3 thoughts on “Vierundzwanzig.

  1. Das Ananga Ranga und Der duftende Garten.

    Wahllosigkeit gehörte sei je zu meinen Leseprinzipien. Dem Bücherfresser, der ich einmal war, ist es egal gewesen, ob das, was er in sich hineinschlang, für hoch- oder minderwertig galt, und manches habe ich gegen andere Meinungen mit guten Gründen höher gehalten und halte es so heute noch, das öffentlich oder jeweils in den Szenen verfemt war, deren eine der Betrieb ist. Dazu gehört ganz sicher einige Science Fiction, dazu gehört die Phantastische Literatur sowieso, der ich mich wenig später zuwenden sollte. Und dazu gehört einige verschrieene Pornographie.
    Doch noch bin ich fünfzehn und schreibe meinen ersten Roman. Mit meiner ersten Schreibmaschine. Auf 80gr-Papier mit zweifach Kohlepapier dazwischen, darunter je 30gr-Bögen. Man fotokopierte damals im allgemeinen noch nicht. Noch wurde lichtgepaust, was eigene Apparaturen und, wegen des Ammoniaks, eine unempfindliche Nase verlangte. Auch ungefährlich war das nicht.
    Ich schwänzte die Schule, ging zwar hin, schloß mich aber im Redaktionszimmer der Schülerzeitung ein und schrieb weiter an dem Roman. Ich h a b e ihn noch, bitte, hier:

    JUDEX hieß er und stieß in einem unablässigen Schreibrausch auf über 300 engst und fast ohne Rand beschriebenen Seiten alle Sehnsüchte nach Liebe, Abenteuer, Freiheit und Kunst hinaus, die in mir rumorten. Und als der Held seiner Lebensfrau begegnet,

    machte ich eine Zeichnung von ihr, die Jahrzehnte später noch einmal besondere Erwähnung findet, in >>>> MEERE nämlich, meinem so entsetzlich umstrittenen Liebes-, Obsessions- und Künstlerbuch, das für mich nach wie vor einer meiner besten, vor allem aber schönsten Romane ist.
    Das alte, dieses erste Buch hingegen ist ein Musikerbuch, auf einer Ebene; auf der anderen eines um den Kampf um Gut und Böse, ganz altersgemäß. Der erste Teil spielt teils in Deutschland, teils in Polen beim deutschen Einmarsch, bei dem der Oberst >>>> Karl (!) Bols – heute würde ich ihn Deutschensohn nennen – zum Widerstandskämpfer gegen Hitler wird, und zwar direkt aus der Wehrmacht heraus. Aus deren Sicht ein Saboteur, wenn nicht Terrorist, sieht er sich selbst als Guerillero. Nach dem Krieg macht er als Violinvirtuose internationale Karriere; unter Pseudonym übrigens: Jean Moreau, der ein Nachklang Fantomas’, nämlich Jean Marais’, gewesen sein dürfte. Seine Berufung aber bleibt die befreiende Gewalt. Denn wie ein Batman jagt er Kriminelle, erst deutsche Kriegsverbrecher, dann die Mafia. Undsoweiter. In meinem in dieser Zeit parallel geführten Tagebuch endet quasi jeder Eintrag mit einem geseufzten „C., ich liebe dich“ oder „S., ich liebe dich“, wobei gleichfalls „W., ich liebe dich“ vorkam. Daß von C. bis W. keine der so Angehauchten des Hauchens je gewahr war, und wären sie‘s geworden, sie hätten diese Zumutung von sich gelacht, gehört in die Verfaßtheit eines Jungen, der ständig mit dem Selbstmord – >>>> Kirillov – flirtet, doch anders nicht, als er‘s noch kurz davor mit dem Astronautentum getan. Der Junge lebt rein in Ideen.
    Dann bricht die Sexualität durch. Er ist zu scheu, sie zu versuchen, hat bereits zu viele Körbe gekriegt, will sich nicht auch in diesem Bereich ständig demütigen lassen. Also weicht er aus. Da er Leseratte ist, nimmt er auch hierfür, erstmal, die Bücher.
    Von denen hat er eine hohe Meinung. Weshalb er abermals zuerst im Antiquariat herumforscht. Und wirklich fündig wird. Denn während die andren seines Alters schon Gehversuche mit >>>> Günter Amendts Sexfront unternehmen, stöbert dieser Junge den Privatdruck der höchst pikanten, ja perversen Memoiren einer Masochistin auf. Ich habe das Buch leider nicht mehr, denke aber, daß es sich in Wirklichkeit nicht um tatsächliche Erinnerungen, sondern um eine maskierte Fiktion gehandelt hat, die sehr wahrscheinlich von einem Mann als die einer Frau geschrieben wurden, nicht unähnlich der L‘histoire d‘O, doch weniger literarisch. Ich erinnere mich eines fast sachlichen, ja pragmatischen Stils, den man heutzutage modern nennen würde. In jedem Fall war er kalt.
    Das Buch bereitete mir schlimme Nächte, in denen ich zwischen Begehren und Abgestoßensein aus dem Onanieren gar nicht mehr rauskam. Alleine die Frage, wie die Flecken verbergen –
    Aber es trieb mich. Ich bekam zu spüren, weshalb der Trieb so heißt. Hatte dabei ein schlechtes Gewissen, weil ich die anbetungsartigen Vergötterungen, die ich meinen heimlich-nur-für-mich-Geliebten zukommen ließ, durch mich selbst verketzert fand. Weshalb ich dringend nach einer Lektüre suchte, die beides verband: gattentreue Liebe & Verehrung mit ausgelebter Sexualität. Das gab mir, oder ich glaubte, daß es mir das gebe, die indische Liebesphilosphie, und zwar zuerst, ebenfalls aus dem Antiquariat, dieses Ananga Ranga. Es vermittelte mir das Bild eines Mannes, der seiner Frau nicht untreu werden muß, wenn er nur klug auf ihre Bedürfnisse achtet und sie, eben, zwar befriedigt, aber auch befriedet. Für einen Jungen, der quasi nur von Frauen aufgezogen wurde, und zwar nach den Leitlinien nicht ihrer tatsächlichen Bedürfnisse, sondern denen ihrer weiblichen IchIdeale, war das Buch Bestätigung und ließ doch zugleich den Begehren Raum. Zudem mußte man sich nicht schmutzig fühlen, wenn man so etwas las.
    Aber der Schmutz lockte auch. Selbstverständlich.

