Zu Sherlock Holmes ODER Die andere Seite der Okkultivität.
Dies ist jetzt nicht mehr idealer Vater, sondern ist, wie ich selbst werden wollte: hineingemogelt in die Bücher, die Sie hierüber sehen, habe ich deshalb ihn in Vollendung, nämlich als seine filmische Erscheinung in >>>> Jeremy Brett:
Die sah ich zwar erst, als ich schon lange erwachsen war – die Serie von Granada-TV wurde 1984/85 begonnen, mittlerweile war ich dreißig -, aber sie führt bis ins Detail vor, was ich damals, mit fünfzehn/sechzehn, sah in Holmes und was ich imitierte: bis in den eleganten Stil der Kleidung. Anders als die Verfilmungen bis dato, die ich natürlich ebenfalls sah, vor allem die Serie mit Peter Cushing, der wiederum in den Filmen der Hammer Productions, die ich gleichzeitig sah, >>>> Draculas Gegenspieler van Helsing gab, wie dann der seinerseits für einen Holmes wie gemachte Christopher Lee paradoxerweise der Dracula war – dessen Bild(nis) er prägte wie kein zweiter, so daß die Leute, hat er erzählt, die Straßenseite wechselten, wenn man ihn kommen sah, – anders als diese Verfilmungen, in denen Watson immer trottelig ist, ein ganz unerträgliches Klischee, das erst der Film eingeführt hat; in den Erzählungen ist Watson, Holmes‘ Biograph, schlichtweg ein bemühter und einfühlsamer Arzt von durchschnittlicher Intelligenz, die lediglich immer wider auf die Hochbegabtheit seines Mitbewohners prallt, und auf dessen schon gar aus bürgerlicher Sicht untragbare Macken, – anders als die Verfilmungen bis dato scheute sich der viel zu früh verstorbene Brett absolut nicht, diese Macken auszustellen. Zu großen Teilen sind es die Ausfälle und Übersprünge eines Hochbegabten, eben, seine extreme Arroganz, die Neigung, von anderen vorauszusetzen, wenn nicht zu verlangen, ebenso schnell und wendig und informiert zu sein wie er selbst und vor allem: ebenso genau die Schlüsse zu ziehen; wobei er auch eine Neigung hat, Gesetze als für sich selbst nicht unbedingt bindend anzusehen, oder er läßt den überführten Dieb, nachdem er ihn freilich erst einmal deutlich gedemütigt hat, kurzerhand laufen, weil es seine Aufgabe nicht sei, die Fehler von Scotland Yard auszubügeln. Zugleich ist Holmes wehrhaft, wenn es sein muß, ein ziemlich guter Boxer, und er liebt die – klassische – Musik. Sein Zimmer, wie damals meines, befindet sich, wenn er arbeitet, in so chaotischem Zustand, daß Mrs. Hudson dauernd Schreianfälle kriegt, die sie mit ihrem Händchen erstickt. Und er ist süchtig, nicht nur nach Kokain, das er sich, muß er tatenlos bleiben, zu Watsons höchster Skepsis spritzt, nein, vor allem nach Nikotin. – Granada-TV hat hinreißend in Szene gesetzt, Der blaue Karfunkel, wie Holmes geradezu außer sich, weil er die Zigaretten nicht findet, im flatternden Nachtrock mit wirrem Haar herumrennt und kramt und fahndet und alles umstößt dabei, ohne den neuen, von solch verlorner Contenace aller Sprache beraubten Klienten auch nur zu beachten. Man muß das einfach gesehen haben, wie Brett sich dann, als er die ersten Lungenzüge tut, sammelt und, immer noch in verschlafenem Knautschaufzug, die Arroganz sich in die Züge seines männlich schönen Gesichtes zurückholt.
Dann seine Haltung gegenüber vermeintlichen Autoritäten. Ich kann nur schmunzelnd den Kopf schütteln, weil mir grad klarwird, wie viel in mir auch davon kommt. Kurz, er verhält sich denen gegenüber herablassend, wenn er gutgelaunt ist; indes bisweilen auch, mit feinem Messer freilich, geradezu beleidigend. Dabei ist er Frauen gegenüber, von denen er zugleich nichts hält, charmant. Die große Ausnahme aber, die Eine Sherlock Holmes‘, mit der die überhaupt erste aller seiner Kurzgeschichten beginnt („Für Sherlock Holmes war sie die Frau“ – so geht das los), habe ich später in den >>>> Gräfenberg-Club eingebaut. Welch nämlich souveräne Grandezza Conan Doyles, daß ausgerechnet sie, Irene Adler, den ebenso meisterhaften wie eitlen Detektiv – überlistet und diese Erzählung also mit einer Niederlage endet. Deretwegen ihr Holmes nicht etwa gram ist, er ist ja nicht klein, sondern „he used to make merry over the cleverness of women, but I have not heard him do it of late. And when he speaks of Irene Adler, or when he refers to her photograph,“ die läßt er sich nämlich von seinem Auftraggeber anstelle eines Honorares geben, wobei er obendrein dessen, eines Königs, ausgestreckte Hand den despektierend übersieht, „it is always under the honourable title of the woman.“
So wollte ich sein, als ich fünfzehn, sechzehn, siebzehn war. So wollte ich aussehen später einmal. So kleidete ich mich auch. So kultivierte ich eine gewisse Arroganz, aber erst mit siebzehn/achtzehn, nachdem meine Versagensängste in Kunstwille umgekippt waren und ich mir vorgenommen hatte, was ich einmal werden würde. Von Holmes habe ich ebenfalls gelernt, daß auch Understatement eine Form der Verlogenheit ist, und die Dinge deshalb als genau das zu bezeichnen, was sie sind, bzw. wofür ich sie halte und dabei keine Rücksicht auf die höflichen Riten der Sozialen zu nehmen. Genau damit nie hinterm Berg zu halten. Wenn‘s aber wirklich einmal sein muß, dann tut man‘s so, daß die Verachtung spürbar bleibt. Wer >>>> diese Verfilmungen sich ansieht, bekommt ein ziemlich genaues Bild meiner Idee eines nichtkorrupten und nicht korrumpierbaren Characters. Wer die Bücher liest, auch. Na sowieso.
