Dumpfschmerzbacke. Das Arbeitsjournal des Freitags, dem 4. Mai 2012. Mit einem leisen Erinnern. Und statt Rohkost Fleischwurst.

9.11 Uhr:
[Arbeitswohnung.]

Heute wäre mein Bruder, der am Tag seines vierzigsten Geburtstags beim Wildwassertauchen umkam, fünfundfünfzig Jahre alt geworden. An jedem vierten Mai denke ich an ihn, mit dem ich gar nichts gemeinsam hatte, von dem wir zwei hätten etwas gewußt: außer, daß wir Brüder waren.
Er hinterließ einen unterdessen erwachsenen Sohn, von dessen Verbleib ich nichts weiß, den er auch abgelehnt hat sein beinah ganzes Leben hindurch, fast, seit es dieses Kind überhaupt gab. Sein Verhältnis zu seinem Sohn, danach sieht es aus, glich dem unseres Vaters zu uns, den er, anders als ich, lebenslang gemieden hat. So heimtückisch sind Familienmuster.

Gestern kam ich nicht an Argo. Zum einen stand ich zu spät auf, >>>> wie ich schrieb, zum anderen war da diese Zahngeschichte, der herausgesprungene Stiftzahn. Paßte mir überhaupt nicht, aber es mußte reagiert werden. Ein Loch im Kiefer bleibt nicht nett. Also meinen Zahnarzt angerufen. Ich solle nachher sofort vorbeikommen, viertel nach elf.
Der Termin lag so gut, daß ich immerhin an mein Cello kam. Den herausgehopsten Zahn, der teuer gewesen war, steckte ich in ein Diamantenkästchen auf das samtgewölbte Futterlein; es gibt sogar einen Einsteckschlitz für den Stift. Damit dann ab in die Rosenthaler.
„Au au“, sagt A., „das sieht nicht gut aus“, lacht, „das sieht sogar gar nicht gut aus“. Und lacht lauter. Wir haben uns das so angewöhnt: wird was heikel, werden wir lustig. „Laß mal sehen.“ Sieht. „Au au.“ Stochert. „Au au au“: alle fünf nicht ich, sondern er. „Nee, du, da steck ich dir den Zahn nicht mehr drauf. Das hält nicht mehr. Da ist der Unterzahn zerbröselt, direkt im Kiefer. Au au.“ „Ähm?“ „Na ja, das muß raus. Mit allem Danach… das Elegenteste wäre ein Implantat, das Einfachste eine Brücke, da müßten wir dann die angrenzenden Zähne“ undsoweiter. Prokelt. „Nee, die Wurzel ziehe besser ich nicht. Da müssen Spezialisten ran. Also wenn ich damit anfänge, und dann bricht und bröselt das weiter, fummeln wir stundenlang die Stückchen raus, und wahrscheinlich muß dann sowieso ein Chirurg ran.“ „Urgs“, sage ich. „Stimmt“, sagt er und lacht. „Ich schreib dir eine Überweisung. Fahr gleich mal rüber, vielleicht haben sie Zeit.“
Ich also gleich mal rüber. Hatten Zeit, sofern ich Zeit hatte, eine Stunde zu warten. „Dann geh ich erst mal noch was rauchen.“ „Füllen Sie bitte vorher diesen Bogen aus“, Allergien, was man an Seuchen mit sich trägt, ob man raucht, trinkt, wieviel man ißt und wann der letzte eheliche… nee, das nicht. Gut. Kein Aspirin bitte, sonst verkauft mich >>>> Kamps als Streuselkuchen, der sich dauerkratzt.
Schließlich die Spritzen, viere, halb so wilde Piekser, nur im Gaumen macht‘s was her. Dann liege ich zwanzig Minuten kopfunter, dann kommt die Ärztin wieder und bringt, sie denkt an mich, diese Gazelle von Helferin mit. Jesses, was für Augen. Flirtet, nachdem deutlich wurde, ich steh nicht so auf Angstnehmerei und ruhiges Zusprechen und was der sonstigen Verharmlosungsrhetoriken mehr sind. Kann ich nicht leiden, wenn mit dieser Mitleidsstimme gesprochen wird; „das muß raus, Punkt“ liegt mir mehr. Oder halt, wenn ich angeflirtet werde. Da kann dann ein Schmerz gerne groß sein.
