Nun l i e g t er, S c h n e e. Auf diesem, des Nikolaustages, Arbeitsjournal des Donnerstags, dem 6. Dezember 2012. Aufrecht sein.

6.30 Uhr:
[Arbeitswohnung. Beethoven, Streichquartett a-moll op. 132 (Alban-Berg-Quartett, 1987).]
Und ich werde gleich, wenn ich Am Terrarium angerufen haben werde, ob die Kinder auch ihre Schuhe vollgefunden, hindurchfahren: zum Waschsalon. Das ist heute fällig, ebenso wie dann ein kräftiger Putzgang durch die Wohnung – nach dem Arbeitsjournal, freilich, aber vor weiterer Argo-Arbeit. Habe gestern gegen 21 Uhr den vierten Durchgang bis Ende des zweiten Romanteils abgeschlossen, TS 623; weiter werde ich für morgen nicht kommen, also so weit dem Lektor abgeben mittags. Vielleicht schaffe ich es aber heute noch – und morgen vormittag bis zum Mittag – die Erissohn-Rede bis dahin ebenfalls „auf Reihe“ zu bekommen. Das ist der Plan. Erst danach wird mit dem dritten, bislang letzten Romanteil weitergemacht werden, mit dem ich binnen einer weiteren Woche ebenfalls „durch“sein sollte, um schließlich doch den Epilog noch zu schreiben, den ich von Anfang an geplant hatte: Sterne wird er heißen.
Ich beginne den Tag mit der letzten Musik, die ich vor der nun abgeschüttelten Erkrankung gehört habe; Formklammern, so mag ich‘s, strukturieren mein Leben; ein, mag sein, hilfloser Versuch, allem einen Sinn, eine Ästhetik zu geben; das Leben als einen Roman zu begreifen, bedeutet, ihn zu einem zu machen. U n s e r e Art der Selbstbestimmung. Dazu gehört Struktur, die Grundlage jeglicher Ästhetik: etwas erkennen können, nicht nur die anderen, das Andere, sondern sich selbst im andern. Es wird Zeit für erneute Bloch-Lektüre.
Bin um sechs Uhr auf, nicht schon um halb fünf zwar: doch das ist schon mal ein Schritt. Fühle mich wieder kräftig, noch nicht wieder trainiert, aber kräftig. Drüben packen der Junge und die Zwillingskindlein ihre Schuhe aus. Ich bin Harry Haller, der im Treppenhaus vor der Tür der Bürgerlichen sitzt und leise dem zuseufzt, was ihm verschlossen, aber nicht sentimental, sondern wissend, es sei recht so, was ihm nicht mehr werde. Alles okay. Es ist eine Entscheidung, ganz wie meine polyamore… Gestimmtheit muß ich das nennen, gleich einem Instrument. Wir wägen immer ab, wo wir am wenigsten verlieren.
Neulich dachte ich und sprach darüber am Telefon mit der Löwin, ob meine „Aushäusigkeiten“, daß ich körperlich nie treu sein konnte und mich selbst aus tiefen Lieben heraus immer wieder neu verliebte, vor allem: unglücklich verliebte, nicht eine Art sei, meinen inneren Motor am Laufen zu halten: um einen Sehnsuchtsort zu haben, dem ich dann zuschreiben konnte und kann, immer etwas, das an meine Arbeit zieht und sie befeuert; ob das nicht also selbst schon eine Struktur und nicht nur eine Dynamik sei, der ich hilflos ausgeliefert zu sein scheine, sondern die scheinbare Hilflosigkeit ist mit Absicht besetzt. Daran wird einiges sein. Ich bin alt genug, um dieses eigenwillige Muster, das mich seit jungen Jahren begleitet, endlich einmal klar anzusehen und dann auch, eben nicht in verschwiegener Heimlichkeit, offen zu wollen. Offen ist immer: öffentlich, also sichtbar. Der künstlerische Antrieb. Nicht nur uns selbst, sondern auch ihn schaffen wir, müssen es jedenfalls versuchen, wenn wir freie Menschen sein wollen und nicht ein pawlovscher Hund mit Bewußtsein auf zwei Beinen; zum Aufrechtsein gehört mehr als nur die hinaufgestreckte Wirbelsäule.
Was eine wundervolle Musik – nein, das ist keine Phrase, dieses Wunder im Vollen, Sie können es hören, wenn Sie denn hören, hören w o l l e n, heißt das. Meine Güte, Leserin! Das ist jetzt fast ein Wort zum Sonntag, wiewohl noch nicht einmal der Sonnabend angelangt ist, wir in ihm nicht, dem Ruhetag Gottes. Auch damit umzugehen lernen: wie lächerlich das Hohe ist, je ernster wir es meinen, je weniger ironisch. Melancholie, übrigens, ist ein, fällt mir gerade auf, ziemlich pfiffiger Trick, um diese Lächerlichkeit herumzukommen; man zahlt aber mit dunkler Übersüßung – deshalb ist es für jemanden, der ins Licht will, kein Weg. Helligkeit, veni creator spiritus – womit der Kreis sich schließt.
Guten Morgen. Zweite Morgenpfeife. Zweiter Latte macchiato. (Wie bekomme ich das Gefühl einer Frau in eine Dichtung, wenn sie die Beine öffnet, sich, und überwältigt hineinläßt, die Schwere auf sich? sie mit Waden und Füßen, die über den männlichen Rücken geschlungen, umklammernd? einpumpend, nicht nur die streifenden, gleitenden Labien, sondern, aus Körpermitte, dieser Sog, der – halb jenseits eines bewußten Wollens – dennoch w i l l? die, nein, n i c h t Lust an der Hingabe, sondern etwas, das zum eigentlichen autarken Willen gar nicht gehört? – die Lust ist nur, wenn man sich ergibt, die Form seines Wahrgenommenwerdens.)

