, sondern immer weiß, wie sie beißt und leckt, schlürft und sich suhlt in genau jenen Prozessen, die Leben entstehen lassen – ob es nun entsteht oder nicht. Nichts anderes als das ist das Radikale daran, reiß mir die Form ab!, und es b r a u c h t eine führende Hand, sei sie weiblich oder männlich, damit sich die Besessenen nachher, ist der Rausch vorüber, wieder zusammenfügen können in ihre nötige Autonomie. Daher die Notwendigkeit, auch, daß einer sich strikt distanziert hält – jedenfalls bis zur Explosion, nach der jeder, wenigstens Männer, wieder zum Kind wird, das sich einrollt und so in den Arm nehmen läßt. Ich kenne, nebenbei bemerkt, einige sexuell Dominante, die es zu wirklichen Explosionen deshalb besser nicht kommen lassen; sie fürchten um Akzeptanzverlust: was freilich Unfug ist, ist Dominanz nicht nur gespielt und weiß man ihr zu vertrauen. Toll übrigens d a s:

Kaddish
den Selbstgesprächen, der Absentia, dem Wahn,
der Erderwärmung, dem Mangel an Weibchen, den Hautflechten
wie Rosinen und Tintorettos Bildern,
der Antwort auf die Arroganz Gottes.

Böhmer, ebenda.


Tintorettos Bilder als Antwort auf die Arroganz Gottes. Wahnsinn.

: 7.55 Uhr.
Die Löwin anrufen, dann Der siebte Kaddish. Wie vieles in einem einzigen Leben zusammengeht und -gehört!

17.45 Uhr:
Ich fange jetzt an, den Vortrag niederzuschreiben. Zwischendurch kam noch von >>>> Robert HP Platz Post an, die für sein Drittes Streichquartett ein Gedicht in Auftrag gibt. Das wäre dann unsere sechste Zusammenarbeit. Ich freu mich drüber sehr, hoffe nur, daß der Text nicht holterdipolter drübensein muß. Die Latte liege, schreibt er mir, natürlich hoch: nämlich ist das Vorbild, um das man bei so etwas gar nicht herumkommt, Schönbergs herrliches zweites Quartett von 1907/08, dessen dritter und vierter Satz je auf ein Gedicht von Stefan George geschrieben wurden; eines davon ist dieses:

Tief ist die trauer, die mich umdüstert,
Ein tret ich wieder, Herr! in dein haus…

Lang war die reise, matt sind die glieder,
Leer sind die schreine, voll nur die qual.

Durstende zunge darbt nach dem weine.
Hart war gestritten, starr ist mein arm.

Gönne die ruhe schwankenden schritten,
Hungrigem gaume bröckle dein brot!

Schwach ist mein atem rufend dem traume,
Hohl sind die hände, fiebernd der mund.

Leih deine kühle, lösche die brände,
Tilge das hoffen, sende das licht!

Gluten im herzen lodern noch offen,
Innerst im grunde wacht noch ein schrei…

Töte das sehnen, schliesse die wunde!
Nimm mir die liebe, gib mir dein glück!
(Stefan George, Litanei)

Übrigens hat mich >>>> Vergil angerufen: er sei wieder im Land und würde gerne, von Zeit zu Zeit, erneut in Der Dschungel schreiben. Sinnigerweise erreichte er mich übers Mobilchen, als ich bei meiner schönen Fußpflegerin auf dem Stuhl saß. Das hab ich ihm aber nicht gesagt; es reicht, wenn er es später hier lesen wird.
Mein Junge wird gleich wieder hiersein: übermorgen Mathearbeit. Und heute heute nacht, wenn alle Kinder drüben schlafen werden, radle auch ich hinüber, um mit ihrer Mama die Nikoläuse auszulegen…

22.47 Uhr:
Bis eben Am Terrarium gewesen und dem Nikolaus zugeschaut, wie sorgsam er bescherte:

Nachdem der Anruf kam, die Kinder schliefen jetzt, machte ich mich gleich auf, schwang mich aufs Rad, einiges Süßwerk bei mir und es vorsichtig während der Fahrt balancierend, damit nichts zerbrach.
Selbstverständlich bekam mein Junge meine Anwesenheit geradezu sofort mit; dabei hatte ich extra nicht geklingelt, sondern im Ifönchen bescheidgegeben, ich stünde bereits vor der Tür. Mit vor Schuldbewußtsein, das doch die Neugier trieb, zugekniffenen Augen passierte er den Wohnzimmertisch gen Toilette. Passierte so auch wieder zurück. „Papa, was machst D u hier?“ Saulümmel. (Mir lag auf der Zunge, ihm zu antworten: es gehe ihn das gar nichts an, wenn seine Mama und ich uns träfen zu so später Stunde. Doch verschluckt ich’s.)
Als alles gerichtet war, nahm ich die Tüte Sternenstaubs und streute ihn, der Spur des Nikolaus‘ folgend, die Treppen hinab bis zum Hauseingang und von dort noch einmal hinauf. Alles wird nun glitzern morgen früh, wenn meine Kinder ihre Wege beginnen: die Zwillingslein zur Kita, mein Großer zum Gymnasium. Aber nicht ich werde es sehen. Nur sie und ihre Mama. Ich werde in der Zeit an meinem Vortrag weiterarbeiten, hier am Schreibtisch, dann, wenn es die Zeit ist, aufsehen, zweimal, einmal um zwanzig vor acht, einmal um halb neun, und es mir vorstellen, wie groß die Augen der Kleinen da sind und wie bereits bei ihrem Bruder ironisch.

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