War er nicht. Ich merkte überhaupt gar nichts außer ziemlichem Druck und Gewuchte und undezenten Geräuschen; außerdem schrabbte mir die eine Hand der Ärztin meine Unterlippe immer wieder über die unteren Schneidezähne, damit ich mal merkte, warum sie „Schneide“ eigentlich heißen. Das weiß ich jetzt in der Tat. „Eine Woche lang nicht rauchen, keinen Kaffee trinken und auch keinen Alkohol.“ „Kommt nicht infrage“, sage ich. „Versuchen Sie‘s wenigstens.“ Ich lache. Die Helferin lacht. Die Ärztin bleibt seriös. Na gut. Ist ja auch eine Riesenpraxis da direkt überm Alex, Hausnummer 1, der Eingang sieht nach New York City aus, Flatiron Building, Marmorempfang mit goldenem Messing. Ich schlag mal im Kopf die Grundmiete hoch. Aber es scheint sich zu rechnen. Frage nach der Anzahl der Behandlungsräume, der angestellten Ärzte, des Helferpersonals. Auf der Toilette gibt es Zahnbürsten mit bereits applizierter Paste in foliendünnem Knitterplastik.
„Lassen Sie den Tupfer noch eine halbe Stunde im Mund, dann spucken Sie ihn aus. Wenn die Schmerzen kommen, hier zwei Tabletten. Ah ja, und das kann anschwellen bis zum dritten Tag. In einer Woche sehen wir uns wieder.“ Da ist aber die Löwin da, will ich einwenden, doch kapier, daß das der Ärztin kein Begriff ist, und gegenüber der Helferin will ich sowieso strategisch bleiben.
Raus und aufs Rad. Als erstes („keinen Kaffee“) einen Espresso aus der Pavoni. Trinkt sich irre mit gelähmten Lippen. Man muß das ganz ganz seitlich, quasi mit dem Mundwinkel versuchen, weiß dann aber nicht, ob man kleckert. Hand drunterhalten, empfehle ich, vor allem, wenn Sie einen hellen Anzug tragen. Und weil die Wunde ja noch abgedeckt ist durch den Tupfer, auf den ich nach wie vor beiße, kann eigentlich auch eine Zigarette nicht schaden. Dabei mag ich gar keine Zigaretten, doch wüßte nicht, wie die Pfeife zwischen den Zähnen halten. Schon die Zigarette läßt sich eigentlich nicht umschließen. Und Zigarren… nee, die sind selbst mir jetzt zu hart.
Und an die Arbeit. Dabei unterläuft mir >>>> dieser Fehler. Es reicht, daß ich ihn einmal beschrieben habe, das ist für heute des Outings genug.
Bis 22.30 Uhr arbeite ich durch, unterbrochen von meines Jungen Cellospiel. Normalerweise stört mich das nicht; wenn ich Tondateien abhören muß, aber schon. Könnte natürlich auch die Kopfhörer nehmen, aber sie isolieren nicht völlig. Gegen 22.30 Uhr, als die Tondatei zweitgesichert wird – dank >>>> Beyond Compare geht das quasi automatisch -, noch einen Film und zwei Malts, weil endlich mein nächster Talisker ankam. Und dann ins Bett.
Die Wunde pocherte und dumpfte vor sich hin, aber ich mag keine Schmerzmittel nehmen, so lange etwas erträglich ist. Ich schlief übers Pochern und Dumpfen auch ganz einfach ein, wachte gegen viertel vor Fünf auf, stand auf um Fünf, Latte macchiato, Morgenpfeife, Argo. Komplizierte Stelle. Von fünfzig Seiten später was einfügen, das einen ganz neuen Übergang, oben und unten, braucht. So also sah das in groß aus:

Bis TS 494 Mitte gekommen, zu denen ein Drittel der 495/496 zu rechnen sind, auf die 456 zurück. Dann die Löwin geweckt.
Die DTs‘e nachgetragen, >>>> von der Ersten Fassung des Hörstücks erzählt, dann, jetzt, dieses Arbeitsjournal geschrieben. Links die Wange scheint wirklich ein bißchen anzuschwellen, aber weh tut‘s nur dann, wenn ich mit dem Finger von außen in die Wunde drücke. Ich habe eingesehen, daß das unnötig ist.
Übrigens habe ich während der Wartezeiten bei den Ärztin ziemlich gelacht, weil ich nämlich gerade >>>>> Frank Fischers Weltmüller lese. Himmlisches Buch, wenn man auf Spott in Chucks steht. Empfehl ich wirklich gerne. Aber wahrscheinlich schreibe ich später dazu noch eigens.
Jetzt setze ich mich erst einmal an mein Cello und gehe nach dem Üben auf Stimmenfang hinaus. Der Nachmittag ist dann wieder, bis in den späten Abend, der Montage vorbehalten. Ab morgen muß ich mich zudem auf >>>> diese Tagung vorbereiten, zu der ich als Beiträger geladen bin.