Mein IchIdeal als eines Sherlock Holmes der Literatur führte mich dann auch zu Poe zurück, dessen Dupin eine Inspirationsquelle Conan Doyles war, wobei dieser zugleich auch Science Fiction schrieb und überdies, wie damals ich, mystische Interessen hatte. Nun ist Holmes ein Prototyp des Rationalisten, aber eben als die andere Seite einer verdrängten, doch um so intensiver wirkenden Sehnsucht nach dem Unheimlichen, die vielleicht auch ein nichtsprachliches Wissen um sie ist. >>>> Dracula und Sherlock Holmes sind Zeitgenossen, man darf das nicht vergessen, ebenso wie Holmes und die Symbolisten es sind; die Seiten sind direkt aufeinander bezogen. Deshalb haben spätere Bearbeitungen, die Holmes in mystische, magische und okkulte Geschehen verwickeln, durchaus Richtiges erspürt. In unserer jüngst vergangenen Gegenwart war der Weg zur Fantasy da nicht weit, so wenig wie von der Phantastik in die Fantasy. Von der schlägt ein riesiger, seit dem Fin de Siècle ununterbrochener Bogen in die >>>> Science Fiction zurück, die als Cyberpunk im Netzwerk des Netzes und der Computertechnologien nur das Gewand gewechselt hat. Von alledem war ich damals mehr bewegt, und bin es noch heute, als von den sozialen Fragestellungen und Emanzipationsunternehmen, die in meiner Jugend die Wirklichkeit prägten.
Noch aus einem anderen Grund eignete sich Holmes so sehr als meine Identifikationsfigur; es ist ein sexueller und teilt sich in zwei Aspekte. Zum einen zeigt der Mann den Frauen nur die kalte Schulter, er wird von ihnen gar nicht erreicht. Darin ist er völlig anders, als ich war, der permanent unglücklich verliebt war und unerhört, das ist hier das treffende Wort, dauerschmachtete, was ich allerdings in eine damals schon rasende Produktion sublimierte: ganze Hefte schrieb ich in alleine einer Woche voll, und mein>>> für einen Fünfzehnjährigen riesiger Roman wurde darum fertig, vielleicht n u r darum, wobei ich über die frühen Gedichte, die ich außerdem schrieb, das teppichstarke Tuchsortiment meines selbstnachsichtigen Schweigens lege. Holmes bewies einfach, daß es auch ohne Frauen ging, selbst dann, wenn man feinsinnig wie er ist, Geige spielt und mit geschlossenen Augen in Konzerten sitzt (er hat noch Sarasate erlebt); zum anderen wäre er imgrunde prädestiniert für Homosexualität gewesen, hätte es, eben, Irene Adler nicht gegeben. Schaun Sie sich nur das an:
(Diese Szene – wie viele andere Einstellungen der Serie – stellt en detail die Zeichnungen nach, die Sidney Paget seinerzeit zu den Erstveröffentlichungen der Erzählungen im Strand Magazin angefertigt hat. Sie wurden für die Figur stilbildend.)
Tatsächlich ist Holmes weder >>>> Karl May noch Pierre Briece, was mir eine innere Sicherheit wird gegeben haben, da mein Bruder und ich – damals er, der Weißblonde, weit mehr noch als ich – eine so starke Anziehungskraft auf Homosexuelle ausübten, daß keine drei Tage vergingen, ohne daß einem liebevoll lockend durchs Haar gefahren wurde. Anders als meinem Bruder ist mir das nicht unangenehm gewesen, denn es berührte mich schlichtweg nicht. Ich konnte aber nur deshalb derart locker bleiben – soweit das ein Wort ist, das sich auf einen wie damals mich überhaupt anwenden läßt -, weil ich die holmes‘sche Attitüde der Unberührbarkeit mir angeeignet hatte.
Nun ist freilich, heutzutage, nach dem Dracula auch Sherlock Holmes zum Lehrstück in Sachen Kapitalismus geworden. Die neuen Verfilmungen, sie laufen derzeit im Kino, machen ihn äuivalent, oder versuchen es doch, indem sie ihm, was immer ambivalent an ihm war, wegsubtrahieren. Man macht jetzt Pop aus ihm. Nun hat er Frauen zuhauf im Bett und prügelt sich nach Actionmanier, jetzt ist da gar kein Geheimnis mehr, nur Oberfläche; auch noch zur Boy Group wird man ihn eignen. Spätestens dann, wenn das durchgesetzt ist, werden die Erzählungen Conan Doyles, die Jeremy Brett nicht nur verwahrte, sondern auch perfektionierte – zum Teil mit einem Witz, den nur Kenner begreifen (etwa hängt in Granada-TVs Baker Street 221b überm Kamin ein Bild der Reichenbachfälle, in denen Holmes vermeintlich umkommen wird) – – – vergessen sein. Man wird ihn für einen Womanizer halten, der dann auch für jeden Konsum sich zu spreizen bereit ist – unter Absehung von jeglicher Distanz, die für diesen Mann so wesentlich ist wie die Frage, wie es erotisch denn vielleicht doch um ihn bestellt gewesen sei. Was John H. Watson. M.D., zu voller Diskretion von ihm bis heute abzuschirmen wußte.
