[Arbeitswohnung.]
Um 7 Uhr hoch. Erster Latte macchiato, erste Morgenpfeife.
Es ist wieder etwas kühler geworden, aber die Heizperiode ist definitiv vorbei; der Morgenfrische halber einfach einen Schal zum Morgenmantel umgelegt. Keine dicken Pullover mehr, keine wärmenden Leggins, wenn ich bei offenem Oberlicht früh am Schreibtisch sitze. Die Sonne, außerdem, scheint; es ist hell und die Luft transparent. Meine Zunge ist etwas wund, von der scharfen Zahnecke dort, wo die Brücke herausgebrochen wurde. Das ist ein bißchen blöd, zumal der Pfeifenrauch die Mondflora sowieso belastet. Aber okay, kann man mit umgehn. Ich bin sowieso auf das, was nun ansteht, sehr focussiert: mir zu überlegen nämlich, wie ich das mit dieser neuen zweiten Abteilung anlege, die zugleich Resümee wie auch flüssig zu lesen sein soll. Dazu werde ich heute morgen aus den ersten dreißig Seiten der Skamander-Abteilung alles herausstreichen, was den Erzähllauf, grad zu Anfang, hemmt und dazu eine getrennte neue „Probe“-Datei anlegen, in der ich dann arbeite. Das wird einige Verschieberei. UF schickt mir dauernd neue Namen, die in die neue zweite Abteilung aufgenommen werden sollten. Er liest sehr schnell, sehr genau, sehr effektiv. Etwa steckt sich am Anfang des Romans die Inhaberin des Cafés Silberstein am Tresen eine Zigarette an. „Haben die kein Rauchverbot?“ schreibt UF. Er hat völlig recht; die Szene schrieb ich noch in einer Zeit, da in den Kneipen geraucht werden durfte; sie soll aber in der Gegenwart spielen, wobei die Zeiten der Erzählung, durch die vergangenen zwölf Jahre seit B.A.Anderswelt, ohnedies ins Rutschen gekommen sind. Das ist nicht, noch kann es das sein, scharf getrennt. Möglicherweise kommen noch ein paar mehr dieser Problemchen auf uns zu; da sind dann, für die Konstruktion, elegante Lösungen zu finden. Außerdem muß der Epilog geschrieben werden. Immerhin ist bereits das Bild für den Umschlag auf einem guten Weg.
Jetzt aber werde ich erst einmal in die übertragenen, indes erzählerisch unausgeführten Notate von >>>> Notate Napules (darin dann die Nummer 9) ein paar Bilder integrieren und sie daraufhin als Datei einstellen, sowie in meine Arbeitsdatei für das Neapel-Hörstück hinzukopieren. Danach lege ich das Neapel-Hörstück erst einmal beiseite und konzentriere mich auf Argo. „Ich bewundere diesen Wahnsinn, mit dem du dein Projekt betreibst“, sagte gestern Delf Schmidt, „das hat eine riesige Kraft. Aber diese Ästhetik ist nicht mein Weg. Ich schätze Widerstand innerhalb des grammatischen, stilistischen und eben auch der Realität verpflichteten literarischen Systems, du aber verläßt es. Da kann ich nicht mitgehen, ich bin ästhetisch jetzt so sehr im ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, da fühle ich mich zuhause, da will ich noch einmal neu ansetzen: um weiteres zu wissen und zu erfahren.“ Es geht wohl auch um das, was als „real“ empfunden wird; die neuen Medien spielen für mich eine sehr große Rolle, für ihn aber nicht; quasi sind sie für ihn gar nicht da. Interesse an ihnen hat er dennoch, nur kein gelebtes, sondern er ist theoretisch an den Phänomenen interessiert. Ich spüre einen deutlichen Generationsunterschied, ich, der 58jährige, gegenüber dem nur zehn Jahre älteren Freund; fast ist es so, wie wenn ich mit Staunen die Youtube-Aktivitäten meines Sohnes beobachte: eine nunmehr mir gänzlich fremde Welt interaktiven (jung)künstlerischen Handelns. „Und bitte vergiß auf keinen Fall“, so Schmidt weiter, „daß du in allererster Linie Erzähler bist, und was für einer; bitte dränge die nur reflektierenden Partien zurück, bleib immer ganz nah an der Konkretion deiner Erzählung, laß nicht das konstruierende Element die Oberhand gewinnen. Behaupte nicht, sondern, eben, erzähle.“
