[Arbeitswohnung. Bach, Partiten & Sonaten für Violine solo. Erst Viktoria Mullova, nun Itzhak Perlman.]
Unfaßbar, welche Interpretationsunterschiede es gibt. Enorm radikal, gestern wiedergehört, Jean-Jacques Kantorow, als interessierte ihn, wie mich, viel mehr als die Schönheit des Klanges seine Expression, dann zum Vergleich wieder Shlomo Mintz und nunmehr Perlman, der eine Art Ausgleich findet, sich in der berühmten Chaconne dann aber ebenfalls wie von der Longe der (vermeintlichen) bachschen Strenge gelassen benimmt, daß ich – mitten dabei, mir nach den beiden Latte macchiati einen Pfefferminztee zu brühen – mitten im Raum stehen blieb und mich nicht mehr rühren konnte einzwei Minuten lang; mir geht sowas derart direkt in die Glieder, daß ich, wie die Jungen, wenn sie Techno hören, am liebsten tanzen möchte, aber viel zu verwurzelt in die Konzentration bin, als daß ich etwas anderes bewegen könnte als etwa die Arme oder den Oberkörper, der dann – schwankt. Da hat mir Do etwas angetan mit ihrem Wunsch, ihr eine Aufnahme zu schicken, die mir nahsei… Gleichzeitig löst das aber auch die Verklemmung der Inspiration: mit einem Mal geht es mit dem Dahlem-Text wie von selbst, flutscht, könnte man sagen, würde nicht etwas Schwerwiegendes „verhandelt“ darin, für das ich mich, aus Kinderperspektive, den Bewegungen der Regression auf die Spur setze; Spürhund ist aber nicht der Erwachsene, sondern das Kind. Und ich habe eben die Idee einer weiteren Kippe gehabt, auch formal, die noch einmal alles wenden könnte. Heute abend will ich mit dem Text so weit fertig sein, daß ich ihn morgen nur noch stilistisch durchgucken und spätestens am Abend abgeben kann.
Allerdings muß ich gleich unterbrechen: Um zehn Voruntersuchung für die kleine Augen-OP, die in zwei Wochen für die rechte Hornhaut ansteht, in die sich ein Dioptrienfehler eingeschlichen hat, den ich korrigieren lassen will. Dann muß ich kurz zum Profi ins Kanzleramt radeln; er habe etwas Geld für mich. Wiederum danach wird mich, mittags, >>>> Christian Wöllecke, den ich >>>> aus Jena kenne, auf einen Kaffee besuchen und die Bücher mitbringen, die dort nicht verkauft worden sind. Danach erst wird es mit Argo weitergehen können. Abends gemeinsames Essen bei der Familie. Den Junior sah ich ja gestern schon und >>>> hörte ihm beglückt zu; jetzt freu ich mich irre auf die Zwillingskindlein.
Seit fünf am Schreibtisch. Auch das, daß ich so früh hochkam, trägt einiges zu meiner handfest guten Stimmung bei.
Erst einmal: Guten Morgen.
(P.S.:
SAH EIN KNAB KEIN RÖSLEIN STEHN – auch das wäre ein möglicher Titel.)
[Bach, Partita Nr. 2, Perlman ff.]
::: D a bin ich dann ganz umsonst gewesen, jedenfalls vorerst: hatte den Termin falsch notiert. Erst um Viertel nach fünf nachmittags soll ich da sein. So wird das denn ein fahrradsportlicher Tag. Gleich zum Kanzleramt weiter. Der Profi hatte mich gebeten, draußen zu warten. „Du hast sicher keine Lust auf die Durchleuchtung“, was er wohl prinzipiell meinte. Ich solle ihm einfach eine SMS schicken, wenn ich da sei. Tat ich, mußte auch gar nicht lange warten, da kam er schon raus, in Begleitung eines schmalen, freundlich blickenden Menschen, wie er selbst in Zivil. Er gab ihm ein Zeichen, nahm mich bei der Schulter, führte mich zur Seite. „Ich habe etwas für dich.“ „Geld, ja, das hast du gesagt. Aber woher?“ „Mit einem Gruß von Le Duchesse“, antwortete er und zog einen zugeklebten Briefumschlag aus dem Jackett. „Ich glaube nicht, du es deklarieren mußt.“ „Aber wofür zahlt er mir das?“ „Vielleicht hattest Du Ausgaben >>>> im Libanon. “ „Nein, absolut keine. Nur den Flug, und der war direkt von seinem Büro gebucht und bezahlt. Na gut, ein paar Ledersandalen hab ich mir gekauft, dafür war Zeit.“ „Du hast einen Knall: am Flughafen.“ „Nein, davor, ein fliegender Händler, 15 US-$, nach Kursstand wirklich kein Vermögen. Aber das hier…“ ich hatte den Umschlag geöffnet, kurz gezählt, „sind, Moment, – 2000 €…“ „Wohl dem, der solche Gönner hat.“
Da bin ich mir aber nicht sicher, mit dem „wohl“ und „mir“. – Wie auch immer, er, der Profi, hatte den nächsten Termin, sein netter Begleiter nickte mir zu, ich schwang mich aufs Fahrrad und fuhr im strahlenden Sonnenschein zurück. Zwischendurch Anruf der Familie: ob die Kleinen, was sie so gern würden, heute bei mir übernachten dürften. Na klar doch. „Dann essen wir alle zusammen hier. – 19.30 Uhr?“ Zum Kochen freilich reichte die Zeit nicht, wahrscheinlich nicht, wenn ich bis wahrscheinlich 18 Uhr in der Augenpraxis sitzen werde.
Weiter jetzt mit dem Dahlem-Text.
12.06 Uhr:
In den unteren Lagen, die bei ihm als quasi Generalbaß dominieren, klingt es, als spielte Szigeti auf einer Bratsche… das kann aber auch eine Eigenheit der schon alten Aufnahme sein, also tontechnisch bedingt. Faszinierend jedenfalls. Ich „fürchte“ gerade, daß ich soeben beginne, diese ausgesprochen männliche Einspielung zu favorisieren.
Korrektur: S z i g e t i, nicht Szeryng. Das mußte ich jetzt korrigieren. Die Aufnahme, die mir gerade so nahgeht, ist nicht von Henryk Szeryng, sondern wurde 1955 von >>>> Joseph Szigeti, einem Freund Bartóks, eingespielt. Offenbar ziehen sich Tondaten falsche Tags aus dem Netz. Er, Szigeti, war sehr mit (damals) Neuer Musik befaßt; das mag die mir so eindrückliche Art seines – oben von mir „männlich“ genannten – Zugriffs auf die Bachstücke erklären und darin eben auch eine Verwandtschaft mit einem anderen Ungarn, dem mir ganz ebenso eindrücklichen >>>> János Starker, der – die englischsprachige Wikipedia ist >>>> angemessen ausführlicher; die deutschsprachige ist dagegen geradezu peinlich kurz – über Szigeti schrieb: „Szigeti was one of the giants among the violinists I had heard from childhood on, and my admiration for him is undiminished up to this day.“.