„Sie können die Sache in unser Archiv ablegen, Watson. Eines Tages mag dann die wahre Geschichte erzählt werden.“ Der Farbenhändler im Ruhestand.
Kennen Sie die TV-Mini-Serie mit dem großartigen Benedict Cumberbatch als Holmes? Ich sah sie vor anderthalb Jahren in England. Skeptisch, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass das gelingen könnte: Sherlock Holmes in die Gegenwart zu transferieren. Ich schrieb damals: „Cumberbatch hat genau die richtige Schärfe, Unnahbarkeit, Energie und den Mangel an Benehmen und Soziabilität, die die Figur ausmachen…Auch Martin Freeman als Watson überzeugt, viel mehr als die naiven Idioten, die in zahlreichen Vorgängeradaptionen Holmes zur Seite gestellt wurden. Dieser Watson, ein Veteran aus dem Afghanistan-Krieg, wird sein Kriegstrauma nicht los, wie seine Therapeutin vorschlägt, indem er sich Stress vom Hals hält. Holmes erkennt dagegen schnell: Watson braucht die Gefahr, wie er, Holmes, das Verbrechen. Daher ist Watson sein idealer Partner. In dieser ersten Folge wird der Zuschauer Zeuge des Beginns einer wunderbaren Freundschaft: ´a mixture of frustration, admiration and genuine affection.´(The Guardian).“
(Die Hollywood-Version fürs Kino von Guy Ritchie, auf die sich Ihre Verachtung wohl bezieht, verdient diese vielleicht. Es ist eben pures Popcorn-Kino. – Allerdings stimmt eines nicht: Robert Downey jr.s Holmes kriegt keine Frauen ins Bett. Er ist eher ein bisschen schwul oder queer. Als ´Womanizer´ geht er allerhöchstens wegen seiner dunklen Augen durch, die er verlangend jedoch immer nur auf Jude Law/Watson richtet.)
Obwohl (oder weil?) Sie es n i c h t erwähnen – viele Ihrer Lektüren erzählen auch von erotisch grundierten Männerfreundschaften (was ja n i c h t gleichbedeutend mit Homosexualität ist). Und ich stelle das beinahe erschüttert fest, weil ich viele dieser Bücher auch mit viel größerer Begeisterung gelesen habe, als die Schilderungen von Internatsmädchenfreundschaften. Die erotische Anziehung durch das eigene Geschlechts als Grundlage der Freundschaft – das findet sich selten in den Erzählungen von und über Frauen. Für mich, offenbar, war das aber wichtig. Ist es.
@Melusine zu Cumberbatch. Selbstverständlich sah ich das. Die Idee ist pfiffig wie klug. Aber der Schauspieler ist entscheidend zu jung, er wirkt schlichtweg altklug – so, wie wahrscheinlich ich selbst seinerzeit gewirkt habe. Ihm fehlt notwendigerweise, des Alters wegen, die Tiefe, die Jeremy Brett dem Sherlock Holmes zudem gegeben hat. Brett erkrankt während der Serien, tatsächlich er, und man sieht mit an, wie er sich darüber körperlich verändert. Das hat etwas Unheimliches. Er starb auch sehr früh. Selbst das ist in den letzten Folgen schon zu ahnen.
Cumberbatch fehlt zudem die Eleganz, bei ihm ist Holmes‘ Arroganz zur Blasiertheit geworden, was mir überhaupt nicht gefällt. Und er hat nicht die geringste erotische Ausstrahlung, jedenfalls nicht für mich. Das ist abermals bei Brett völlig anders. Wobei sich auch schauspielerisch die beiden kaum vergleichen lassen: Bretts Spiel ist immer auch Characterstudie, wobei man den Eindruck gewinnt, er werde Sherlock Holmes und sei der schließlich, und zwar „wirklich“; bei Cumberbatch bleibt die Rolle flach. Das wird durch den kumpelnden Titel der Serie noch unterstrichen: „Sherlock“ – als hätten die Zuschauer schon Schweine gehütet mit ihm. Das ist in keiner Weise von Conan Doyle so intendiert gewesen; es war schon absolut indiskutabel, daß sich in manchen deutschen Übersetungen Holmes und Watson duzen. So etwas wäre denen nicht über die Lippen gekommen.
Nein, mich überzeugte die Serie nicht. Wiewohl ich die Idee-selbst, insbesondere den neuen Hintergrund Watsons, ausgesprochen reizvoll finde.
(Verzeihen Sie meine Rigidität. Aber in den Angelegenheiten Mr. Sherlock Holmes‘ bin ich noch heute ein Siegelbewahrer.)
Das macht doch nichts (die Rigidität) – ich schätze das immer, wenn sich jemand nicht um eine Position herumdrückt.
So jung allerdings ist Cumberbatch nicht (geboren 1976), auch wenn er auf Sie so wirken mag, weil Sie ein anderes Bild von einem Mittdreißiger haben. Ich finde das interessant, wie sehr „Eleganz“ Ihr Bild von Holmes prägt. Für mich war da immer so viel Überschuss an Energie und Intelligenz mitgemischt (heute würde man das wohl ADS nennen – wobei ich diese Pathologisierung ablehne), die das Verlangen nach Eleganz regelmäßig zerstörten. Schon sehr früh hat mich vor allem die Drogensucht Holmes beschäftigt (eine Parallele zu Old Death, dem `Opiumesser´ bei Karl May, übrigens), ein selbstzerstörerischer Zug, der auf mich immer eine sonderbare Faszination, aber auch Abstoßung ausgeübt hat.
