Das Prenzlauer Soho. Im Arbeitsjournal des Freitags, dem 2. August 2013.

9.36 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
War bereits – um fünf vor sechs stand ich vor der Halle – meine anderthalb Stunden Schwimmen; um halb sechs auf, einen Espresso genommen, dann gleich ab. Um acht war ich zurück, Latte macchiato, erste Morgenpfeife, und gleich an das zweite Mauergedicht, das ich über den Tag fertigzubekommen hoffe. Allerdings ist bis Ende nächster Woche für >>>> die horen ein Text über die Nibelungen zu schreiben, und ich habe noch nicht die mindeste Ahnung, was ich da eigentlich erzählen will. Danach ist ein kleiner Text über Schriftstellerfreundschaften dran, und ich muß, nach einer Kritik Thomas Zenkes, das Typoskript des Neapel-Hörstücks revidieren, vor allem kürzen – wobei ich soeben die Zusage bekommen habe, daß die Produktion tatsächlich an mich geht, allerdings unter sozusagen Supervision: Mir ist das aber ganz lieb, jemanden hier an meiner Seite zu haben, der spontan mitassoziieren und vorschlagen kann. Insofern wird das ein recht spannender Arbeitsprozeß werden. Damit die von mir erhofften Sprecher:innen auch alle können, sollte das Typoskript möglichst schnell fertigwerden; ich möchte die gesprochenen Passagen gerne noch im August aufnehmen, denn der September fällt für das Hörstück aus, weil Thomas Zenke da nicht im Lande sein wird; an sich wäre das genau mein Produktionsmonat gewesen. Nun gut. Aber vielleicht arbeite ich dann schon mal vor; insofern alle Montagen hier bei mir liegen werden, kann ich ja jederzeit, gemeinsam mit Zenke, revidieren.
Das Schwimmen heute morgen hat mehr angestrengt als gestern der 12-km-Lauf. Seltsam. Bin ein bißchen wie sediert, und es rauscht in den Ohren. Gestern nachmittag pochte eine Nachbarin aus dem Gartenhaus wütend an meine Tür; als ich öffnete, bewegte sie sich sehr eigenartig, dabei schimpfend, ich beschallte den ganzen Hof! und immer mit der gleichen Musik! Seit Tagen gehe das schon so, was freilich nicht sein kann, weil Mozart ganz sicher nicht Beethoven ist und weil ich, vor allem, erst seit vorgestern wieder am Schreibtisch sitze; aber sie habe sich schon im letzten Jahr beklagt. Wenn ich mit der Musik nicht aufhörte, müsse sie, wörtlich, „eine Meldung“ machen. Schon bizarr. Man kann doch einfach kurz sagen, bitte stellen Sie die Musik leiser… dann nähme ich eben die Kopfhörer oder schlösse das Fenster. – Ich hab von dem Vorfall sogar geträumt.
Die Bewohnerstruktur hat sich extrem verändert hier im Hauskomplex. Vor zehn Jahren gingen wir anders miteinander um; schlug jemand über die Stränge, tat man’s eben auch mal. Jetzt ist alles sehr bürgerlich geworden, auch clean, nicht generell, gerade hier im Haus nicht, aber doch deutlich bei einigen spürbar. Es ist die typische Entwicklung, der berühmte Szeneviertel unterliegen: die das Viertel prägten, die der Grund für die besondere Atmosphäre waren, ziehen andere Leute an, die aber diese Atmosphäre nicht aushalten und sie deshalb langsam, nach bürgerlichen Normgeboten, ersticken. Auf diese Weise s t e r b e n die berühmten Viertel – etwa über durchgefochtene Kneipenschlußzeiten usw. – und werden vom konsolidierten Geld besetzt, so daß die eigentlichen Gründer der berühmten Atmosphäre weichen – allein schon, weil sie die nunmehr gestiegenen Mieten nicht mehr bezahlen können. Sie waren sozusagen Trockenbewohner der Viertel. Das war so in Soho, war so im Village, war so im Marais – besonders spürbar empfand ich das im vergangenen Jahr auf Montparnasse: kein Henry Miller, kein Toulouse-Lautrec, der heute noch dort überleben könnte.

11.38 Uhr:
Hinbekommen: >>>> Mauern Amelias (2). Selbstverständlich bleibt auch das erst einmal Entwurf. – Seltsam, ich fühle mich, als hätt ich ein Beruhigunsmittel geschluckt. Und hab ein Rauschen in den Ohren. Ich denke irre verlangsamt, ist mein Eindruck: als meditierte ich.
>>>> Abendschein schreibt, es wäre ihm lieber, erschiene die „Neue Fröhliche Wissenschaft“ erst 2015 – was wiederum mir entgegenkommt, weil >>>> Broßmann in Istrien ein Künstlerhaus aufgetrieben hat, wo man für Projekte umsonst wohnen kann; dort könnten wir im Frühsommer nächsten Jahres gemeinsam das Projekt auch programmierend fertigstellen; das kybernetische Design soll ja ein wesentlicher Teil des Buches werden. Für meine Arbeit bedeutet der Hinausschub allerdings, daß ich das Sterbebuch jetzt anfangen und vielleicht noch vor dem nächsten Frühling abschließen werde. Dann könnte es im Herbst 2014 herauskommen.

Vielleicht leg ich mich mal eine Stunde hin. Nur noch den Cigarillo fertigrauchen. Neben mir rechts liegen Leib an Leib fünf Bleistifte von verschiedener Länge und ein schmaler Kuli. Wie staunend seh ich das an.

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