Voller Statistiken: Bereits auf Friedrich zu? Das Arbeitsjournal des Mittwochs, dem 18. September 2013.

5.50 Uhr:
[Arbeitswohnung.
Stille (Rauschen der, es ist wirklich noch stockenduster draußen, Nacht
und Rauschen des Laptop-Lüftung.)]

Ich genieße es gerade, dieses Rauschen. Deshalb kleine Musik. Der Impuls, >>>> Maderna zu hören (ich will diese neue CD in Der Dschungel besprechen), stieg nur kurz auf. Dann hörte ich das Rauschen. Erster Latte macchiato, erste Morgenpfeife. Gogolin, ich las es gerade eben, schrieb des Nachts um eine Minute vor zwei: „Viel wichtiger ist, daß da endlich mal jemand ausspricht, wieviel Lesevergnügen Ihre Texte bereiten können.“ Womit er sich auf die erste Rezension bezog, die über >>>> Argo erschienen ist, keine Fach-, sondern eben Leser-Rezension, in der mich aber ein bestimmter Satz ärgert. Weh über meine Eitelkeit! Es ist schon verflucht. „Jaja“, so spät die Löwin am Telefon, „sowas liest man nicht gern, aber: fünf Sterne! Das ist gleich in den ersten Tagen des Romans eine verdammt gute Werbung, weil jetzt nämlich niemand sagen kann, daß es sich um eine selbstforcierte Kritik handelt, um einen Freundesdienst oder gar die eines bezahlten Claquers.“
Stimmt natürlich. (Das Wort „natürlich“ ist falsch verwendet, nix ist „natürlich“ am Markt; „selbstverständlich“ wäre richtig, vermittelt aber nicht die Laxheit, die der Kurzsatz haben soll.) „Ich hoffe,“ so Gogolin weiter, „daß ich Argo morgen auch endlich bekomme. Habe mir in den Wartestunden seit meiner Bestellung nochmal Thetis vorgenommen und eben erst weggelegt, weil ich nun endlich mal schlafen muß.“ Wie gesagt, um eine Minute vor zwei Uhr nachts schrieb er das. Bei aller, ja: avantardistischen, Ausrichtung meiner Prosaarbeit, allem Ringen drum, einer wirklich zeitgenössischen Ästhetik entgegenzuschreiben, kommt es mir tatsächlich – wie jedem anderen Romancier, der es ist – darauf an, daß die Romane menschlich sind und von Menschen erzählen, die den Leser:innen nahekommen; es geht nicht um einfach nur formale Spiele und/oder intellektuelle Konstruktionen, sondern durchaus um Empathie, Erregung des Gefühls, Mitempfinden usw., nur eben nicht mehr mit den herkömmlichen, unsere tatsächliche Wirklichkeit, die mediale wie konkrete, aus den Augen lassenden Mitteln. Sondern sie zugleich soll eingefangen sein, aber ohne auf das Pathos zu verzichten, von dem jede Verliebtheit durchzogen ist, jede Begeisterung, die Konfrontation mit der Lust und dem Leid. Ich wünsche mir eine Kritik, die das mal schreibt: daß es zwar richtig ist, daß die Personen der Anderswelt zwar als variable Informationseinheiten verstanden werden können, vielleicht auch müssen, daß sie zugleich aber atmen. Seit Argo heraus ist, hängt die ganze Zukunft der Trilogie davon ab, ob meinem Gestaltungvermögen genau das gelungen ist, ob also ein Vermögen war oder Unvermögen ist, bzw. ob das Vermögen gespürt wird. Die allein literaturtheoretische Betrachtung meiner Arbeit bringt keine Leser, schließt sie vielleicht sogar aus. Andererseits wäre es poetologisch billig, den alten Mustern des Erzählens dienstbar zu bleiben, die zwar gut funktionieren und deshalb Absatz bringen, aber nur noch den Schein bedienen; mit dem modernen Leben, dem wirklichen, selbst haben sie nichts mehr zu tun.