@Melusine zur Eleganz, den Blade Runner beiseite. Sie spielt die Rolle des Korrektivs, eben w e g e n ADS – einem, sagen wir, Syndrom, das ich mit Holmes ja tatsächlich teile – und wegen, auch das teile ich, der Tendenzen eines Suchtcharacters. Genau deshalb habe ich in meinem Text von Holmes‘ hinreißend hektischer, einer fast panischen Suche nach den Zigaretten erzählt, und wie er sich dann aber f a ß t: Auf dem mittleren Bild, dem mit der Zigarette im Schlafrock, zeigt Brett das in unnachahmlicher Weise allein in seinem Gesichtsausdruck: Sinnlichkeit, Befriedigung und neue Fassung, dabei auch noch, als beobachtete er sich selbst, selbstironisch. Das sind die grandiosen Momente, die mir bei Cumberbatch restlos fehlen. Und in der Tat, der wirkt auf mich jugendlicher, als er tatsächlich ist, er wirkt geradezu wie einer jener, die wir in den Achtzigern „Popper“ nannten; ich meine die Flachheit eines Replikanten. Auch unter denen, das will ich gar nicht bestreiten, wird es ADSler und Hochbegabte geben, wobei das ja nicht selten zusammenfällt. Nur es gibt ihnen nicht Geschichte. Das ist das, es ist ein ästhetisches, Problem von Replikanten. Generell. (Es war, nebenbei bemerkt, Philipp K. Dicks und Ridley Scotts gar nicht zu ermessende Leistung, dem Replikanten Batty solch eine Geschichte gegeben zu haben, in The Blade Runner nämlich. Das und eigentlich n u r das macht diesen Film so einzigartig; zu einem Zeugnis des Humanismus nämlich in einer kommenden, doch schon ziemlich nahen Zukunft. Der hat aber keine Chance, wenn wir der Vergangenheit ihre Geschichte nehmen.)
Tun „wir“ das nicht – „der Vergangenheit ihre Geschichte nehmen“? Ich lese gerade – wieder einmal – Vilém Flusser. Es ist vielleicht, da ich Ihre Formulierung als Zitat übernehme, zu aktiv gedacht – als „nehmen“ statt im Passiv „genommen werden“. Die Idee, die noch und gerade ihre Zerlegung durch den Poststrukturalismus usw. usw. prägt, nämlich, dass „Ich“ die bin, die ich geworden bin (also: meine Geschichte), – wird die nicht eben durch die digitalen Medien g e l ö s c h t? (Ein Indikator – ein banaler, zugegeben – ist die Art, wie heutzutage Lebensläufe zu verfassen sind: in umgekehrter Chronologie; es zählt nämlich nicht Erfahrung, sondern Gegenwärtigkeit).
Dass dies für uns (also alle, die noch aus einem anderem Selbstverständnis kommen), schmerzlich ist, versteht sich. (Daher auch beglückt diese Serie, die eine Lese-Biographie erzählt, so sehr.)
Sie haben an anderer Stelle einmal geschrieben, Ihr Blog sei ein Versuch, etwas von der Tradition in jenes Zeitalter zu retten, von dem wir die Form noch kaum erkennen können. Flusser war in dieser Frage (nur in dieser) eher pessimistisch: „Ziemlich klar ist, was wir beim Übergang aus der gutenbergschen in die elektromagnetische Kultur verlieren, nämlich all das, was uns als Erbe des Westens wertvoll ist. Hingegen sehen wir nicht, was wir dabei gewinnen. Könnten wir das, dann hätten wir die Stufe der neuen Denkart bereits erklommen.“ Dennoch empfahl auch er, sich in Gedichte zu versenken, um eine Ahnung zu erlangen.
Die Mini-Serie der BBC ist aus meiner Perspektive eben ein solcher Versuch: die Figur Holmes in ein Zeitalter zu retten, in dem „wir“ keine Geschichte mehr haben. (Dass ICH, wie ich hier sitze, mir das nicht vorstellen kann und – wie Sie – glaube und fürchte, ohne diese werde es auch keinen Humanismus geben – wird das jene, die kommen, noch bewegen?)
(Wir werden es, Melusine, noch erleben. Ich bin da – n u r da – ganz Luther: und pflanze meine Apfelbäume in der vollen Überzeugung, daß es reicht, wenn nur von denen zweie neu erblühen werden und dann auch, eben, Früchte tragen. „Und ewig blauen licht die Fernen“, um das mit Mahlers Hans Bethge zu sagen.)
Leider bin ich mit Sherlock Holmes nicht warm geworden. Das lag wohl daran, dass ich als Bub mich durch so einiges Detektiv-Zeugs gewühlt hatte (Drei Fragezeichen, Geheimnis um.., Kalle Blomquist) und dann erwartete ich von einem Holmes schon einen übermenschlichen Scharfsinn. Kurzum die Erwartung war zu groß und das Ergebnis musste schon beinahe unfreiwillig komisch auf mich wirken. Als ich den „Hund von Baskerville“ las, dachte ich über den Fall nur: Bah, wie trivial, das ist ja auch nur ein Detektiv wie alle andern.