    Da traf es sich, daß keine zwei Jahre zuvor die Sankt Pauli Nachrichten auf den Markt gekommen waren und überaus erfolgreich die Untertresen der Kioske fluteten. Dort bediente ich mich. Da ich mit fünfzehn bereits, um mir eine Haltung zu verschaffen, Anzug mit Hemd und Krawatte trug, wurde ich eigentlich nie nach dem Alter gefragt.
    Was an dem Blatt eigentlich lockte, war selbstverständlich nicht der redaktionelle Teil, der politisch links war – Henryk Broder und Stefan Aust betreuten diese Zeitung, Namen, die mir damals überhaupt nichts sagten und auch wohl noch gar nichts sagen konnten -, und es war sowieso nicht der auf proletarisch getrimmte Unterhaltungston. Der war mir sogar zuwider. Sondern es waren schlichtweg die Bilder. Ich glaube, daß ich damals meine ersten Brüste zu sehen bekam, wobei sicher Titten der treffendere Ausdruck ist. Mösen hingegen blieben auch dort, und sei es durch die erkennbare Andeutung, nämlich in Büschen Schamhaares oft, versteckt. Dergleichen war in den indischen Büchern stets nur als Zeichnung zu sehen gewesen oder als lithographiertes Aquarell; in meinen Privatdrucken hingegen gar nicht. Dazu muß man wissen, daß in meinem Zuhause der nackte Körper nicht vorkam; man zeigte ihn nicht. Das war, meiner Erinnerung nach, gar keine krampfhafte Vermeidung, sondern kam schlicht und einfach anders nicht vor.
    Dennoch geschah es in eben dieser Zeit, daß ich die sehr kleinen Brüste, aber sie hatte überaus lange Brustwarzen, meiner Mutter entblößt sah. Es war, wörtlich, ein Unfall – nämlich eines Unfalles halber. Sie hatte eine schwere elektrische Verbrennung erlitten, der Arzt war da und hörte sie ab. Zufällig betrat ich das Zimmer. Und hatte sofort Schuldgefühle. Beklommen ging ich raus. Nichts, was sexuell war, war zuhause selbstverständlich. Deshalb finde ich es interessant, daß ich die Schuldgefühle n i c h t bekam, wenn ich heimlich spitzte. Was ich bisweilen tat, wenn sich meine Mutter, im Nebenzimmer, entkleidete. Doch immer im justen Moment trat sie, als hätt sie mich gespürt, in den Schatten.
    Peinlich bekannt dagegen waren mir die exhibitonistischen Prahlereien meiner männlichen Klassen-… na ja, „kameraden“ ist absolut das falsche Wort. Jedenfalls. Klassenfahrt. Königskrug im Harz. Jährlich eine Woche. Nur unter Jungens, selbstverständlich.
    Wie IchWeißSeinenNamenNichtMehr uns die Hoden zeigte, die eher eines Bullen als eines Buben waren. Ich gehörte zu den Jungen, die große Furcht davor hatten, ein zu kleines Glied zu haben. Das trieb mich lange lange um, ja war ein derart ausgeprägter Komplex, daß ich es panisch vermied, ans Urinal zu treten, wenn da schon andre Jungens standen. Ich hatte, ließ es sich nicht umgehen, sofort Probleme, Harn zu lassen. Das spielte sich aber alles in meinem Kopf ab, denn zwar erinnere ich mich vielerart Erniedrigung durch Gleichaltrige, zu denen auch ausgedehntes, sagt man heute, Mobbing gehörte; nie aber wurde ich tatsächlich wegen meines Geschlechtsteils verhöhnt. Dennoch brauchte es Jahre, bis ich mich dimensional in einem selbstbewußten Mittelfeld einzuordnen wußte und auch noch >>>> ganz andere Kriterien hinzukamen, als es die bloße Größe ist.