Um 21.30 Uhr, außerdem, rief Vilnius an; wir sprachen das Exposé meines Konzepts durch, das ich in einigem nunmehr revidieren muß. Vor allem muß ich mich jetzt mit Statistiken beschäftigen, mit auffälligen Daten, für die Bildideen zu suchen sind, und zu finden, klar; das ist auf den ersten Blick eine journalistische Arbeit, keine poetische. Aber die soll es werden, und zwar, völlig neu für mich, im tatsächlichen Bild. Im Filmbild. Ich betrete ein neues Metier. Das war mir auch von Anfang an klar, schon gleich, als Vilnius auf mich zukam; nur daß ich selbst mich um Statistiken zu kümmern hätte, anstatt daß man sie mir zur Bebilderung zuführt, ist mir erst spät bewußt geworden. Jetz hock ich in dem Zahlsumpf und muß schöpfen. Andererseits führt das Projekt auf eine bizarre Weise in den Friedrichroman, führt ihn quasi als eine Vorarbeit an, die in dem Buch selbst kaum eine Rolle spielen wird. Oder vielleicht doch? Wird er so auf andere Weise, ein historischer Roman, die Anderswelt fortsetzen, und zwar nach einer ganz inneren und notwendigen Logik? Ich kann mir kaum eine poetologische Volte überraschender und spannender vorstellen, als eben diese es wäre. Auch Friedrich also schriebe seine eigene Entstehung mit? Ich muß unbedingt noch einmal >>>> Huysmans Là-bas lesen, Tief unten, einen Roman über Gilles de Rais, dessen Lebens in, soweit ich mich erinnere, in Gesprächen der Freunde nachentworfen wird. Da gibt es auch schon diese Gleichzeitigkeit. Zuletzt las ich das Buch mit zwanzig/zweiundzwanzig, die Wirkung hält bis heute an. Jetzt führt mich ausgerechnet die Statistik dahin zurück – aber eben ganz in die Mitte dessen, was mir für den Friedrichroman leitend sein soll: die Idee eines einzigen vereinten Europas, aber eines, das unscharf ist an den Rändern, definierbar zwar, aber ungefähr bleibend, im Sinne >>>> Lévys: „Europa ist eine Idee, kein Ort“. Und eben d o c h ein Ort: Ort selbst wird unscharf, wiewohl er ist.
Daß mich das jetzt schon beschäftigt! Wo doch das Traumschiff und dann noch Melusine Walser vorherzuschreiben sind –

Aber: Statistiken jetzt. Heute. So um die fünfzig signifikante Daten brauche ich. Dann erst kann das Konzept umgeschrieben, bzw. modifiziert werden. Drei Tage geb ich mir. Mittags Fußpflege, danach Krafttraining. Dann fahr ich Muscheln kaufen.Und >>>> morgen les ich aus den Elegien. Schön, ein voriges Buch so noch im neuen spüren zu dürfen. Alles steht im Zusammenhang. Für den 4. Oktober wiederum, die >>>> erste große Präsentation von Argo, will ich persönliche Einladungen ins Literaturhaus Fasanenstraße schreiben – gut wäre, läge der Brief schon morgen abend in Schöneberg aus.

(Das Gute an der Statistik-Recherche ist, daß ich dabei Musik hören kann. Dann nämlich doch Maderna.)

10.15 Uhr:
Es schüttet wie Tier. So kann ich nicht trainieren, nicht im Park; ich werd mir wieder ein Studio suchen müssen, hab auch schon eines ausgesucht. Da radle ich gleich hin. Belgien hat mit 177,1 in Europa die meisten Krankenhausbetten für psychiatrische Behandlung, gerechnet auf 100.000 Einwohner; die wenigsten hat – Italien (mit 9,8!). Was bildern wir daraus? (Noch schlimmer, mit 6,4, sieht es allerdings in der Türkei aus.) Deutschland, mit 49,3, liegt ebenfalls im unteren Bereich. Optimisten, freilich, werden sagen, es gebe hier halt weniger psychisch Beschwerte und in Italien und der Türkei nahezu keine. Was läuft dann aber in Belgien schief?

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