@Phorkyas zur frühen Leseerfahrung. Es geht in den Conan-Doyle-Erzählungen sehr viel weniger um die Fälle selbst, als mehr um die Stimmung, die über ihnen liegt. Wenngleich Conan Doyle tatsächlich durch seinen Holmes einige detektivische Methoden in die Realität eingeführt hat, die heute ganz gängig sind, damals aber in gar keiner Weise – etwa seine Analyse von Tabakrücklständen und dergleichen; sogar, meines Wissens, der Vergleich des Fngerabdrucks geht auf ihn zurück. Der Umstand, daß Sie von einem Hund von Baskerville schreiben, zeigt überdies, daß Sie offenbar an schlechte Übersetzungen geraten sind; selbstverständlich ist es der Hund der Baskervilles. Wirklich entfalten tut sich Holmes übrigens sehr viel mehr in den Erzählungen als in den Romanen, und Knobeleien wie Die tanzenden Männchen oder Ideen wie Der Club der Rothaarigen haben ein Format, das tatsächlich mit Poes Dupin gleichzieht, bei dem ebenfalls die Stimmung im Vordergrund steht. Es ist wie bei mittelalterlicher Malerei, der weltliche Sujets verboten waren; so malten die Maler sie in den Hintergrund all der Kreuzigungsszenen. In den Hintergründen findet dann die eigentliche Malerei statt.
Manchmal, was die Kinderbücher anbelangt, denke ich, daß es ein Fehler ist, seine Kinder mit so etwas zu füttern, anstatt sie gleich an die „richtigen“ Bücher zu lassen. Mit Bildung ist’s wie mit Vitamin C: was zuviel ist, scheidet der Körper aus; der Geist jedenfalls hätte so immer genug, und Kinder würden künstlich (zivilisatorisch) nicht kleingehalten..
Kalle Blomquist, übrigens, nehme ich aus. Der trägt tatsächlich Geheimnis.
Dass bei Sherlock Holmes der Krimiplot wohl nebensächlich ist, ist mir aus heutiger Sicht schon klar und ich kann auch nicht so ganz nachvollziehen, warum ich über 60 der Drei-Fragezeichen-Folgen durchgehalten habe (meine Brüder sammelten die Kassetten und setzen das bis heute fort), denn da wird ja nur geplottet, gibt es eigentlich gar keine Charaktere, keinen Stil. Nun äußere ich mich selbst abfällig, dabei wollte ich eigentlich einwerfen: dass ich es gar nicht schlimm finde, das gelesen zu haben, vielleicht auch gerade in dieser Anzahl, so dass ich nun immun bin gegen das meiste der Kriminalliteratur. Auch stehe ich nach wie vor zu dieser Lektüre:
Ob nun Kulturerzeugnis oder nicht, über deren Wert kommt man oft ja nur schwer überein (s. z.B. die Diskussionen hier), aber gerade drum sollte man über Geschmack streiten und mit Leidenschaft verfechten. – Und was diese Leidenschaft entfacht kann so „falsch“ eigentlich nicht sein.
Ich wollte Sie auch nicht kritisieren, bin gerade >>>> sowieso nicht kritischer Stimmung. Sondern bewegt. (Daß Hermann Michael tot ist… daß es keine Gelegenheit wieder gab, mit ihm noch einmal zu sprechen oder ihn wenigstens dirigieren zu sehen.)
Zu Sherlock Holmes ODER Die andere Seite der Okkultivität.
So wollte ich sein, als ich fünfzehn, sechzehn, siebzehn war. So wollte ich aussehen später einmal. So kleidete ich mich auch. So kultivierte ich eine gewisse Arroganz, aber erst mit siebzehn/achtzehn, nachdem meine Versagensängste in Kunstwille umgekippt waren und ich mir vorgenommen hatte, was ich einmal werden würde. Von Holmes habe ich ebenfalls gelernt, daß auch Understatement eine Form der Verlogenheit ist, und die Dinge deshalb als genau das zu bezeichnen, was sie sind, bzw. wofür ich sie halte und dabei keine Rücksicht auf die höflichen Riten der Sozialen zu nehmen. Genau damit nie hinterm Berg zu halten. Wenn‘s aber wirklich einmal sein muß, dann tut man‘s so, daß die Verachtung spürbar bleibt. Wer >>>> diese Verfilmungen sich ansieht, bekommt ein ziemlich genaues Bild meiner Idee eines nichtkorrupten und nicht korrumpierbaren Characters. Wer die Bücher liest, auch. Na sowieso.
Mein IchIdeal als eines Sherlock Holmes der Literatur führte mich dann auch zu Poe zurück, dessen Dupin eine Inspirationsquelle Conan Doyles war, wobei dieser zugleich auch Science Fiction schrieb und überdies, wie damals ich, mystische Interessen hatte. Nun ist Holmes ein Prototyp des Rationalisten, aber eben als die andere Seite einer verdrängten, doch um so intensiver wirkenden Sehnsucht nach dem Unheimlichen, die vielleicht auch ein nichtsprachliches Wissen um sie ist. >>>> Dracula und Sherlock Holmes sind Zeitgenossen, man darf das nicht vergessen, ebenso wie Holmes und die Symbolisten es sind; die Seiten sind direkt aufeinander bezogen. Deshalb haben spätere Bearbeitungen, die Holmes in mystische, magische und okkulte Geschehen verwickeln, durchaus Richtiges erspürt. In unserer jüngst vergangenen Gegenwart war der Weg zur Fantasy da nicht weit, so wenig wie von der Phantastik in die Fantasy. Von der schlägt ein riesiger, seit dem Fin de Siècle ununterbrochener Bogen in die >>>> Science Fiction zurück, die als Cyberpunk im Netzwerk des Netzes und der Computertechnologien nur das Gewand gewechselt hat. Von alledem war ich damals mehr bewegt, und bin es noch heute, als von den sozialen Fragestellungen und Emanzipationsunternehmen, die in meiner Jugend die Wirklichkeit prägten.