    Im Primat der Größe bestätigte aber leider das Ananga Ranga alle meine Ängste, wie Der Duftende Garten gleichfalls. Ich zog einfach nicht den richtigen Schluß, nämlich daß die orientalische Präferenz für überaus füllige Frauen einen großdimensionierten Phallus aus pur mechanischen Gründen verlangt; anders würde jede Penetration zum akrobatischer Akt. Was er, wenn man den auch indischen Ratgebern folgt, aber sowieso ist – übrigens nicht aus tatsächlich circensischem Ehrgeiz, sondern um der allmählichen Ermüdung des Sexus zu wehren, unter der quasi alle währenden Paarbeziehungen leiden, und zwar offensichtlich in jeder Kultur und in einer jeden Zeit.
    Überhaupt: Distanzierung und Klugheit. Es ist reichlich absurd, daß mich meine erotischen Lektüren vorbereiteten, ich las sie tatsächlich wie Lehrwerke, um, wenn es denn einst soweit sei, schon ausgebildet worden zu sein. Naivetät im Sexuellen war mir so völlig fremd wie sie mir in allem sonstigen eignete, das mit den großen Gefühlen von Liebe zu tun hat. Irgend etwas hat mich damals beginnen lassen, die Bereiche voneinander zu trennen – ein Erleben, das bis in mein Erwachsenenleben fortgewirkt hat, wenn auch zunehmend weniger radikal.
    Was aber faktisch in meinen jungen Jahren bei alledem herauskam, entwicklungsfaktisch, war, daß ich tatsächlich, für meine Generation extrem spät, erstmals mit vierundzwanzig kopulierte. Für das, was ich da tat, was wir beiden taten, ist dieses Wort immer noch nicht kalt genug. Denn all mein da wirklich umfassendes Sexualwissen nutzte nichts; zwar kam ich, und erst nach ziemlich langer Zeit, zum Höhepunkt. Doch war der Akt katastrophal. Ich erinnere mich ungern daran, obwohl ich mir sogar die Frau wie nach dem Lehrbuch ausgesucht hatte. Sie sollte zum Beispiel – das war ein nie vergessener Ratschlag meiner pragmatischen Mutter gewesen, von der ich hätte wissen müssen, daß man ihr in sinnlichen Dingen dringend zu mißtrauen hatte – unbedingt älter sein als ich, und zwar v i e l älter, damit sie mich mit Kenntnis – so ich wörtlich, denn es war ja eine nun realisierte Vornahme gewesen – „einzuführen“. Und älter war sie nun auch; ich vierundzwanzig, sie vierunddreißig. Sie legte ein Handtuch zwischen sich und mich, weil Sperma ihr widerlich war und sie wohl auch den Schweiß nicht mochte. – Immerhin, sie war sehr schön. Ich weiß ihren Namen noch.
    Jedenfalls begleitete die erotische Kunst vor allem literarisch und filmisch fortan mein Leben, und zwar von Weichzeichner bis Pornographie. Viele geschwänzte Schulstunden verbrachte ich bereits in den Kinoketten Beate Uhses und später, als Teresa Orlowskis erste Zellen kamen, in Video-Isolationshaft, worin ich die nur wacklig abgedeckten, von dünnem Plastik ausgeschlagenen Eimer mit zähem Nachdruck übersah, bevor ich sie dann selbst benutzte, teils – unter Vermeidung von Kleenax – direkt.
    1. Ins jeweils Eigene führen die Texte dieser Serie, das webt sich zurecht mit ganz anderen Mustern natürlich, die entgegenzuhalten sinnlos wäre. Also läßt man Sich und Es so und wartet auf die nächste Folge, ohne sich deshalb der ‘wochenend’ mnemonisch zu entledigen.

