Letztes Irseer Arbeitsjournal, nunmehr die Nr. 9. Nachverstört. Bemerkungen zum Irseer Tryptichon von Beate Passow. – Abends leises Mulmen wegen der OP. Dazu zum Kopfschütteln und, Melusine zu folgen, InDieEierTreten.




16.30 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Ich möchte das von mir fotografierte Tryptichon, das Sie hierunter sehen werden, auch noch auf die Hauptseite Der Dschungel stellen; es hat ein Recht, mehr als nur zugegen zu sein. Leicht erschöpft schreibe ich drüber erst jetzt, wiewohl ich es gestern früh sah, noch vor dem Frühstück und vor der Abreise – da war, nachdem ich meinen Rucksack gepackt, denn eine Zeit, die nicht schon bereits immer ein Nächstes von mir wollte. Also stieg ich die breite Treppe vom ersten ins Erdgeschoß hinab und ließ mir am Empfang den Schlüssel für den Sektionsraum geben, der, in einem Hüttchen gleich hinter der Kirche gelegen, berechtigterweise und als Mahnung – er selbst ist ein Mahnmal – erhalten geblieben: roh, grob, chirurgisch praktikabel. So sahen Sektionsräume auch anderswo lange Zeit aus; er selbst ist, wiewohl voller Grauen, nicht das Besondere, nicht der kalte Tisch, nicht die wahrscheinlich d o c h nachgefertigten hölzernen Aufbauten für den Kopf und, wahrscheinlich, die Beine der zu Sezierenden

und auch nicht Gestell und Totenbahre, die – rechts von dem Tisch, der dunkel, sehr dunkel an einen Altar erinnert und daran, woher der Altar, jeder, kommt: von Opfern nämlich und Opfer – … die so erhalten sind, wie man sie fand:

Hier wurden – noch bis lange n a c h dem Krieg, was ein unheimlicher Vorgang für sich ist – über 2000 Menschen, nachdem sie, meist im sogenannten „Landhaus“, von eigens dafür geschultem Schwestern-Personal getötet worden waren, zerschnitten und die Organe in Einmachgläser eingelegt, die bis 1945 nach Berlin gesendet wurden, zwecks weiterer „Forschung“; viele Opfer, darunter dreihundert Kinder, gingen an TB-Versuchen zugrunde und an Reihenexperimenten mit fettloser Nahrung; dazu addieren sich die russischen Feldarbeiter, die man abschoß, wenn sie flohen. Das Besondere, das diese vor Bosheit sachliche Stätte zu einem wirklichen Mahnmal macht, ist >>>> Beate Passows Tryptichon, das gleich rechts, wenn man durch die Tür tritt, in einem zum Sektionsraum offenen Vorraumchen hängt:

Daß ich weinen wollte, muß ich nicht erzählen, wie mir das Herz zusammenkniff, auch nicht. Aber dann kam die Wut. Sehen Sie auf die Schwestern, die Teilnahmslosigkeit der Haltung, ihre Hände an Handgelenken und Unterarmen des schreienden Kindes. Da wollte ich diesen Frauen in deren Gesichter sehen. Das Gesicht des Kindes zu zeigen, war wie eine wirkliche, eine Seelen-Pornographie, die sich am Leid ergötzt, das man darum eigens hergestellt, wie für das Publikum. Das aber, genau das, bezieht das Bildwerk auf uns. Auf unsere Hilflosigkeit. Daß wir nichts tun können, nichts verhindern können, nicht dazwischenfahren und daß die Täter anonym bleiben können. Dies fängt auf grausamste Weise die Wirklichkeit ein: denn diese Schwestern wurden, wenn es für sie schlecht ausging, nach dem Krieg allenfalls wegen „Beihilfe zum Totschlag“ verurteilt und kamen dann schon gleich nach ihrer U-Haft wieder heraus. Man stelle sich das vor: arbeiteten womöglich weiterhin als Schwestern, und jeder Versuch, ihnen Gesicht zu geben, um ihnen da hineinzuspucken, wenigstens, muß scheitern – aus Gründen des Persönlichkeitsrechts. Bis heute übrigens, weil ihre Kinder das einfordern könnten, die vielleicht auch gar nicht wissen, bzw. wußten, welche und w e l c h e Mörder sie zu Eltern gehabt. So können auch wir uns von den Mördern niemals befreien – es sei denn, wir gehen nicht hinein in den Raum, so daß wir ohne Wissen bleiben. Doch schon die Anklage „Beihilfe“ ist ein Skandal und das „Totschlag“ ist es erst recht, der doch eine Affekttat, nicht etwa geplantes Morden bezeichnet.