Noch aus einem anderen Grund eignete sich Holmes so sehr als meine Identifikationsfigur; es ist ein sexueller und teilt sich in zwei Aspekte. Zum einen zeigt der Mann den Frauen nur die kalte Schulter, er wird von ihnen gar nicht erreicht. Darin ist er völlig anders, als ich war, der permanent unglücklich verliebt war und unerhört, das ist hier das treffende Wort, dauerschmachtete, was ich allerdings in eine damals schon rasende Produktion sublimierte: ganze Hefte schrieb ich in alleine einer Woche voll, und mein>>> für einen Fünfzehnjährigen riesiger Roman wurde darum fertig, vielleicht n u r darum, wobei ich über die frühen Gedichte, die ich außerdem schrieb, das teppichstarke Tuchsortiment meines selbstnachsichtigen Schweigens lege. Holmes bewies einfach, daß es auch ohne Frauen ging, selbst dann, wenn man feinsinnig wie er ist, Geige spielt und mit geschlossenen Augen in Konzerten sitzt (er hat noch Sarasate erlebt); zum anderen wäre er imgrunde prädestiniert für Homosexualität gewesen, hätte es, eben, Irene Adler nicht gegeben. Schaun Sie sich nur das an:
Nun ist freilich, heutzutage, nach dem Dracula auch Sherlock Holmes zum Lehrstück in Sachen Kapitalismus geworden. Die neuen Verfilmungen, sie laufen derzeit im Kino, machen ihn äuivalent, oder versuchen es doch, indem sie ihm, was immer ambivalent an ihm war, wegsubtrahieren. Man macht jetzt Pop aus ihm. Nun hat er Frauen zuhauf im Bett und prügelt sich nach Actionmanier, jetzt ist da gar kein Geheimnis mehr, nur Oberfläche; auch noch zur Boy Group wird man ihn eignen. Spätestens dann, wenn das durchgesetzt ist, werden die Erzählungen Conan Doyles, die Jeremy Brett nicht nur verwahrte, sondern auch perfektionierte – zum Teil mit einem Witz, den nur Kenner begreifen (etwa hängt in Granada-TVs Baker Street 221b überm Kamin ein Bild der Reichenbachfälle, in denen Holmes vermeintlich umkommen wird) – – – vergessen sein. Man wird ihn für einen Womanizer halten, der dann auch für jeden Konsum sich zu spreizen bereit ist – unter Absehung von jeglicher Distanz, die für diesen Mann so wesentlich ist wie die Frage, wie es erotisch denn vielleicht doch um ihn bestellt gewesen sei. Was John H. Watson. M.D., zu voller Diskretion von ihm bis heute abzuschirmen wußte.
Der Farbenhändler im Ruhestand.
Kennen Sie die TV-Mini-Serie mit dem großartigen Benedict Cumberbatch als Holmes? Ich sah sie vor anderthalb Jahren in England. Skeptisch, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass das gelingen könnte: Sherlock Holmes in die Gegenwart zu transferieren. Ich schrieb damals: „Cumberbatch hat genau die richtige Schärfe, Unnahbarkeit, Energie und den Mangel an Benehmen und Soziabilität, die die Figur ausmachen…Auch Martin Freeman als Watson überzeugt, viel mehr als die naiven Idioten, die in zahlreichen Vorgängeradaptionen Holmes zur Seite gestellt wurden. Dieser Watson, ein Veteran aus dem Afghanistan-Krieg, wird sein Kriegstrauma nicht los, wie seine Therapeutin vorschlägt, indem er sich Stress vom Hals hält. Holmes erkennt dagegen schnell: Watson braucht die Gefahr, wie er, Holmes, das Verbrechen. Daher ist Watson sein idealer Partner. In dieser ersten Folge wird der Zuschauer Zeuge des Beginns einer wunderbaren Freundschaft: ´a mixture of frustration, admiration and genuine affection.´(The Guardian).“
(Die Hollywood-Version fürs Kino von Guy Ritchie, auf die sich Ihre Verachtung wohl bezieht, verdient diese vielleicht. Es ist eben pures Popcorn-Kino. – Allerdings stimmt eines nicht: Robert Downey jr.s Holmes kriegt keine Frauen ins Bett. Er ist eher ein bisschen schwul oder queer. Als ´Womanizer´ geht er allerhöchstens wegen seiner dunklen Augen durch, die er verlangend jedoch immer nur auf Jude Law/Watson richtet.)
Obwohl (oder weil?) Sie es n i c h t erwähnen – viele Ihrer Lektüren erzählen auch von erotisch grundierten Männerfreundschaften (was ja n i c h t gleichbedeutend mit Homosexualität ist). Und ich stelle das beinahe erschüttert fest, weil ich viele dieser Bücher auch mit viel größerer Begeisterung gelesen habe, als die Schilderungen von Internatsmädchenfreundschaften. Die erotische Anziehung durch das eigene Geschlechts als Grundlage der Freundschaft – das findet sich selten in den Erzählungen von und über Frauen. Für mich, offenbar, war das aber wichtig. Ist es.
@Melusine zu Cumberbatch. Selbstverständlich sah ich das. Die Idee ist pfiffig wie klug. Aber der Schauspieler ist entscheidend zu jung, er wirkt schlichtweg altklug – so, wie wahrscheinlich ich selbst seinerzeit gewirkt habe. Ihm fehlt notwendigerweise, des Alters wegen, die Tiefe, die Jeremy Brett dem Sherlock Holmes zudem gegeben hat. Brett erkrankt während der Serien, tatsächlich er, und man sieht mit an, wie er sich darüber körperlich verändert. Das hat etwas Unheimliches. Er starb auch sehr früh. Selbst das ist in den letzten Folgen schon zu ahnen.