    2. Die ‘wochenend’ zu Lampe. Ja, Herr Lampe, Sie haben recht. Ich habe die ‘wochenend’ aber, tatsächlich, vergessen, vielleicht, weil irgendwann die Sankt Pauli Nachrichten ihr Format angenommen haben oder sie nahm nach deren Formatwechsel deren an. Bewußt erzähle ich hier von dem, was mich prägte, und nicht von dem, was sonst noch war; was das ist, hängt stark von den Sozialitäten ab, in die man jeweils zu der Zeit gehört. So prägte mich die ‘wochenend’ wohl nicht, auch wenn selbstverständlich auch sie zu meinem Konsum gehörte. In meiner Erinnerung war sie eine Art Playboy für den, wie man sagt, einfachen Mann, während das irgendwie Sensationelle an den Sankt Pauli Nachrichten ihr Tageszeitungshaftes war – das ist nicht unähnlich der heutigen >>>> Volltext in Bezug auf, etwa, ‘Literaturen’. Man muß wohl auch sehen, daß ich – und sicher waren auch Sie es – vor allem moralisch, ich aber eben unbewußt, von der ‘sexuellen Revolution’ miterfaßt wurde. man kann heut kritikastern, wie man will, aber hier wurden tatsächlich Felsen verschoben, und es legten sich Ein- und Ausgänge in ganze Bergmassive frei. Man hat es sich angewöhnt (es ich chic geworden), die Achtundsechziger zu desavouieren; tatsächlich haben sie enorm viel bewegt und die Grundlagen für eine freiheitlichere Lebenshaltung gelegt, als sie jemals zuvor möglich gewesen ist. Mein muß kein Linker sein, um das mit Hochachtung, vor allem aber auch mit Dankbarkeit zu konstatieren.
      Es war die Zeit auch Alois Brummers und der Filmreportage Syberbergs über ihn. Es war die Zeit von “Robin Hood und seine Gespielinnen”. Es war die Zeit von Vincent Price, auf den ich noch kommen werde. Es war die Zeit der ersten Godards. Damals verschob sich bereits, ohne daß die einen, wie ich, das mitbekamen und die anderen, der Betrieb, es wahrhaben wollte, das kulturelle Leitmedium: es wurde Film. Damals begann massiv, das, mit Flusser gesprochen, Universum der technischen Bilder, das intellektuelle Denken zu besetzen; die Schriftkultur, da schon, wurde abgelöst wie bei einem Generationenwechsel, deren Sukzesseure Medien sind. Und alles das schlug sich zuerst in den kleinen Realisierungen wie den Sankt Pauli Nachrichten, wochenend und anderem durch – man kann sagen: natürlicherweise, weil Sexualität unser Seinsgrund ist und erst einmal auch bleiben wird. Wenn wir auf unsere Pubertäten schauen, bekommen wir Geschichte mehr zu spüren, und näher, viel näher, als in jeder anderen Zeit.

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