20.20 Uhr:
Fertig für heute. Wie weit ich mit der Ersten Fassung gekommen bin (nämlich morgen lege ich die Zweite Fassung an), lesen Sie direkt bitte >>>> dort; allerdings muß ich das Protokoll erst noch ergänzen. Für hier, fürs Arbeitsjournal, genügt es, Ihnen zu sagen, daß ich‘s zufrieden bin, auch wenn es, weitere Einzelstimmen einzufangen, zäh war. Die meisten zierten sich heute, keine Ahnung, warum. Vielleicht meiner linken Wange wegen, die nun doch tüchtig an Umfang zugenommen hat. Der Schmerz an sich, also kantisch gesprochen, ist harmlos, Gepoche, Gedumpfe, kein Stilett, keine Nadeln, auch kein Messer, das an was rumsäbelt. Beim Mittagschlaf genügte es, mich auf die Seite der „heilen“ Wange zu legen, das war Kühlung genug (der ärztliche Ratschlag möchte nämlich, das ich zumindest einen kalten Waschlappen im Gesicht trage, außerdem soll ich mit Tees „spülen“ – ich meine, ich bin wirklich kein D60er Typ; selbst streng verschriebene Medikamente, wenn ich mal sowas bekommen sollte, nehme ich nach eigener Lust; meine Mutter, die Heilpraktikerin war, hat einmal ernsthaft behauptet, meine Widerborstigkeit beruhe auf meinen kleinen Fingern, weil die nämlich deutlich zu krumm seien).
Jetzt sitzt eine Suppe auf, mit Fleischwurst, weil ich noch keine Rohkost essen soll; deshalb kein Salat. Na ja. Ich werde den Abend lesend verbringen, einen Film sehen und zwischendurch noch einmal ganz die bisherige Montage hören. Richtig aber geht es erst morgen früh um Fünfe weiter.

4 thoughts on “Dumpfschmerzbacke. Das Arbeitsjournal des Freitags, dem 4. Mai 2012. Mit einem leisen Erinnern. Und statt Rohkost Fleischwurst.

  1. Gute Besserung Herr Herbst. Und ich hatte Spaß beim lesen ihres Textes (Toll!!). Ich hoffe, Sie nehmen mir das nicht übel 😉
    Bis dann mal wieder.

  2. Da ist man ja fast versucht zu sagen: Haben Sie demnächst doch bitte mal eine größere OP, wenn Sie dann hinterher genauso lustvoll drüber schreibspaßen… Aber so ist das: Des einen Unglück ist des anderen Freud. Im Ernst: Gute Besserung, und übertreiben Sie es mit dem Rauchen nicht. Die Heilung (vor allem das Abschwellen) geht ohne wirklich schneller. Dafür einen Talisker zum Desinfizieren mehr – das ist ok…

    1. @Herrn Dentist(en). Ach wissen Sie, ich wäre ja b e r e i t; nur fürchte ich, man ließe mich nicht, also tippen nach der oder besser noch während der OP. Die meisten Leute haben kein Verständnis. Vor allem käme es sicherlich, wenn ich dauernd tippte, im Krankenzimmer zu Encounters mit Mitpatienten; ich garantiere, die fühlten sich gestört, auch wenn das nicht stimmen würde, sondern so rein aus Prinzip. Ich bin schon eine Katastrophe für Flugängstler, wenn die per Zufall neben mir sitzen: ich muß nur jauchzen, schon werden die blaß, und ich muß immer die Tüte halten.

      Aber mal so von Laie zu Fachmann: Was passiert eigentlich bei einer Schwellung (die sieht man nämlich jetzt, ich bin dabei, sehr asymmetrisch auszusehen)? Ich tippe auf einen Lymphsee oder etwas in der Richtung. Die weißen Blutkörperchen, kampfeslustig, sammeln sich und brauchen, logisch, ein Lager. Außerdem schleusen sie da Gefangene durch, wenn sie welche gemacht haben, aber auch Leichen; die lassen sie nämlich, weil sie die fremde Stadt einmal bewohnen möchten und die Gerüche scheuen, nicht darin liegen.
      Oder?

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