Cumberbatch fehlt zudem die Eleganz, bei ihm ist Holmes‘ Arroganz zur Blasiertheit geworden, was mir überhaupt nicht gefällt. Und er hat nicht die geringste erotische Ausstrahlung, jedenfalls nicht für mich. Das ist abermals bei Brett völlig anders. Wobei sich auch schauspielerisch die beiden kaum vergleichen lassen: Bretts Spiel ist immer auch Characterstudie, wobei man den Eindruck gewinnt, er werde Sherlock Holmes und sei der schließlich, und zwar „wirklich“; bei Cumberbatch bleibt die Rolle flach. Das wird durch den kumpelnden Titel der Serie noch unterstrichen: „Sherlock“ – als hätten die Zuschauer schon Schweine gehütet mit ihm. Das ist in keiner Weise von Conan Doyle so intendiert gewesen; es war schon absolut indiskutabel, daß sich in manchen deutschen Übersetungen Holmes und Watson duzen. So etwas wäre denen nicht über die Lippen gekommen.
Nein, mich überzeugte die Serie nicht. Wiewohl ich die Idee-selbst, insbesondere den neuen Hintergrund Watsons, ausgesprochen reizvoll finde.
(Verzeihen Sie meine Rigidität. Aber in den Angelegenheiten Mr. Sherlock Holmes‘ bin ich noch heute ein Siegelbewahrer.)
Das macht doch nichts (die Rigidität) – ich schätze das immer, wenn sich jemand nicht um eine Position herumdrückt.
So jung allerdings ist Cumberbatch nicht (geboren 1976), auch wenn er auf Sie so wirken mag, weil Sie ein anderes Bild von einem Mittdreißiger haben. Ich finde das interessant, wie sehr „Eleganz“ Ihr Bild von Holmes prägt. Für mich war da immer so viel Überschuss an Energie und Intelligenz mitgemischt (heute würde man das wohl ADS nennen – wobei ich diese Pathologisierung ablehne), die das Verlangen nach Eleganz regelmäßig zerstörten. Schon sehr früh hat mich vor allem die Drogensucht Holmes beschäftigt (eine Parallele zu Old Death, dem `Opiumesser´ bei Karl May, übrigens), ein selbstzerstörerischer Zug, der auf mich immer eine sonderbare Faszination, aber auch Abstoßung ausgeübt hat.
@Melusine zur Eleganz, den Blade Runner beiseite. Sie spielt die Rolle des Korrektivs, eben w e g e n ADS – einem, sagen wir, Syndrom, das ich mit Holmes ja tatsächlich teile – und wegen, auch das teile ich, der Tendenzen eines Suchtcharacters. Genau deshalb habe ich in meinem Text von Holmes‘ hinreißend hektischer, einer fast panischen Suche nach den Zigaretten erzählt, und wie er sich dann aber f a ß t: Auf dem mittleren Bild, dem mit der Zigarette im Schlafrock, zeigt Brett das in unnachahmlicher Weise allein in seinem Gesichtsausdruck: Sinnlichkeit, Befriedigung und neue Fassung, dabei auch noch, als beobachtete er sich selbst, selbstironisch. Das sind die grandiosen Momente, die mir bei Cumberbatch restlos fehlen. Und in der Tat, der wirkt auf mich jugendlicher, als er tatsächlich ist, er wirkt geradezu wie einer jener, die wir in den Achtzigern „Popper“ nannten; ich meine die Flachheit eines Replikanten. Auch unter denen, das will ich gar nicht bestreiten, wird es ADSler und Hochbegabte geben, wobei das ja nicht selten zusammenfällt. Nur es gibt ihnen nicht Geschichte. Das ist das, es ist ein ästhetisches, Problem von Replikanten. Generell. (Es war, nebenbei bemerkt, Philipp K. Dicks und Ridley Scotts gar nicht zu ermessende Leistung, dem Replikanten Batty solch eine Geschichte gegeben zu haben, in The Blade Runner nämlich. Das und eigentlich n u r das macht diesen Film so einzigartig; zu einem Zeugnis des Humanismus nämlich in einer kommenden, doch schon ziemlich nahen Zukunft. Der hat aber keine Chance, wenn wir der Vergangenheit ihre Geschichte nehmen.)
Tun „wir“ das nicht – „der Vergangenheit ihre Geschichte nehmen“? Ich lese gerade – wieder einmal – Vilém Flusser. Es ist vielleicht, da ich Ihre Formulierung als Zitat übernehme, zu aktiv gedacht – als „nehmen“ statt im Passiv „genommen werden“. Die Idee, die noch und gerade ihre Zerlegung durch den Poststrukturalismus usw. usw. prägt, nämlich, dass „Ich“ die bin, die ich geworden bin (also: meine Geschichte), – wird die nicht eben durch die digitalen Medien g e l ö s c h t? (Ein Indikator – ein banaler, zugegeben – ist die Art, wie heutzutage Lebensläufe zu verfassen sind: in umgekehrter Chronologie; es zählt nämlich nicht Erfahrung, sondern Gegenwärtigkeit).
Dass dies für uns (also alle, die noch aus einem anderem Selbstverständnis kommen), schmerzlich ist, versteht sich. (Daher auch beglückt diese Serie, die eine Lese-Biographie erzählt, so sehr.)
