Leere. Das Arbeitsjournal des Freitags, dem 22. März 2013. Zum poetischen Philosophieren über Musik. Sowie das Ich als tätiger Teil der Vergangenheits„bewältigung“.

8.55 Uhr:
[Arbeitswohnung. Sciarrino, Vanitas bereits zum zweiten Mal.]
Zweiter Latte macchiato und schon ein bißchen geraucht, sitze ich seit halb sieben am Schreibtisch und vergegenwärtige mir, für meine Kritik, >>>> den gestrigen Abend. Lausche nach. Überlege, finde Ansätze, recherchiere Hintergründe im Netz, bekam einen schönen Brief, wegen >>>> dieser Kritik, von >>>> Moritz Gause und habe ihm auch gleich geantwortet:(…) Ich bin in meiner poetischen Arbeit ja alles in allem sehr viel mehr über das Musikdenken als über andere Literaturen beeinflußt worden, schließlich besonders über Philosophien der Musik, während mich die literarischen Ästhetiken immer kaltgelassen haben. Aber aus meiner literarischen Arbeit haben sich dann nach und nach meine Blicke auf die Musiken verändert; heute ist das sehr ineinander verzahnt, mein Werk ganz sicher nicht ohne Musik zu denken, aber umgekehrt auch nicht mein Verständnis von Musik ohne meine Literatur. In dem Moment, in dem Literarisches Licht und Schatten auf sinnlich Wahrgenommenes wirft, wird dieses sinnlich Wahrgenommene notwendigerweise auch sprachlich und deshalb eben intellektuell. Das ist es, worüber man dann sprechen, was man kommunizieren kann, während wir für Gefühle, Empfindungen usw. nur Bilder finden können, wenn wir darüber etwas mitteilen wollen, und alle diese Bilder sind selbstverständlich, weil eben Metaphern, nicht das, was der Anlaß-selbst ist, nie also „das Ding selbst“, nie der Prozeß selbst und schon gar nicht, was wir tatsächlich fühlen. Literarische – und damit auch, wenn es gute sind, kritische – Auseinandersetzungen mit Sinnes-Ereignissen sind immer abstrahierend, aus dieser Falle kommt man einerseits nicht heraus, andererseits wäre ja die Abbildung des, bleiben wir dabei, „Dinges“-an-sich nichts als seine Wiederholung, also eine Verdopplung, die das Phänomen über die Vermehrung ebenfalls reduzieren würde.
Dennoch versuche ich, in einer Kritik dem von mir Erlebten so nahe zu kommen, wie es sprachlich immer nur geht. Dafür braucht man mitunter Bezüge, muß aber aufpassen, daß sie nicht nur Zitiertes, also Angelesenes, sind, sondern sie müssen ihrerseits durchlebt worden sein. Davon bin ich überzeugt. Genau das macht, glaube ich, einen Reiz meiner Musikbesprechungen aus, vielleicht ihren Character überhaupt. (…) Ich selbst betrachte nicht wenige meiner Musikkritiken als einen Teil meines literarischen Werks, fast im selben Maß wie die Romane, die Erzählungen, die Gedichte und die Hörstücke für den Funk.
(…)
***

Dann schon die ersten Sätze der Kritik hingeworfen, ja, geworfen, so flüssig strömen sie. Diesmal macht es sich enorm „bezahlt“, daß ich alles, was ich bespreche, mitschneide, so daß ich‘s mehrfach anhören kann; hier, bei Sciarrinos Vanitas, wird gegen die Szene klar, wie großartig und konzentriert seine Musik ist; darüber hat sich in der Inszenierung die Regie der Sängerin wegführend drübergelegt. Jetzt aber habe ich innere Bilder, die sich aus einigem, was tatsächlich zu sehen war, aber vor allem auch aus der Möglichkeit ergeben, die Sängerin ganz anders, viel weniger outriert, viel weniger, ja gar nicht karikaturhaft zu inszenieren. Das ist der Prozeß, der in mir abläuft, während ich die Kritik schreibe – und in sie den zweiten Teil des Abends direkt mit einbinde, eine Aufführung von Messiaens Quartett für das Ende der Zeit, das wie eine Antwort – im Sinne derer eines Dialogpartners – auf Sciarrino wirkt. – Aber ich will meiner Rezension nichts vorwegnehmen, mach mit ihr jetzt erstmal weiter – bevor ich dann später wieder an die Argo-Verse gehen werde, in denen ich gestern nachmittag endlich einen verfilzten Knoten zerschlug; allerdings ist der Faden nun wieder, aber anders, zusammenzufügen. Und zwar ohne Bruch.