Jetzt werde ich seine Lektoratsanmerkungen, die vor allem stilistischer Art sind, einarbeiten; er ist von meinen Eigenwilligkeiten genervt, etwa „projezieren“ statt „projizieren“ zu scheiben, was ich aber von Adorno habe; es ist mir nicht nur in Fleisch und Blut übergegangen, sondern gilt mir auch für eine Ehrenbezeugung, die ich meinen ersten, seit ich Schriftsteller bin, und nach wie vor überaus wichtigen Einflüssen erweisen will. Wenn man das eine Macke nennt, darf man das tun; sowas läßt sich gut tragen, zumal es nicht ganz unberechtigt ist; aber auch Macken haben ihr Recht. Schmidts Frage: „Was bringt das denn?“ trifft nicht ihren Kern, weil es darum eben nicht geht, daß es etwas „bringt“. Sowas muß und soll als stilistische Luxus, meinetwegen als Sprachlocke, sein können; man kann es ja auch als eine liebenswerte Eigenheit sehen, so, wie kleine Schrullen bei Freunden. Ich wehre mich schlichtweg gegen das Diktat der Strenge, dem meistens eines der Reduktion gleich auf dem Fuß folgt. Reduktion war nie und ist nicht mein Weg, ebenso wenig wie unbedingte Klarheit, die ich für lebensfern halte. Es gibt klare Momente, transparentes Licht, ruhige stehende sanfte Luft, aber sie braucht, damit wir sie spüren, Orkane. Dies Bewunderung für „kein Wort zu viel“ ist ein anorektisches Symptom.
Guten Morgen.
(Plötzlich der kurze Einfall, daß ich, weil ich das Neapel-Hörstück Argos wegen erst einmal beiseitelegen muß, nach Abgabe, nämlich dem 3. Juni, noch einmal nach Neapel fliege, um dort das Hörstück vor Ort zu schreiben. Schöne Idee. „Das ist dann aber Luxus“, wandte die Löwin ein, als ich ihr soeben davon erzählte, „doch wenn’s dich beschwingt, nimm’s dir vor. Du kannst es dann immer noch anders halten.“)
11.29 Uhr:
Bis eben getippt, auch noch die Neapel-Notizen vom Februar übertragen und mit den einmontierten Bildern >>>> jetzt eingestellt; vielleicht ergeben auch die unausgeführten Notizen ein ganz gutes Bild.
Die Dschungel ist immer auch Provisorium, Fertiges gehört letztlich alleine den als oder in einem Buch oder als Hörstück erscheinenden Arbeiten; das Provisorische ist ein ästhetischer Fuß Der Dschungel. Deshalb ist es angemessen und auch nötig, nicht alles immer „zu Ende zu bringen“, also hier. Offenheit, >>>> Porösität, denn immer wartet ein Neues bereits, Nächstes, Fortsetzendes, Ergänzendes, auch Widersprechendes.
Jetzt will ich mal telefonieren, dann geht es unter die Dusche. Und ab frühnachmittags fange ich mit Argo an. Allerdings sind aus dem LS11 noch ein paar Neapel-Tonfiles zu sichern.
22.09 Uhr:
So, bis eben an Argo gesessen, den neuen Einschub vorbereitet und die Kapitel 1-5 des Skamander-Abschnitts neu überarbeitet, vor allem gekürzt und die direkten Handlungselemente aneinandergezurrt. Ob das nun so schon genügt, sehe ich mir morgen früh an; ich brauche erst mal Abstand. Am Abend, morgen, soll die Revision bereits zu UF hinüber, der sein laufendes Lektorat für diese knapp fünfzehn Seiten noch einmal unterbrechen muß. Er seinerseits sitzt seit heute morgen um sieben an dem Text. Mitte bis Ende der nächsten Woche wird die erste, und zwar eine satte Tranche Argo satzfertig im Verlag liegen. Ich meinerseits muß die Arbeit ab Montag aufteilen in den noch gänzlich ungeschriebenen Epilog, eine heftige Versarbeit, und in die Bearbeitung der Lektoratsvorschläge.
Jetzt ist aber mal Schluß.