Sie haben an anderer Stelle einmal geschrieben, Ihr Blog sei ein Versuch, etwas von der Tradition in jenes Zeitalter zu retten, von dem wir die Form noch kaum erkennen können. Flusser war in dieser Frage (nur in dieser) eher pessimistisch: „Ziemlich klar ist, was wir beim Übergang aus der gutenbergschen in die elektromagnetische Kultur verlieren, nämlich all das, was uns als Erbe des Westens wertvoll ist. Hingegen sehen wir nicht, was wir dabei gewinnen. Könnten wir das, dann hätten wir die Stufe der neuen Denkart bereits erklommen.“ Dennoch empfahl auch er, sich in Gedichte zu versenken, um eine Ahnung zu erlangen.
Die Mini-Serie der BBC ist aus meiner Perspektive eben ein solcher Versuch: die Figur Holmes in ein Zeitalter zu retten, in dem „wir“ keine Geschichte mehr haben. (Dass ICH, wie ich hier sitze, mir das nicht vorstellen kann und – wie Sie – glaube und fürchte, ohne diese werde es auch keinen Humanismus geben – wird das jene, die kommen, noch bewegen?)
(Wir werden es, Melusine, noch erleben. Ich bin da – n u r da – ganz Luther: und pflanze meine Apfelbäume in der vollen Überzeugung, daß es reicht, wenn nur von denen zweie neu erblühen werden und dann auch, eben, Früchte tragen. „Und ewig blauen licht die Fernen“, um das mit Mahlers Hans Bethge zu sagen.)
Leider bin ich mit Sherlock Holmes nicht warm geworden. Das lag wohl daran, dass ich als Bub mich durch so einiges Detektiv-Zeugs gewühlt hatte (Drei Fragezeichen, Geheimnis um.., Kalle Blomquist) und dann erwartete ich von einem Holmes schon einen übermenschlichen Scharfsinn. Kurzum die Erwartung war zu groß und das Ergebnis musste schon beinahe unfreiwillig komisch auf mich wirken. Als ich den „Hund von Baskerville“ las, dachte ich über den Fall nur: Bah, wie trivial, das ist ja auch nur ein Detektiv wie alle andern.
– Also im Urteil über Holmes muss ich mich enthalten – Mir ist jedoch die russische Fernsehserie sehr empfohlen worden:
http://www.bakerstreetdozen.com/russianholmes.html
@Phorkyas zur frühen Leseerfahrung. Es geht in den Conan-Doyle-Erzählungen sehr viel weniger um die Fälle selbst, als mehr um die Stimmung, die über ihnen liegt. Wenngleich Conan Doyle tatsächlich durch seinen Holmes einige detektivische Methoden in die Realität eingeführt hat, die heute ganz gängig sind, damals aber in gar keiner Weise – etwa seine Analyse von Tabakrücklständen und dergleichen; sogar, meines Wissens, der Vergleich des Fngerabdrucks geht auf ihn zurück. Der Umstand, daß Sie von einem Hund von Baskerville schreiben, zeigt überdies, daß Sie offenbar an schlechte Übersetzungen geraten sind; selbstverständlich ist es der Hund der Baskervilles. Wirklich entfalten tut sich Holmes übrigens sehr viel mehr in den Erzählungen als in den Romanen, und Knobeleien wie Die tanzenden Männchen oder Ideen wie Der Club der Rothaarigen haben ein Format, das tatsächlich mit Poes Dupin gleichzieht, bei dem ebenfalls die Stimmung im Vordergrund steht. Es ist wie bei mittelalterlicher Malerei, der weltliche Sujets verboten waren; so malten die Maler sie in den Hintergrund all der Kreuzigungsszenen. In den Hintergründen findet dann die eigentliche Malerei statt.
Manchmal, was die Kinderbücher anbelangt, denke ich, daß es ein Fehler ist, seine Kinder mit so etwas zu füttern, anstatt sie gleich an die „richtigen“ Bücher zu lassen. Mit Bildung ist’s wie mit Vitamin C: was zuviel ist, scheidet der Körper aus; der Geist jedenfalls hätte so immer genug, und Kinder würden künstlich (zivilisatorisch) nicht kleingehalten..
Kalle Blomquist, übrigens, nehme ich aus. Der trägt tatsächlich Geheimnis.
Dass bei Sherlock Holmes der Krimiplot wohl nebensächlich ist, ist mir aus heutiger Sicht schon klar und ich kann auch nicht so ganz nachvollziehen, warum ich über 60 der Drei-Fragezeichen-Folgen durchgehalten habe (meine Brüder sammelten die Kassetten und setzen das bis heute fort), denn da wird ja nur geplottet, gibt es eigentlich gar keine Charaktere, keinen Stil. Nun äußere ich mich selbst abfällig, dabei wollte ich eigentlich einwerfen: dass ich es gar nicht schlimm finde, das gelesen zu haben, vielleicht auch gerade in dieser Anzahl, so dass ich nun immun bin gegen das meiste der Kriminalliteratur. Auch stehe ich nach wie vor zu dieser Lektüre:
Ob nun Kulturerzeugnis oder nicht, über deren Wert kommt man oft ja nur schwer überein (s. z.B. die Diskussionen hier), aber gerade drum sollte man über Geschmack streiten und mit Leidenschaft verfechten. – Und was diese Leidenschaft entfacht kann so „falsch“ eigentlich nicht sein.
@Phorkyas: Das stimmt. Selbstverständlich.
Ich wollte Sie auch nicht kritisieren, bin gerade >>>> sowieso nicht kritischer Stimmung. Sondern bewegt. (Daß Hermann Michael tot ist… daß es keine Gelegenheit wieder gab, mit ihm noch einmal zu sprechen oder ihn wenigstens dirigieren zu sehen.)