Bruch.
Einbruch.
Gestern spät noch mal ein seelischer Einbruch, als wir, der Profi und ich, über die Messe sprachen; er war dagewesen und erzählte und drang in mich: meine Absage sei ein Fehler gewesen. Ich müsse mein Verhalten ändern usw. Er mache sich, wie andere Freunde auch, Sorgen um mich. Es gehe gar nicht um mein Werk, sondern um meine Person: d i e werde gefüchtet. – Wär das ganze nicht so schrecklich, es wäre einfach zum Lachen. Ich b i n konziliant, mehr als manch anderer, aber werde ich verletzt, dann wehre ich mich. Jedes Tier darf das. Muß das. Aber der Künstler soll hinnehmen. „Du nimmst alles immer persönlich. Das ist ein Fehler.“ Nur daß, wenn man meine Arbeit ignoriert, etwas Persönliches i s t. Ich arbeite nicht entfremdet, das legt man nicht zum Feierabend beiseite. Es gibt keinen Feierabend. Statt dessen soll ich mir die Entfremdung jetzt reinholen, nur, um „passender“ zu sein. „Du bist ja ein romantischer Künstler!“ rief da der Profi, wirklich erstaunt, aus, in der kleinen Kantinenstube der Staatsopernwerkstatt. Als wär das so etwas Neues. Ich wehre mich gegen die Profanierung meiner und jeder anderen künstlerischen Arbeit durch pfiffig geschicktes Selbstmanagement. Und dann Die Dschungel! Ich erzählte zu viel, zu viel Privates. Immer wieder derselbe Vorwurf. Ich war nahe daran zu platzen – etwas, vor dem offenbar eine allgemeine Furcht besteht. Daß ich mal wieder platzen könnte. Dabei platze ich wirklich nur bei widerfahrendem Unrecht. Unterm Strich solle ich „diplomatischer“ sein.
Aber ich bin kein Diplomat. Wäre ich einer, hätte ich das zu meinem Beruf gemacht. Ich bin Künstler und als solcher absolut dem Radikalen verschrieben: dem, was von der Wurzel kommt.
Jetzt fange ich schon wieder an, mich zu ärgern, nein, wütend zu werden – und auch verzweifelt, weil aus der Situation nicht herauszukommen ist. Alles, was ich wirklich tun kann, ist, in meiner Arbeit konsequent zu sein, und von der bin ich nicht zu trennen. Ich muß in mir selbst konsequent sein. „Wir haben Angst, daß deine Kraft nicht reicht, wirklich Angst“, sagte der Profi und meinte auch UF mit, mit dem er lange gesprochen. Der andre alte Vorwurf dann wieder: „Du orientierst dich immer an deinen Feinden, statt an deinen Freunden.“ Dieser Einwand ist aber billig, weil es meinen Freunden weder gelingt, noch daß es überhaupt ihre Aufgabe ist, die Wirkung meiner Arbeit zu befördern. Ich habe es tatsächlich mit, wenn es „gut“ läuft, Ignoranz und, wo es, nämlich in den meisten Fällen, schlecht läuft, mit einer Art betrieblichen Mobbings zu tun. Für das es sehr sehr viele Gründe gibt; einer davon ist, daß ich öffentlich über Sachverhalte und Verhalten spreche, von denen erwartet wird, daß man sie schweigend akzeptiert. Genau das ist mit mir nicht zu machen. Daß ich darin geradezu halsstarrig bin, hat etwas mit der deutschen Hitler-Vergangenheit zu tun; nicht nur etwas, sondern vieles. Auf sie bin und bleibe ich bezogen, aber anders, als es die Leute wollen, die an der „Bewältigung der Vergangenheit“ ziemlich gut verdienen, sowohl – und auch sehr vor allem – finanziell als auch in ihrem moralischen Ansehen. Wo für sie Markt ist, den sie gegen Pfründe bedienen, steht für mich Durchleben – was mir die einzige Möglichkeit dafür zu sein scheint, wirklich etwas zu überwinden: indem wir es annehmen als einen Teil unsres Selbsts und – offen werden.

:9.42 Uhr.
[Sciarrino, Vanitas. Zum dritten Mal.]

Alles ist eitel. Das hieße dann: alles sei – leer?

(Augen durch und weiterschreiben.)

13.25 Uhr:
So, die Kritik ist fertig und soeben >>>> eingestellt; auch die Twitter- und Facebook-Links sind gelegt.
Der Mittagsschlaf, nun, also. Dann an die poetische Arbeit zu Argo, ff.

4 thoughts on “Leere. Das Arbeitsjournal des Freitags, dem 22. März 2013. Zum poetischen Philosophieren über Musik. Sowie das Ich als tätiger Teil der Vergangenheits„bewältigung“.

  1. Zur Causa Archivalia. Schickt mir BL >>>> diesen Link. „…wenn Du’s nicht schon kennst, – könnte es Dich doch interessieren“, schreibt er. Ich habe, nach der Lektüre eben, folgendermaßen geantwortet:

    Nee, war mir entgangen.
    Spannend und erhellend. Grafs Argument, sowieso, sticht: „Sie sind nicht im 21. Jahrhundert angekommen, sondern klammern sich an veraltete Konzepte. Statt ein tragfähiges Geschäftsmodell zu entwickeln, wollen Sie die neuen Medien in alte Schläuche füllen. „- Tatsächlich geht es bei all diesen Auseinandersetzungen um den Versuch, die Deutungshoheit – die im Kapitalismus Absatzzahlen, vor allem aber persönliche Pfründe zu Vortrags-Einladungen, an Unis usw bedeutet – so lange als irgend noch möglich zu behalten; derselbe „Krieg“ tobt bei den Literaten und macht solche Unsäglichkeiten begreifbar, wie sie >>>> Lewitscharoff in Sachen Netzliteratur losgelassen hat; Zitat: „Aber ich stelle fest, dass Leute, die hauptsächlich das Internet nutzen, in der Regel kein Verständnis für die Qualität von Texten haben.“- Vorher hatte schon Hettche in dieses Horn getrötet und bekam damals >>>> meine Antwort im FREITAG geliefert. Dabei bin ich mir sicher, daß die entsprechenden Autor:inn:en längst wissen, daß die Zeit umgebrochen ist und andere Medien die Funktion der alten übernehmen werden; sie wollen die Entwicklung nur hemmen, und zwar, nämlich, bis zu ihrer Berentung, um noch, so lange es hat geht, bequem abschöpfen zu können. Deshalb ist ihnen die institutionalisierte Lobby wichtiger denn je. Daß die alten Konzepte den Bach runtergehen und daß man das weiß, hat Hettche aufs poetischste selbst geschrieben, in seinem >>>> Vatertochterbuch. Man handelt also wider besseres Wissen, lügt auch wider besseres Wissen, damit erst nach einem selbst der status quo seine Veränderungskraft wirklich entfalten kann.

  2. „A judge rarely performs his functions adequately, unless the case before him is adequately presented“ Lieber ANH,

    dem Profi-Hinweis in Sachen Diplomatie könnte ich mich anzuschließen, wenn ich denn wollte. Es geht m. E. nicht um das Aufgeben von Positionen, sondern um das Verhandeln von Positionen; mithin um den Ton, wenn man so will; also um Sprache.

    Wenn ich an die Sprache denke, die Sie neulich Abend in Bezug auf die Arbeitsausübung eines bestimmten Kritikers gebraucht haben (und mich dann zu erinnern meine, dass Sie dies dem genauso auch gesagt hatten), kann ich mir schon vorstellen, dass dann ab und an bei dem einen oder anderen Sprachlosigkeit herrscht bzw. vorgezogen wird.

    Geschäftlich dürfte das in der Tat nicht immer hilfreich sein.

    Ich erinnere, wie Sie wissen, und schätze sehr einen gewissen Herrn Bernd F. Lunkewitz, der einem Sternekoch erzählt, wie man richtig osso buco zubereitet, und einem Joschka Fischer, wie man richtig Politik macht – aber immer konziliant, immer unterhaltsam. „Wir sind gelassen im Streit“ hat er veröffentlichen lassen, als Christa Wolf im Streit den Verlag verließ.

    Beste Grüße
    NO

    1. @Dr. NO: Nun jà. Herr Lunkewitz war ökonomisch von denen, mit denen er so „gelassen“ umging, auch in keiner Weise abhängig. Auch Fischer wird ihm nicht Apanagen zugesteckt haben. Das Problem ist, daß ich es mit Verwaltern meiner eigenen Ressorts zu tun habe und daß ihre Bestimmung, ob etwas gut sei oder nicht oder überhaupt erwähnt werden müsse, direkte Folgen auf das Leben von Künstlern hat. UND: Herr Lunkewitz war nie ein Künstler-selbst, schon gar nicht einer, der nichts anderes ist als das, was er tut und schafft. Das gilt so für sehr viele Berufe, also eigentlich: Jobs. Der Vorteil an „normalen“bürgerlichen Berufen ist, daß sie sich über Leistung definieren lassen. Leistung zu erbringen, ist prinzipiell leicht. Das gilt auch für Literatur. In der aber Leistung etwas ist, das nur am Rande zählt. Wichtiger ist, daß man den richtigen Corpsgeist und vor allem genug Lakaientum in sich hat, um viele, sehr viele Stiefel zu lecken oder doch den Stiefelträgern das Gefühl zu vermitteln, hielten sie die Stiefel hin, daß man dann lecken würde. Dies ist allein mit meinem Stolz nicht zu vereinbaren. Und vor allem nicht mit der Geschichte meiner Familie, die unablösbar mit Hilerdeutschland und deutschem Gefolgstum verbunden ist, kurz: mit dem Ungeist des Anschlusses.
      Probleme mit vorgegebener Hierarchien habe ich selbstverständlich auch in der Wirtschaft erlebt, in der ich ja einige Zeit tätig war. Sie ließen sich aber immer dadurch lösen, daß meine Leistung besser war als die anderer: so jemanden feuert man dann nicht, auch wenn er die Zunge nicht bereit bis zum Bauchnabel heraushängen hat. In den Künsten ist das anders. Denn was Leistung s e i, bestimmen Leute in Machtpositionen, und zwar egal, ob sie es ist oder nicht.

      P.S.: Künstlerische Positionen s i n d n i c h t verhandelbar. Sie sind kein Akt einer demokratischen Meinungsfindung, sondern in ihnen gestalten sich Überzeugungen. Mit anderen Worten: Über Kunst läßt es sich nicht abstimmen, schon gar nicht über „Quote“.

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