Ich war verstört, als ich zum Frühstücksraum schritt, dort noch eine Uneinigkeit, die nachts zuvor mit zweien meiner Teilnehmer geschehen, zu schlichten versuchte, dann lange mit Markwart Herzog, dem Direktor der Akademie, sprach, eben über Passows Werk. Ich finde anders als dieses draußen-das-Mahnmal, das zuerst in Auftrag gegeben und errichtet wurde, diese die Skulptur im Grünen, die Schuld beschönigend, weil es, aus christlichem Geist, eine Erlösung der Opfer sieht, nach deren Leben, was auf den Betrachter mildernd zurückwirkt: so, als wäre schließlich alles doch noch gut geworden, gerichtet vom Herrn mit Jesus Christus zur Seite, sowie von der Jungfrau Maria, an welche beiden viele der Opfer gar nicht geglaubt. Es habe seinerzeit auch Proteste gegeben, mosaisch rechtsbegründet, die ich auch ohne Moses teile. Darüber stritten wir ein wenig, zivilisiert, freundschaftlich, er und ich, nahmen uns schließlich zum Abschied in den Arm, er mich, der unentwegt an der nicht faßbaren Geschichte von Schuld weiterarbeitet, sie irgendwie mit seinem Glauben zusammenzufühlen versucht und weitere und weitere Schuld zutagefördert, bespricht, über sie schreibt, sich aussetzt wieder und wieder. Mehr als ich. Ich bin ja weit von solchem Ort weg. So hab ich gut schlecht reden, denn mich verbindet nichts als >>>> mein Name. Der aber doch.

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20.45 Uhr:
Viel unterwegs gewesen, bei der Mama der Zwillingskindlein und mit denen, die heute ihren ersten Schultag hatten, dann beim Daye eine Brottasche gegessen, voll Hummus, Falafel, Petersiliensalat; dazu einen libanesischen Tee. Wieder über Syrien nachgedacht. Wollte der Westen seine, Assads, Schreckensherrschaft beenden, wäre der Mann schon längst tot, und der, der den Befehl gab, hielte, wie Kleist es uns lehrt, den Kopf hin, damit nicht die Ethik beschädigt wird. Wer führen will, muß Verantwortung, auch persönliche, tragen: dies können und dies wollen.
Selbstverständlich, ich denke darüber in der Wirkung des Triptychons nach. Vielleicht wird es Zeit für solch einen Text. Auch hier wieder: nicht Tragik, sondern Tragödisches.

Morgen kommt mein rechtes Auge wieder unters Lasermesser, um die eine Dioptrie zu korrigieren, die sich als Sehfehler eingeschlichten hat. Diesmal eine „normale“ Laser-OP; sie sei anders als die vor vierzehn Monaten, vor allem in den Begleiterscheinungen. Ich solle mich danach ruhigstellen – was ungefähr das Schwierigste für mich ist, was es gibt. Schon deshalb Bammel. – Ambulant, ich möge mich doch bitte abholen lassen. Der Profi will versuchen, es einzurichten; dann käm ich mit dem Auto heim. Oder लक्ष्मी wird mit den Zwillingen kommen, dann fahren wir gemeinsam mit der UBahn zurück. Ich hoffe, daß die Angelegenheit nicht allzu tief in mein Arbeitsvermögen eingreift; es ist so irre viel zu tun.
Heute weder zum Schreiben noch an mein Cello gekommen. Nur dieses Arbeitsjournal hab ich hinbekommen. Bei den >>>> Gleisbauarbeiten steht etwas Kluges zu etwas schon dreist Dummem, die Vaterschaft betreffend. Ich werde Melusines Aufforderung wahrmachen, sollte ich dem Autor des Artikels einmal begegnen.

Schwäbischer Kunstsommer 8 <<<<

3 thoughts on “Letztes Irseer Arbeitsjournal, nunmehr die Nr. 9. Nachverstört. Bemerkungen zum Irseer Tryptichon von Beate Passow. – Abends leises Mulmen wegen der OP. Dazu zum Kopfschütteln und, Melusine zu folgen, InDieEierTreten.

  1. Sie haben recht: in dieser, von den Tätern so hingebungsvoll eingeebneten deutschen „Gedenklandschaft“ ist Passows Arbeit eine Störung, eine Wahrheit, ein Schrecken. Verborgen unter zauberischem Barock und gut abgeschlossen, aber immerhin. Und nur, aus beruflichem Eifer – die hölzernen Aufbauten auf dem Sektionstisch: der schmale Block mit der Mulde ist tatsächlich für Kopf oder Nacken vorgesehen, die schemelartige Vorrichtung auf der gegenüberliegenden Seite des Sektionstisches aber nicht für die Beine, darauf wurden und werden die Messer und Scheren und Zangen und Sägen abgelegt, die zur Eröffnung der Leibeshöhlen benutzt werden; durch die siebartigen Öffnungen fliessen Blut und andere Sekrete von den Instrumenten ab. Es soll sauber zugehen und aufgeräumt, wenn man dem Tod hinterher ist. Sauberer jedenfalls als im Leben, das doch „unwert“ war.

    1. @Kaspar Lampert. Ich danke Ihnen sehr für diese Erklärung, die auch das am „Fußende“ angebrachte Becken verstehbar macht, das eine böse Konjunktion zum Handwaschbecken ist, welches sich ebenfalls, selbstverständlich, in dem Raum, rechts neben dem Durchgang zum Vorraum mit dem Triptychon, befindet. Bitte verbessern Sie mich in solchen Belangen immer; man kann dem Schrecken nur die Stirn zeigen, wenn man nicht wegsieht und auch versteht, was man sieht.
      Ich werde auf Passows Triptychon ganz sicher wenigstens noch einmal zu sprechen kommen, weiß nur noch nicht, auf welche Weise.

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