Habe, um mich auf mein eigenes – (mein Eigenes) – wieder vorzubereiten, ein anderes Parfum genommen, klassisch, Lagerfeld. Heiliger Dankgesang eines Genesenden an die Gottheit, in der lydischen Tonart: molto Adagio.

8.12 Uhr:
[Beethoven, op.132 zum nunmehr dritten Mal.]



(Die Wäsche in den Rucksack stopfen und hinaus dann. Waschen mit dem späten Beethoven im mp3Player.)

9.25 Uhr:

Zurück: die Wäsche wäscht, was, logo, völlig falsch ausgedrückt ist, denn weder tut sie selber was, noch das sich selbst. Lacht. Aber ich muß nicht dabeistehen und in den Trommeln Fernseh gucken. Vier Maschinen, immerhin (ich hab‘s aber schon mal auf sechs gebracht).
Völlig entspanntes Radfahren durch den Schnee. Alle sind aufmerksam, freundlich, grinsen, wenn man eine Kurve ein bißchen eierig nimmt. Momentan sind wirklich nur gute Fahrer draußen unterwegs, ob per Auto, ob per Rad. Es gibt auch keine zeternden Fußgänger, wenn man, weil das Kopfsteinpflaster so rutschig, den Bürgersteig nimmt. Dazu der Beethoven im Ohr. Man fährt um drei Stufen runtergeschaltet, als wäre zu radeln ein meditativer Akt. Ist es heute auch. Ich unnervös – denken Sie, Leserin, nur!
Den Cigarillo jetzt, nach dem Telefonat mit der Löwin, dann wieder los.

22.25 Uhr:
[Beethoven, Streichquartett Nr. 18 B-Dur.]
So, bis Vers 105 der Erissohnrede gekommen; jetzt werd ich langsam müde und hör besser auf. Darum, die Rede insgesamt nachzureichen, werde ich sowieso nicht mehr herumkommen. Das verletzt etwas meine perfektionistische Lust am Fertigen, aber Schmidt wird sicher Verständnis haben. Und bis morgen um, sagen wir, zehn Uhr, hab ich auch noch Zeit, so viel als möglich fertigzustellen. Dann allerdings muß es zum Ausdrucken, von USB-Stick, ins Kopiercenter gehen, da beißt, würd >>>> Schlinkert sagen, die Maus kein‘ Faden ab. Bis Rasumowsky, übrigens, finde ich die Beethoven-Quartett müßig, zumal, wenn Amadeus sie spielt. Ab op. 59 wird das völlig anders.
Guter Satz im Waschsalon, wo ich morgens Bloch las, während die Trockner malochten: „Das Desiderium, die einzig ehrliche Eigenschaft aller Menschen, ist unerforscht.“ Bloch, Prinzip Hoffnung I, Vorwort.

2 thoughts on “Nun l i e g t er, S c h n e e. Auf diesem, des Nikolaustages, Arbeitsjournal des Donnerstags, dem 6. Dezember 2012. Aufrecht sein.

  1. 16.20 Uhr: [Beethoven, op. 132, zum sechsten Mal.]
    Beethoven-SpäteStreichquartette-Tag, ich ahnte es schon. Wohnung & Wäsche sind nun in Schuß. Eine Stunde zu Mittag geschlafen, spätem Mittag. Jetzt an Argo gesetzt: Kopiere grad die bisherigen Stellen der Erissohn-Rede in eine gesonderte Datei; mal sehn, wie weit ich bis morgen bis zum Ausdrucken mit der Überarbeitung komme. Vielleicht krieg ich‘s ja doch noch hin. Wird allerdings InDieNachtArbeit bedeuten, da ich mir nicht sicher bin, ob ich‘s morgen schon wieder mit halb fünf schaffen werde. Immerhin, ich kann weiter Musik hören dabei, weil der Rhythmus von Goethe vorgegeben ist.

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